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14.03.2005

CDU/CSU will Lücke im Bundestagswahlrecht schließen

Die Unionsfraktion hat einen Gesetzentwurf (BT-Drs. 15/4717) in den Bundestag eingebracht, der eine seit 1956 bestehende Regelungslücke im Bundeswahlgesetz schließen soll.

Zweitstimmen der Wähler, die mit ihrer Erststimme einen Kandidaten einer an der 5 %-Hürde oder der Grundmandatsklausel des Bundeswahlgesetzes gescheiterten Partei in den Bundestag gewählt haben, sollen zur Vermeidung eines doppelten Stimmgewichts nicht bei der Sitzverteilung berücksichtigt werden.

Schon 1988 hatte das Bundesverfassungsgericht in einem Beschluß – 2 BvC 3/88 – (BVerfGE 79, 161 <168>) den Gesetzgeber aufgefordert zu erwägen, das Bundeswahlgesetz entsprechend zu ergänzen.

Anlaß des ersten Gesetzentwurfes zur Beseitigung dieser Gesetzeslücke ist nun der Streit um die sogenannten „Berliner Zweitstimmen“, den Zweitstimmen der Wähler, die mit ihrer Erstimme eine der beiden erfolgreichen PDS-Wahlkreiskandidatinnen und mit der Zweitstimme eine andere, die Sperrklauseln des Bundeswahlgesetzes überwindende Partei wählten. Dazu vor dem Bundesverfassungsgericht anhängige Wahlprüfungsbeschwerden (u.a. 2 BvC 6/04) gegen Beschlüsse des Deutschen Bundestages (u.a. WP 215/02) führten inzwischen dazu, daß diese Zweitstimmen nochmals ausgezählt wurden, die Neuauszählung jedoch keine Mandatsrelevanz ergab (Meldungen vom 29.12.2004, 07.01.2005 und 13.01.2005).

Am 24.02.2004 wurde der Gesetzentwurf im Deutschen Bundestag in erster Lesung behandelt (Plenarprotokoll 15/160). Während Jörg van Essen für die FDP die Schließung dieser Wahlrechtslücke begrüßt, aber erst die in den nächsten Monaten folgende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abwarten will, wollen SPD und Grüne erst dann prüfen, ob überhaupt Handlungsbedarf besteht.

Kommentar (mc): Es ist sehr zu begrüßen, dass sich der Deutsche Bundestag nach langer Pause wieder mit mandatsrelevanten Regelungen des Bundeswahlgesetzes befasst.

Allerdings zeigt dieser Gesetzentwurf auch, wie nachlässig der Gesetzgeber gerade mit dem Wahlrecht, das entscheidende Bedeutung für die Zusammensetzung des Bundestages und damit für alle anderen Bereiche der Gesetzgebung hat, umgeht. Immerhin besteht diese Regelungslücke seit 1956 und schon 1988 hat das Bundesverfassungsgericht auf sie aufmerksam gemacht (BVerfGE 79, 161 <168>).

Auch kann sich die den Entwurf einbringende Fraktion nicht darauf berufen, sie hätte die Lücke, wie die anderen Fraktionen, nach dem Verfassungsgerichtsbeschluss einfach vergessen oder als praktisch irrelevant betrachtet. Schon 1997 hat ein Wahlrecht.de-Autor einen Brief an das Büro des für Wahlrecht zuständigen Unionsabgeordneten geschrieben und (neben anderen, noch schwerwiegenderen Konstruktionsschwächen des Bundeswahlgesetzes) detailliert auf das nun diskutierte Problem und seine mögliche praktische Relevanz hingewiesen. Zur Erinnerung: 1997 besaß die jetzt den Gesetzentwurf einbringende Fraktion zusammen mit einem kleineren Koalitionspartner noch die parlamentarische Mehrheit und hatte bis zur nächsten Bundestagswahl genügend Zeit zu einer Gesetzesnovellierung. Selbst wenn die Änderung – einer parlamentarischen Gepflogenheit folgend – erst für die übernächste Bundestagswahl (2002) wirksam geworden wäre, hätte es in dieser Legislaturperiode keinen Streit um die Frage gegeben, welche Fraktion die Mehrheit der bei der Sitzverteilung zu berücksichtigenden Stimmen hat. Jedoch wäre es dann mit Sicherheit zur Diskussion über den auch von Wahlrecht.de schon lange vorhergesagten Fall gekommen, dass eine Mehrheit an Stimmen nicht auch eine Mehrheit an Sitzen mit sich bringt. Diese Diskussion ist nun ausgeblieben und wird scheinbar erst dann geführt werden, wenn es schon zu spät ist.

Ebenso ist die im Entwurf enthaltene Lösung seit dem Überhangmandate-Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 95, 335) vom 10. April 1997 nicht mehr zwingend (auch wenn gerade die einschlägigen Ausführungen von der Union in der Entwurfsbegründung angeführt werden). Zwar entspricht der Entwurf voll und ganz dem im Bundeswahlgesetz enthaltenen Anrechnungsprinzip (siehe etwa BVerfGE 5, 77 <82>), das die Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen unter Beibehaltung der Personalisierung gewährleisten soll (und das auch der Kommentator als zwingend umzusetzen ansieht), jedoch stellten in BVerfGE 95, 335 die die Entscheidung tragenden vier Richter auf die Vorhersehbarkeit des doppelten Stimmerfolgs ab, die nach deren Ansicht nur bei erfolgreichen Parteibewerbern, deren Partei im betreffenden Land keine Landesliste aufgestellt hat, oder bei Einzelbewerbern gegeben ist (BVerfGE 95, 335 <363>). Unter diesem Aspekt waren etwa die „Berliner Zweitstimmen“ nicht vorhersehbar, da die PDS eine Berliner Landesliste aufgestellt hatte und beim Überwinden der Sperrklauseln kein doppelter Stimmerfolg eingetreten wäre. Eine Korrektur dieser Ansicht durch Karlsruhe würde wiederum die Begründung zur Verfassungsmäßigkeit von Überhangmandaten vollends ad absurdum führen – eine Blöße die sich der derzeitige Berichterstatter des Bundesverfassungsgerichts, der auch schon bei der Entscheidung 1997 mitwirkte, nicht geben wird.

Letztlich schließt dieser Gesetzesentwurf auch nicht alle Lücken des Bundeswahlgesetzes. Lässt man einmal die Überhangmandate außen vor (die weitaus mehr Wählern ein erhöhtes Stimmgewicht geben, als die nun zu schließende Regelungslücke und die der Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfrakton nach der Bundestagswahl, Volker Kauder (CDU), zu Beginn der Legislaturperiode von Karlsruhe noch überprüfen lassen wollte), ist im Entwurf nicht geregelt, was mit den nicht zu berücksichtigenden Zweitstimmen im Fall des Ausscheidens des Direktmandatsinhabers einer ohne die Sperrklausel überwundene Landesliste passiert. Dieser Fall ist umstritten: Nach Ansicht des Kommentators kann der nächste Listenkandidat nachrücken, solange das Zweitstimmenergebnis noch das Mandat trägt, nach Ansicht einiger Juristen ist aber auch ein ersatzloses Ausscheiden oder eine Nachwahl möglich bzw. notwendig. In diesen Fällen müssten die Zweitstimmen im Sinne des Entwurfs im Laufe der Legislaturperiode evt. wieder berücksichtigt werden (mit möglichen Folgen für die Sitzverteilung), da der Grund für das doppelte Stimmgewicht weggefallen ist.

Fazit: Es zeigt sich somit wieder, dass es Änderungen im Wahlrecht nur dann gibt, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist und/oder sich mindestens eine Partei davon einen klaren Vorteil für sich verspricht. Ein Bundestagswahlrecht, in dem die Mehrheit der Stimmen auch die Mehrheit der Sitze bringt (für jedes Verhältniswahlsystem eigentlich eine Selbstverständlichkeit), bleibt weiterhin ein Wunschtraum.

Es bleibt nun abzuwarten, wie und wie klar sich das Bundesverfassungsgericht in den ausstehenden Wahlprüfungsentscheidungen zu dem Problem der Berliner Zweitstimmen äußern und damit auch indirekt mitentscheiden wird, ob und was für eine Gesetzesänderung der Bundestag letztendlich beschließt. Schaut man sich jedoch die lapidaren Bemerkungen des Berichterstatters zu viel gravierenderen und Millionen Wähler betreffenden Konstruktionsfehlern des Bundeswahlgesetzes in den bereits vorliegenden Schreiben an (z. B. die Ein-Satz-Äußerung zu der durch das negative Stimmgewicht betroffenen Unmittelbarkeit der Wahl), die auch noch mit inhaltlichen Fehlern gespickt sind, können die Beschwerdeführer froh sein, wenn in den Verwerfungsbeschlüssen des Karlsruher Gerichts überhaupt ein Satz zum Wahlrecht enthalten sein wird.

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von Martin Fehndrich und Matthias Cantow