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06.11.2003

Bundestag weist Wahleinsprüche nach kontroverser Debatte ab

Anders als in den vergangenen Legislaturperioden wurde die heutige Abweisung von Wahleinsprüchen durch den Deutschen Bundestag von einer kontroversen Debatte begleitet. Die Unionsabgeordneten Thomas Strobl und Hans-Peter Friedrich kritisierten erneut (siehe Meldung vom 24.10.03) die Entscheidung des Wahlprüfungsausschusses des Bundestags, auf eine mündliche Verhandlung der Einsprüche gegen die Wertung der Ost-Berliner Zweitstimmen der Wähler, die mit ihrer Erststimme den PDS-Kandidatinnen Pau und Lötzsch zum Erfolg verholfen haben, zu verzichten.

Siehe zu dieser rechtlichen Problematik die Meldungen vom 9.10.2002 und 12.10.2002 sowie in unserem Forum die Diskussionen "Verfallende Zweitstimmen", "Direktmandate der PDS", "Rechtsfrage" und "Direktwahlerfolg ohne Parteiliste".

Der Verzicht auf eine mündliche Verhandlung wurde von der Vorsitzenden des Wahlprüfungsausschusses, Erika Simm (SPD), sowie von den Abgeordneten Hacker (SPD), Montag (Grüne) und van Essen (FDP) gerechtfertigt. Auch wenn die Nicht-Berücksichtigung solcher Zweitstimmen möglicherweise von Verfassungs wegen hinsichtlich des Gebots der Erfolgswertgleichheit geboten sei, könne dies jedenfalls nicht rückwirkend im Rahmen des Wahlprüfungsverfahrens festgestellt werden. Denn nicht nur die Wähler, sondern auch die vielen ehrenamtlichen Wahlhelfer müßten sich auf den Wortlaut des Wahlgesetzes verlassen können. Ähnlich wie im Strafrecht sei auch im Wahlrecht das Ausfüllen von Gesetzeslücken durch Analogieschlüsse ausgeschlossen.

Die Entscheidung über die Einsprüche gegen die Wertung der Ost-Berliner Zweitstimmen fiel letztlich mit der Mehrheit von SPD, Grünen und FDP gegen die Stimmen von CDU/CSU. Dies gilt auch für einige weitere Einsprüche, die sich gegen Überhangmandate sowie eine Zeitungsbeilage der Bundesregierung zum Zuwanderungsgesetz wandten. Gegen die Stimmen der Union und bei Enthaltung der FDP wurde ein Einspruch gegen die Stimmenauszählung im Wahlkreis München-Nord zurückgewiesen. Die übrigen Einsprüche, die sich u. a. gegen negative Stimmgewichte, starre Landeslisten, Nichtzulassung von Parteien, Briefwahl und Fünfprozenthürde richteten, wurden einstimmig abgewiesen.

Alle Beschlüsse zu den 57 Einsprüchen im Wortlaut (PDF 1,1 MByte)

Wie in jeder Wahlperiode gab es auch diesmal wieder einige eher kuriose Wahleinsprüche. So beklagte ein Wähler, der seine Erststimme einem "Herrn Dr. ..." geben wollte, daß der betroffene Kandidat auf dem Stimmzettel lediglich als "Dr. ..." aufgeführt gewesen sei. Da der Wähler nicht bereit war, diese seiner Meinung nach unhöfliche Anrede zu akzeptieren, verlangte er im Wahllokal nach einem Stimmzettel, auf dem der Kandidat als "Herr Dr. ..." bezeichnet sei. Nachdem der Wahlvorstand diesem Wunsch nicht entsprechen konnte, verließ der Wähler ohne Stimmabgabe das Wahllokal. Sein Wahleinspruch blieb ohne Erfolg.

Alle Einspruchsführer der heute abgelehnten Einsprüche haben nun bis zum 6. Januar 2004 Zeit, Wahlprüfungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht zu erheben. Sie brauchen hierzu jedoch mindestens 100 Unterschriften von Wahlberechtigten, die ihre Beschwerde unterstützen.

Insgesamt waren nach der letzten Bundestagswahl 520 Wahleinsprüche eingegangen. Davon wurden bereits 444 im Juni vom Bundestag entschieden (siehe Meldung vom 28.06.2003). Demnach verbleiben weitere 19 Einsprüche, über die der Bundestag noch zu entscheiden hat.

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von Wilko Zicht