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09.10.2002

Amtliches Endergebnis - Wahlrechtsstreit im Bundeswahlausschuß

Nun ist es offiziell. Der Bundeswahlausschuß hat die von den Landeswahlausschüssen festgestellten Endergebnisse ohne Änderungen bestätigt, so daß das amtliche Endergebnis auf Bundesebene wie folgt aussieht (Zweitstimmen):

Wahlberechtigte   61 432 868  Prozente
Abgegeben         48 582 761    79,1%
Ungültige            586 2812%
Gültige           47 996 480           Mandate	

SPD               18 488 668    38,52%   251 (4 Überhangmandate)
CDU/CSU           18 482 641    38,51%   248 (1 Überhangmandat)
CDU               14 167 561    29,52%   190 (1 Überhangmandat)
CSU                4 315 080     8,99%    58
B'90/Grüne         4 110 355     8,56%    55
FDP                3 538 815     7,37%    47
PDS                1 916 702	 3,99%     2
Sonstige           1 459 299	 3,04%     -
Gesamt                                   603

Leider waren in der gestern von uns bereitgestellten Excel-Datei versehentlich die uns vorliegenden Endergebnisse aus Hamburg und dem Saarland nicht enthalten. Hieraus resultierten auch die geringfügig vom amtlichen Endergebnis abweichenden Zahlen aus der gestrigen Meldung. Wir bitten diesen Fehler zu entschuldigen. Eine korrigierte Version der Excel-Datei gibt es hier.

Zu einem handfesten Streit kam es im Bundeswahlausschuß bei der Frage, wie die Zweitstimmen derjenigen Wähler zu behandeln seien, die mit der Erststimme in den Wahlkreisen 86 und 87 die erfolgreichen PDS-Kandidatinnen Pau und Lötzsch gewählt haben. Dies wurde auch schon in unserem Forum kontrovers diskutiert.

Der Wortlaut des Bundeswahlgesetzes unterscheidet hier zwischen Kandidaten, welche von einer Partei angehören, die eine Landesliste aufgestellt hat (wie die PDS in Berlin), und solchen, die als parteilose Einzelbewerber bzw. von Partei ohne eigene Landesliste im betreffenden Bundesland aufgestellt worden sind. Die Zweitstimmen der Wähler, die einen erfolgreichen Kandidaten ohne Landesliste gewählt haben, sind gemäß § 6 Abs. 1 Satz 2 bei der Sitzverteilung nicht zu berücksichtigen.

Der CDU-Bundesgeschäftsführer Willi Hausmann, Beisitzer im Bundeswahlausschuß, forderte jedoch in der heutigen Sitzung, daß diese Regelung auch für die Zweitstimmen der Wähler von Pau und Lötzsch Anwendung finden soll. Dabei kann er sich auf eine Entscheidung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 24.11.1988 berufen, in der das Gericht die Nichtberücksichtigung von Zweitstimmen unter den genannten Voraussetzungen zwar grundsätzlich für verfassungsgemäß erklärte, dabei aber schwerwiegende Bedenken gegen die Berücksichtigung von Zweitstimmen von Wählern geäußert hat, die ihre Erststimmen - wie am 22. September geschehen - einem erfolgreichen Kandidaten einer Partei gegeben haben, dessen Partei in dem Land zwar eine Landesliste eingereicht hat, aber an der Sperrklausel gescheitert ist. Es erklärte diese (Nicht-) Regelung zwar nicht ausdrücklich für verfassungswidrig, zumal sie in der zugrundeliegenden Wahlprüfungsbeschwerde nicht angegriffen wurde. Aber das Gericht sah hier eine Regelungslücke, die dadurch zu erklären sei, daß die Grundmandatsklausel bei Einführung der Regelung noch bei einem Mandat lag. Als man die Grundmandatsklausel auf drei Sitze erhöhte, habe man aber "übersehen, daß diese Konstellation Wählern, die mit ihrer Zweitstimme Parteien bedacht haben, die an der Sitzverteilung teilnehmen, einen doppelten Stimmerfolg ermöglicht und daher auch eine Änderung des § 6 Abs. 1 Satz 2 BWG veranlaßt war" ((BVerfGE 79, 161 [169]).

Folgt man dieser Entscheidung, wären die Kreiswahlausschüsse in den Wahlkreisen 86 und 87 verpflichtet gewesen, diese Regelungslücke aufzufüllen, indem sie die betroffenen Zweitstimmen auszählen und den Parteien abziehen.

Allerdings kann man auch die Meinung vertreten, das BVerfG sei in dem Überhangmandatsurteil von 1997 von dieser Auffassung wieder abgewichen. Damals rechtfertigten die vier das Urteil tragende Richter die Abzugsregelung vor allem mit dem Argument, bei Einzelbewerbern sei von vornherein klar, daß die Erststimme im Erfolgsfalle ein nicht verrechenbares Direktmandat bewirke, während dies bei Überhangmandaten erst nach der Sitzverteilung feststehe. Die erforderliche Erfolgschancengleichheit sei daher gewahrt. Wenn man diese Argumentation auf den vorliegenden Fall überträgt, dann gilt auch hier, daß die Nichtverrechenbarkeit der PDS-Direktmandate nicht von vornherein feststand, so daß die Berücksichtigung der betroffenen Zweistimmen nach dem Urteil der vier tragenden Richter des Überhangmandatsurteils wohl rechtmäßig ist.

Dieser Auffassung schloß sich offenbar auch die Mehrheit im Bundeswahlausschuß an, der mit fünf Stimmen bei drei Enthaltungen gegen die Anwendung von § 6 Abs. 1 Satz 2 BWahlG entschied.

Praktische Auswirkungen auf die Sitzverteilung hätte eine gegensätzliche Entscheidung aber wohl nicht gehabt. Insgesamt wären die Zweitstimmen von 109.857 Wählern betroffen. Da man davon ausgehen kann, daß die allermeisten der 80.600 Wähler in den beiden Wahlkreisen, die mit ihrer Zweitstimme die PDS gewählt haben, dies auch mit ihrer Erststimme getan haben, bleiben etwa 30.000 Zweitstimmen, die sich mutmaßlich auf andere Parteien verteilen. Unter diesen Umständen erscheint allenfalls eine einzige mögliche Auswirkung auf die Zusammensetzung des Bundestags nicht gänzlich ausgeschlossen: Wenn nämlich mindestens 8.790 der betroffenen Zweitstimmen auf die Grünen entfielen, hätte dies zur Folge, daß bei den Grünen ein Mandat von der Berliner Landesliste auf die Rheinland-Pfälzische Landesliste "wandert". Statt Franziska Eichstädt-Bohlig säße dann Jutta Blatzheim-Roegler im Bundestag. Dies würde aber bedeuten, daß über sechzig Prozent der Grünen-Wähler in den beiden Wahlkreisen mit ihrer Erststimme die PDS-Kandidatin gewählt haben müßten.

Auswirkungen auf die Sitzverteilung zwischen den Parteien sind hingegen kaum denkbar. Theoretisch möglich wäre am ehesten noch, daß die SPD in Berlin so viele Stimmen verliert, daß sie dort ein Überhangmandat erhält und zusätzlich die Bremer SPD-Kandidatin Cornelia Wiedemeyer in den Bundestag einzieht; die SPD würde dann also letztlich davon profitieren. Hierzu wären aber ein Minus von etwa 54.000 Stimmen notwendig, was äußerst unwahrscheinlich ist. Ab einem SPD-Verlust von etwa 60.000 Zweitstimmen würde die SPD diesen Zusatzsitz allerdings verlieren, während die CDU ein Mandat hinzugewänne; vorausgesetzt, die verliert nicht im Gegenzug ebenfalls Zweitstimmen.

Gut möglich wäre es freilich, daß sich der Vorsprung der SPD gegenüber CDU/CSU in Höhe von 6.027 Stimmen in einen Vorsprung der Union verwandeln würde. Dann wäre die Union zwar nach Stimmen stärkste Partei, aufgrund der Überhangmandate bliebe die SPD aber stärkste Fraktion. Damit hätten Überhangmandate erstmals das Stärkeverhältnis zwischen den beiden großen Parteien umgekehrt.


von Wilko Zicht