Nachrichten

[Archiv 2004]

[Aktuelle Meldungen]

29.12.2004

Bundestagswahl 2002: Neuauszählung in zwei Berliner Wahlkreisen

In den Berliner Bundestagswahlkreisen 86 (Marzahn-Hellersdorf) und 87 (Lichtenberg) wird auf Bitte des Bundeswahlleiters an den Landeswahlleiter eine Neuauszählung der Stimmzettel der letzten Bundestagswahl stattfinden. Diese ist notwendig, um eine mögliche Mandatserheblichkeit der Zweitstimmen der 109.857 Wähler festzustellen, die dort bei der Wahl am 22. September 2002 mit ihrer Erststimme die erfolgreichen PDS-Kandidatinnen Pau und Lötzsch wählten. Mindestens 29.257 dieser PDS-Erststimmenwähler hatten ihre Stimmen gesplittet, das heißt, mit der Zweitstimme nicht die PDS-Landesliste gewählt, und erzielten damit gegenüber anderen Wählern einen doppelten Erfolgswert.

Anlass der Bitte des Bundeswahlleiters ist u. a. eine Wahlprüfungsbeschwerde (Az. 2 BvC 6/04) – der insgesamt über 200 Leser von Wahlrecht.de und weitere Wahlberechtigte beitraten – gegen den Beschluss des Deutschen Bundestages zu einem Wahleinspruch – WP 215/02. Darin wurden drei Verstöße gegen den Grundsatz der Wahlgleichheit bei der letzten Bundestagswahl gerügt – neben den Überhangmandaten und der Wahl des Zuteilungsverfahrens auch die Berücksichtigung dieser sogenannten „Berliner Zweitstimmen“. Durch die Wahlprüfungsbeschwerde soll geklärt werden, ob die „Berliner Zweitstimmen“ wegen der in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 79, 161 <168>) für diesen Fall erkannten Regelungslücke des Bundeswahlgesetzes durch analoge Anwendung des § 6 Abs. 2 Satz 2 BWahlG – wie bei den Zweitstimmen erfolgreicher Einzelbewerber – gestrichen werden müssen.

Die Beschwerden veranlasste das Bundesverfassungsgericht, den Bundeswahlleiter um eine Stellungnahme zur konkreten Mandatsrelevanz der beanstandeten Regelung des Bundeswahlgesetzes bei der Bundestagswahl zu bitten. Da der Bundeswahlleiter eine Mandatsrelevanz nicht von vornherein ausschließen kann, hat er den Landeswahlleiter in Berlin gebeten entsprechende Auszählungen vornehmen zu lassen, um das Bundesverfassungsgericht anschließend über das Ergebnis unterrichten zu können.

Erste Nachfragen beim Landeswahlleiter und den betroffenen Wahlkreisbehörden ergaben als voraussichtlichen Nachzähltermin den 10.01.2005. Die Auszählung wird öffentlich erfolgen und rechtzeitig in Berlin bekannt gemacht. Da die Stimmzettel schon nach der Auszählung am Tag der Bundestagswahl in den 446 Wahl- und Briefwahlbezirken nach Erststimmen geordnet wurden (§ 73 Abs. 1 Nr. 1 BWO) und nur die Stimmzettel mit der Erststimme für die PDS-Kandidatinen neugezählt werden müssen, auf denen die Zweiststimmme für eine andere Landesliste als die PDS abgegeben (gesplittet) wurde, wird die Nachzählung relativ schnell ablaufen können.

Wahrscheinlichste Mandatsrelevanz:
SPD gewinnt Sitz, wenn ihr genug Stimmen gestrichen werden (negatives Stimmgewicht)

Modellrechnungen des Bundeswahlleiters und Wahlrecht.de zufolge ist eine Mandatsrelevanz nicht sehr wahrscheinlich. Sollte das Bundesverfassungsgericht § 6 Abs. Satz 2 BWahlG auf die „Berliner Zweitstimmen“ analog anwenden, würden sich die nach § 6 Abs. 1 Satz 1 und 2 BWahlG zu berücksichtigenden Zweitstimmen vor allem bei der SPD und den GRÜNEN reduzieren.

Wer nun aber hinter der Wahlbeschwerde das Ziel sehen sollte, der SPD soviele Stimmen zu streichen, daß sie einen Sitz verliert, wird von einer merkwürdigen Eigenschaft des Bundeswahlsystems überrascht, dem negativen Stimmgewicht. Wenn der SPD nämlich soviele Stimmen getrichen würden, daß eine Mandatsrelevanz einträte (also mindestens 53.997), würde die SPD keinen Sitz verlieren sondern einen zusätzlichen Sitz gewinnen (und zwar wäre dann auch die knapp gescheiterte Kandidatin Cornelia Wiedemeyer für die SPD gewählt).

Folgende Möglichkeiten können nicht ausgeschlossen werden:

Keine Gefahr droht dagegen der CDU, die in den beiden Wahlkreisen insgesamt 48.114 Zweitstimmen erhielt. Ihr müßten mindestens 69.557 Stimmen gestrichen werden, damit es auch nur eine parteiinterne Sitzverschiebung gäbe.

Die bevorstehenden Auszählungen haben allerdings nur den Zweck eine solche Mandatsrelevanz zu be- oder widerlegen. Sie stellen keine Vorentscheidung des Wahlprüfungsverfahrens durch das Bundesverfassungsgerichts dar. Ohne Mandatsrelevanz hätten sich die Wahlbeschwerden zumindest formal erledigt, auch wenn zu erwarten ist, daß sich das Gericht auf jeden Fall zur angegriffenen Regelung äußern wird.

Am Zweitstimmenvorsprung der SPD von 6.027 Stimmen vor CDU und CSU ändert sich nichts.

An den konkreten Zweitstimmen der Bundestagswahl 2002 wird sich nichts ändern, auch nicht durch eine angenommene – auf die Nachzählung im nächsten Jahr folgende – positive Entscheidung zu den Wahlprüfungsbeschwerden. Nur die Anzahl der nach § 6 Abs. 1 Satz 1 und 2 BWahlG zu berücksichtigenden Zweitstimmen für die Verteilung der nach Landeslisten zu besetzenden Sitze könnte sich reduzieren.

Die nicht berücksichtigten Zweitstimmen zählen weiterhin beim Sprung über die 5 %-Hürde und bei der Verteilung von Geldern der staatlichen Parteienfinanzierung (Wahlkampfkostenerstattung).

Auch die Frage, welche Fraktion stärkste im Bundestag sei, beantwortet sich durch die Zahl der Abgeordneten der jeweiligen Fraktionen. Die manchmal aufgeworfene Frage, welche Fraktion den Bundestagspräsidenten (z. Z. Wolfgang Thierse, SPD) stellen darf, läßt sich hiermit nicht beantworten. Selbst die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages schreibt nur eine Wahl vor. Daß dieser bisher immer von der stärksten Fraktion gestellt wurde, ist nirgendwo vorgeschrieben und liegt irgendwo zwischen einer guten Sitte und dem Normativität des Faktischen.

Links


von Martin Fehndrich