Nachrichten

[Archiv 2006] [Aktuelle Meldungen]

12.02.2006

Bundesratsinitiative zu Nachrückpraxis und Nachwahlen – Überprüfung des Bundeswahlgesetzes angeregt

Gesetzentwurf will Nachwahlen durch Ersatzbewerber vermeiden

Der Bundesrat hat in seiner 819. Sitzung am 10. Februar 2006 eine Gesetzesinitiative zur Änderung des Bundeswahlgesetzes beschlossen (BR-Drs. 789/05 – [Beschluss]). Gelöst werden soll damit die unbefriedigende Regelung der Folgen des Todes eines zugelassenen Wahlkreisbewerbers vor der Wahl. So verzögere die Nachwahl nach dem Tag der Hauptwahl die Feststellung des Wahlergebnisses und bei der letzten Bundestagswahl wurden rechtliche Bedenken geäußert. Im Entwurf wird dazu angeführt:

Ferner wird in der Öffentlichkeit geltend gemacht, die Wählerinnen und Wähler dieses Wahlkreises hätten einen Informationsvorsprung und könnten deshalb durch taktisches Stimmverhalten stärker als die übrige Wählerschaft das Gesamtergebnis der Wahl beeinflussen.

Das Land Rheinland-Pfalz hatte den noch vor der Nachwahl in Dresden im Oktober des letzten Jahres angekündigten Entwurf angeregt. Als Lösung sieht der Entwurf die Möglichkeit von Parteien und sonstige Wahlvorschlagsberechtigten vor, neben dem Wahlkreisbewerber einen Ersatzbewerber benennen zu können, der bei Tod des eigentlichen Wahlkreisbewerbers für diesen einspringt. Beim Tod eines Kandidaten ohne Ersatzbewerber entfällt die Nachwahl, die für den verstorbenen Kandidaten abgegebenen Erststimmen werden als ungültig gewertet.

Wesentliche Änderungen beim Nachrücken in den Bundestag

Aber auch über die Wahl hinaus soll die Ersatzregelung – dann nur bei den Gewinnern der Direktmandate – gelten, etwa bei der Nichtannahme der Wahl, einem Mandatsverzicht in der laufenden Legislaturperiode oder bei sonstigem Ausscheiden des Wahlkreisabgeordneten aus dem Bundestag.

Es ergäben sich damit wesentliche Änderungen der Nachrückpraxis des Deutschen Bundestags:

  1. Nachrücker für ausgeschiedene Wahlkreisabgeordnete wären die Ersatzkandidaten. Damit wären Wahlkreise i. d. R. auch nach dem Ausscheiden des Wahlkreisabgeordneten durch den Ersatzbewerber im Bundestag vertreten. Erst nach dessen Ausscheiden würden Bewerber von der Landesliste zum Zuge kommen.
     
  2. Das Nachrücken in den Überhang wäre wieder möglich (und in der Praxis dann sicherlich der Regelfall). Erst wenn der Ersatzbewerber ausscheidet, würde das Direktmandat in einem „Überhangland“ wegfallen.

Entschließung zur Prüfbitte an die Bundesregierung

Darüberhinaus hat der Bundesrat die Bundesregierung um eine umfassende Evaluierung des Bundeswahlgesetzes und eine zügige Vorlage eines darauf beruhenden Gesetzentwurfes gebeten. Der Bundesrat sieht dabei – neben der vom Bundesrat vorgeschlagenen Lösung zur Vermeidung von Nachwahlen – beispielhaft folgende Schwerpunkte bei der Prüfung:

Auch von Seiten der politischen Parteien wird beim Bundeswahlgesetz Handlungsbedarf gesehen. Neben den Überlegungen in einigen Parteien zur Verringerung der Bedeutung von Überhangmandaten, fordert ein Beschluss der Bundesdelegiertenkonferenz von Bündnis 90/Die Grünen vom 15. Oktober 2005 die bündnisgrüne Bundestagsfraktion auf, für eine Verbesserung der Regelungen zur Wahl des Deutschen Bundestages einzutreten und diesbezügliche Vorschläge zu erarbeiten und einzubringen. Ziel muss dabei sein, jeder Wählerin und jedem Wähler gleiches Stimmrecht zu verschaffen, Situationen, die zu Wahlanfechtungen führen können, weitestgehend zu vermeiden, und das Wahlsystem für die WählerInnen durchschaubarer zu machen. Dazu zählten die Delegierten auch die Vermeidung einer Nachwahl durch den kurzfristige Ausfall des Direktkandidaten.

Kommentar

(mf, mc) Jeder Versuch, eine Regelung zu finden, die Nachwahlen bei Bundestagswahlen verhindert (oder wenigstens unwahrscheinlicher macht) ist natürlich zu begrüßen. Die nur als Reaktion auf todesfallbedingte Nachwahlen, deren erhebliche Kosten (?) und die (scheinbar nur so mögliche) taktische Stimmabgabe begründete Initiative enthält aber viel gewichtigere Änderungen bei der Nachrückpraxis und dem – im Entwurf nicht erwähnten – Erhalt der Überhangmandate über die volle Legislaturperiode – alles Änderungen, die zur Erreichung des Entwurfszieles nicht notwendig sind.

Das eigentliche Problem bei der Nachwahl war ja nicht der Termin zwei Wochen nach der Hauptwahl, sondern das „Kuriosum“ des negativen Stimmgewichts, welches ebenso ohne Nachwahl auftritt – auch in dem Fall wäre es für die CDU-Anhänger in Dresden und ganz Sachsen die bessere Option gewesen, der CDU nicht die Zweitstimme zu geben.

Die Nachwahl hat nur den Wählern diesen Umstand quasi unter Laborbedingungen und durch die intensive Berichterstattung der Medien in größerem Maße verdeutlicht. Das negative Stimmgewicht war aber auch so für informierte Wähler vorhersehbar (vgl. unsere Tips und Tricks 2005).

In einem Wahlsystem ohne negative Stimmgewichte oder Überhangmandate wäre eine Nachwahl in den allermeisten Fällen völlig unspektakulär. Von den taktischen Wahlmöglichkeiten blieben nicht viel übrig und die Wähler hätten mehr oder weniger gewählt, wie sie es auch ohne Nachwahl getan hätten.

Durch die angestrebte Möglichkeit, in Überhangmandate – wie bis zum Nachrückerurteil 1998 – nachrücken zu können, wird die als Problem im Entwurf genannte Möglichkeit der taktischen Stimmabgabe sogar noch verstärkt. Denn im Hinblick auf die Überhangmandate oder negative Stimmgewichte macht stimmentaktisches Wahlverhalten dann noch mehr Sinn, da kaum ein Abschmelzen des so erzielten Überhangs zu befürchten wäre (hierin ist auch der einzige Vorteil zu sehen – regierungstragende Mehrheiten, selbst wenn Sie nur durch proporzverzerrende Überhangmandate in Regierungsverantwortung gekommen sind, bleiben in der Regel erhalten.

Die Verhinderung von Nachwahlen ist so aber nur ein Nebeneffekt, durch die Änderung würden todesfallbedingte Nachwahlen – wie bei der Bundestagswahl 2005 in Dresden – nahezu ausgeschlossen (ganz auszuschließen sind sie natürlich nicht, wie der Tod des zweiten NPD-Kandidaten im Dresdner Wahlkreis 160, Franz Schönhuber, nur zwei Monate nach der Wahl zeigt. Diese Verhinderung wäre aber auch – sogar mit Sicherheit – durch eine Regelung möglich wie sie bspw. im bayerischen Landeswahlgesetz geregelt ist – der Mitwahl verstorbener Politiker. Denn warum es einen Unterschied für das Nachrücken machen soll, ob der Bewerber einen Tag vor bzw. einen nach der Hauptwahl gestorben ist, ist nicht verständlich.

Es ist daher zu hoffen, dass durch die allgemeine Prüfbitte des Bundesrates an die Bundesregierung hinsichtlich des Bundeswahlgesetzes nun eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den vielfältigen Mängeln des Bundeswahlgesetzes beginnt, etwa zum verwendeten Sitzzuteilungsverfahren oder den Regelungslücken. Wobei auch noch Wahlprüfungsbeschwerden (zur Bundestagswahl 2002) zu diesen Themen in Karlsruhe anhängig sind und sich so auch die Rechtsprechung mit in die Sachdiskussion einbringen könnte.


von Martin Fehndrich und Matthias Cantow (12.02.2006, letzte Aktualisierung: 13.02.2006, letzte Linkaktualisierung 08.07.2007)