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03.05.2008
Mit der Ankündigung „Dies ist unser Beitrag zum Jahr der Mathematik!“ begann der Vorsitzende des Zweiten Senats, Prof. Winfried Hassemer, am 16. April die mündliche Verhandlung unserer Wahlprüfungsbeschwerden zum Thema „Negatives Stimmgewicht“. Dass sich die Wortbeiträge dann doch eher auf juristische und politische Fragen konzentrierten, war angesichts der Teilnehmerliste keine Überraschung. Es nahmen teil für
die Beschwerdeführer: | Prof. Dr. Dr. h. c. Hans Meyer, Humboldt-Universität zu Berlin, als unser Prozess-Bevollmächtigter, |
den Deutschen Bundestag: | Thomas Strobl (CDU), Vorsitzender des Wahlprüfungsausschusses, Dr. Carl-Christian Dressel (SPD), Stellv. Vorsitzender des Wahlprüfungsausschusses, Prof. Dr. Heinrich Lang, Universität Rostock, als Bevollmächtigter, |
den Bundeswahlleiter: | Peter Weigl, Stellvertreter des Bundeswahlleiters (für Noch-Bundeswahlleiter Walter Radermacher1), |
die CDU: | Prof. Dr. Peter M. Huber, LMU München, als Bevollmächtigter, |
die SPD: | Rechtsanwältin Heike Werner, Justiziarin, |
und als Sachverständiger: | Prof. Dr. Friedrich Pukelsheim, Universität Augsburg. |
Als einzigem Nicht-Juristen und Mathematiker oblag es Prof. Pukelsheim, das Phänomen des „Negativen Stimmgewichts“ verständlich zu machen, was ihm mit beiden Händen plastisch gelang. Der zweite „neutrale“ Teilnehmer, der stellvertretende Bundeswahlleiter, versuchte anders als noch in den Verfahrensschriftsätzen des Bundeswahlleiters, das Problem zu verharmlosen, indem er den Effekt als „fiktiv“ bezeichnet. Was fiktiv daran sein sollte, dass beispielsweise 50.000 Baden-Württemberger Wähler aus Fleisch und Blut ihr Kreuzchen am 18. September 2005 bei der CDU gemacht und ihr dadurch einen Sitz genommen haben, hat der stellvertretende Bundeswahlleiter dabei nicht erklärt.
Hier konnten wir hoffentlich verdeutlichen, dass der Effekt groß ist und jede Stimme für eine überhängende Landesliste ein negatives Gewicht hat. Betroffen waren 2005 immerhin die Wahlberechtigten in mindestens neun Bundesländern. Der Effekt selbst erfasst rund 30 Mandate und über 6,5 Mio. Stimmen.
Vorsitzender Hassemer ließ durchblicken, dass der Senat das negative Stimmgewicht durchaus als verfassungsrechtliches Problem ansieht (Richter Di Fabio: „Skandalon“), das nur dann akzeptabel sei, wenn es keine gegenüber dem Status Quo eindeutig vorzugswürdige Alternative gebe. Die Vertreter des Bundestags konzentrierten sich daher darauf, die angeblichen Nachteile der vielen verschiedenen Möglichkeiten zur Beseitigung des negativen Stimmgewichts zu betonen. Dabei schreckten sie auch vor Nebelkerzen nicht zurück: So malte der Coburger SPD-Abgeordnete Dressel das Horrorgemälde von CSU-Überhangmandaten an die Wand, die nach dem von Prof. Pukelsheim vorgeschlagenen Verfahren von den Listenmandaten der anderen Parteien abgezogen und somit den Parteienproporz weiter verzerren würden. In Wahrheit haben derartige externe Überhangmandate – von der Unwahrscheinlichkeit ihres Eintretens ganz abgesehen – mit dem negativen Stimmgewicht überhaupt nichts zu tun. Von unserer Seite musste klargestellt werden, dass sich die Kompensation von Überhangmandaten ohne weiteres auf die Unterverteilung, also auf interne Überhangmandate beschränken.
Hiergegen führten die Bundestags-Vertreter das altbekannte Argument ins Feld, es störe den partei-internen Länderproporz, wenn Direktmandate aus einem Überhangland von den Listenmandaten in einem anderen Bundesland abgezogen würden. Auch unsere Argumente waren nicht neu: Die Verzerrung des partei-internen Proporzes zwischen den Landeslisten fällt erstens sehr viel geringer aus als die bereits durch die Überhangmandate verursachte Verzerrung, und zweitens ist der Föderalproporz bei der Wahl zum Bundestag kein Verfassungsgrundsatz. Hingegen würden durch die Verrechnung zwei handfeste verfassungsrechtliche Probleme, das negative Stimmgewicht und die Verzerrung des bundesweiten Parteienproporzes, beseitigt. Die diesbezüglichen Nachfragen von der Richterbank lassen hoffen, dass zumindest ein Teil der Richter uns in diesem Punkt folgen wird. Eine Lösung müsste dabei keineswegs eine vollständige Kompensation vorsehen, sondern könnte sich allein auf die Vermeidung eines negativen Stimmgewichts beschränken (Teilkompensation).
Einigkeit bestand darin, dass die Änderungen des Bundestagswahlsystems im Januar 2008, insbesondere die Umstellung auf die Divisormethode mit Standardrundung, keine nennenswerten Verbesserungen im Bezug auf das negative Stimmgewicht gebracht haben.
Einen überraschenden Einwand brachte Prof. Huber (für die CDU): Wenn zusätzliche Stimmen dazu führen, ein Überhangmandat abzubauen, wirke das negative Stimmgewicht der Proporzverzerrung durch Überhangmandate entgegen und sei damit geboten. Mit dem Hinweis von Richterin Lübbe-Wolff, der Effekt funktioniere aber ja auch umgekehrt, indem weniger Stimmen zu zusätzlichen Überhangmandaten führten, wurde deutlich, dass die Richter dieser Argumentation kaum folgen werden. Dies war der bislang erste und einzige Versuch, den Effekt als wünschenswert darzustellen. Bemerkenswerterweise vertrat Huber immerhin die Auffassung, dass Überhangmandate die Erfolgswertgleichheit beeinträchtigen. Dies entspricht zwar dem Vorbringen des heutigen Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU, Kauder, im Wahlprüfungsbeschwerdeverfahren zur Bundestagswahl 2002, wurde aber von den obsiegenden Hälfte des Zweiten Senats im großen Überhangmandats-Urteil 1997 bestritten.
Obwohl sich die mündliche Verhandlung aufgrund der von der Gegenseite vorgebrachten Auffassungen nur selten dem Kern des verfassungsrechtlichen Problems nähern konnte, sind wir alles in allem guter Hoffnung, dass das Gericht den Effekt des negativen Stimmgewichts für verfassungswidrig erklären und dem Bundestag einen entsprechenden Handlungsauftrag geben wird. Ansonsten droht – angesichts der mittlerweile für das Thema sensibilisierten Medien – für die nächste Bundestagswahl eine Wahlfarce wie in Dresden, wo die Wähler diese Wahlrechtseigenschaft in zwei Wochen lernen konnten. Was ein solcher Lerneffekt bewirken kann, erkennt man am Beispiel der Wahl in Albanien 2005. Hier gilt ein ähnliches Zweistimmensystem wie in Deutschland, ohne negative Stimmgewichte, aber wegen des höheren Direktmandatsanteils mit hoher Überhang-Wahrscheinlichkeit. Stimmensplitting ist hier der Regelfall. Zwei 8 %-Überhangparteien teilen sich 98 % der Wahlkreismandate. Es ist anzunehmen, dass die Wähler in Deutschland das genauso erkennen würden, wie die Wähler in Dresden oder Albanien, und auf den vorhersehbaren Effekt (vgl. die Tipps und Tricks), der aus eine Wahl eine Abwahl macht, entsprechend reagieren würden.
Eine Möglichkeit, wie das Gericht dennoch vermeiden kann, die Bundestagswahl 2005 für ungültig zu erklären, wurde seitens der Bundestagsvertreter in der mündlichen Verhandlung bereits angesprochen: Für den Gesetzgeber sei die Verfassungswidrigkeit nicht erkennbar gewesen, weswegen er das Bundeswahlgesetz auch nicht entsprechend habe ändern müssen. In der Tat wurden unsere fast inhaltsgleichen Wahlprüfungsbeschwerden gegen das negative Stimmgewicht bei der Bundestagswahl 1998 ja noch als offensichtlich unbegründet verworfen.
Die Unterscheidung zwischen erkennbarer und nicht erkennbarer Verfassungswidrigkeit ist zwar durchaus fragwürdig, wurde vom Bundesverfassungsgericht aber bereits in früheren Entscheidungen zu Überhangmandaten verwendet, nämlich im Jahre 1963 und im Jahre 1997. Auch wenn die Bundestagsvertreter ihren Unwillen, das Wahlgesetz zu korrigieren, verdeutlicht haben, betonten sie, dass der Gesetzgeber das Bundeswahlgesetz stets an Veränderungen angepasst habe.
1 Noch-Bundeswahlleiter Walter Radermacher geht als neuer Generaldirektor des Europäischen Statistikamtes Eurostat nach Luxemburg.