16. Deutscher Bundestag

[Wahlprüfung]

Beschluss vom 14. Dezember 2006

WP 162/05

BT-Drs 16/3600, 87 (Anlage 11)

„Negatives Stimmgewicht“


Informationen Informationen zur Entscheidung, Entscheidungen 2000–heute

Beschluss

[BT-Drs 16/3600 (S. 87)] Zum Wahleinspruch
des Herrn Dr. M. F.,
– WP 162/05 –
gegen
die Gültigkeit der Wahl zum 16. Deutschen Bundestag am 18. September 2005
hat der Wahlprüfungsausschuss in seiner Sitzung vom 30. November 2006 beschlossen,
dem Bundestag folgenden Beschluss zu empfehlen:

Entscheidungsformel:

Der Wahleinspruch wird zurückgewiesen.

Tatbestand:

Mit einem am 17. November eingegangenen Schreiben vom 14. November 2005 hat der Einspruchsführer gegen die Gültigkeit der Wahl zum 16. Deutschen Bundestag am 18. September 2005 Einspruch eingelegt. 1
Der Einspruch wendet sich gegen das Phänomen der negativen Stimmgewichte bei der Bundestagswahl und weist darauf hin, dass unter bestimmten Umständen ein Mehr an Stimmen für eine Partei zu weniger Sitzen für diese Partei führen könne. Dieser Effekt trete immer dann auf, wenn in einem Bundesland Überhangmandate anfielen bzw. knapp verfehlt würden. Das Phänomen negativer Stimmgewichte sei auch bei der Bundestagswahl 2005 aufgetreten, was vom Einspruchsführer durch mehrere Beispiele veranschaulicht wird. Offensichtlich sei dies im Zusammenhang mit der Nachwahl im Wahlkreis 160 (Dresden I) gewesen, die im Übrigen ausdrücklich nicht zum Gegenstand des Einspruchs gemacht wird. Die Wähler hätten aufgrund unterschiedlicher Quellen gewusst, dass die CDU einen Sitz bei mehr als 42 000 Zweitstimmen verlieren würde. Für die Wähler hätten sich damit in Kenntnis des vorläufigen Ergebnisses der Hauptwahl je nach Präferenz zwei Alternativen geboten: CDU-Anhänger hätten, um einen Sitzverlust zu vermeiden, der CDU die Zweitstimme nicht geben dürfen. CDU-Gegner hätten durch Stimmabgabe für die CDU zu einem Sitzverlust beitragen können. Die Wähler hätten auch entsprechend reagiert; die CDU habe nur 24,4 Prozent der Zweitstimmen, die FDP dagegen 16,6 Prozent erhalten. 2
Der Einspruchsführer ist der Auffassung, dass bei einem Verteilsystem, das negative Stimmgewichte ermögliche, keine Wahl im Sinne des Artikels 38 GG vorliege. Bei einer richtigen Wahl erhalte eine Partei umso mehr Sitze, je mehr Stimmen sie erhalte. Es widerspreche dem Wählerwillen, wenn eine Stimmabgabe für eine Partei zu einem Sitzverlust führen könne. Weiterhin sei der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl verletzt, da die Stimmen nicht direkt wirkten, Anhänger einer Partei vielmehr gezwungen seien, ihrer Partei die Stimme zu verweigern, um sie zu unterstützen. Bei der Nachwahl habe man sogar eine Partei dadurch ablehnen können, dass man ihr die Zweitstimme gab. Auch die Freiheit der Wahl sei durch das beschriebene Stimmverhalten verletzt. Der so beschriebene Wahlfehler sei im Übrigen unnötig und durch ein entsprechend anderes Verteilverfahren vermeidbar. 3
Der Bundeswahlleiter bestätigt in seiner Stellungnahme die Möglichkeit negativer Stimmgewichte, wonach unter bestimmten Voraussetzungen die Zunahme von Zweitstimmen für eine Partei zu einer Abnahme bei ihren Mandaten führen könne und umgekehrt. Dies finde seine Ursache in der Regelung des § 6 Abs. 5 des Bundeswahlgesetzes (BWG) zu den Überhangmandaten. Bei gleicher Anzahl der nach § 6 Abs. 1 bis 3 BWG nach dem Zweitstimmenanteil ermittelten Bundestagsmandate für die Partei insgesamt entfalle bei der Unterverteilung der Mandate auf die einzelnen Länder auf das Land des Stimmenzuwachses ein Sitz mehr zu Lasten eines anderen Landes. Infolge der Verrechnung mit den in diesem Land errungenen Direktmandaten wirke sich der Gewinn des weiteren Listenmandats im Land des Stimmenzuwachses jedoch nicht mandatsvermehrend aus, sondern verringere die Zahl der dort für die Partei angefallenen Überhangmandate um eins. So könne im Ergebnis einer Partei ein Mandat in einem Land verloren gehen, ohne dass aus diesem Land trotz des Stimmenzuwachses ein zusätzlicher Abgeordneter dieser Partei in den Deutschen Bundestag einziehe. Stattdessen werde infolge unveränderter Anzahl von Mandaten nach Zweitstimmenanteil der Partei durch Verringerung der Überhangmandate um eins die Gesamtzahl der Sitze dieser Partei geringer. Vorgenannte Ausführungen würden entsprechend bei einer Abnahme von Stimmen gelten. 4
Der Bundeswahlleiter weist weiterhin darauf hin, dass die Bundestagswahl ordnungsgemäß nach den Bestimmungen des Bundestagswahlrechts durchgeführt und die Sitzverteilung nach dem vom Bundesverfassungsgericht als verfassungskonform festgestellten Verfahren Hare/Niemeyer berechnet worden sei. Es liege im pflichtgemäßen, unter Beachtung der Wahlrechtsgrundsätze auszuübenden Ermessen des Gesetzgebers, welches mathematische Verfahren für die Sitzverteilung festgelegt werde. Das Phänomen der negativen Stimmgewichte sei bereits Gegenstand von Einsprüchen gegen die Bundestagswahlen 1998 und 2002 gewesen. Die nach Zurückweisung der Einsprüche gegen die Bundestagswahl 1998 erhobenen Wahlprüfungsbeschwerden habe das [BT-Drs 16/3600 (S. 88)] Bundesverfassungsgericht als offensichtlich unbegründet verworfen, die Verfahren aufgrund der Bundestagswahl 2002 seien noch beim Bundesverfassungsgericht anhängig. 5
Der Einspruchsführer, dem die Stellungnahme des Bundeswahlleiters zugänglich gemacht worden ist, bekräftigt seine Auffassung, dass in der Verletzung von Freiheit und Unmittelbarkeit der Wahl ein Wahlfehler liege, der auf den Wahlrechtsbestimmungen beruhe, die zu internen Überhangmandaten führten. 6
Der Wahlprüfungsausschuss hat nach Prüfung der Sach- und Rechtslage beschlossen, gemäß § 6 Abs. 1a Nr. 3 des Wahlprüfungsgesetzes (WPrüfG) von einer mündlichen Verhandlung abzusehen. 7

Entscheidungsgründe

Der Einspruch ist zulässig, jedoch offensichtlich unbegründet. 8
Ein Wahlfehler ist nicht feststellbar; die Bundestagswahl 2005 ist im Einklang mit den Vorgaben des Bundeswahlgesetzes durchgeführt worden. Das Phänomen der negativen Stimmgewichte ist – wie auch vom Bundeswahlleiter angemerkt – durch die Ausgestaltung des geltenden Wahlrechts bedingt. Insoweit gilt zunächst, dass sich der Wahlprüfungsausschuss und der Deutsche Bundestag in ständiger Praxis nicht als berufen ansehen, die Verfassungswidrigkeit von Wahlrechtsvorschriften festzustellen. Diese Kontrolle ist stets – so zuletzt in der laufenden 16. Wahlperiode in der Zweiten Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses vom 22. Juni 2006 – Bundestagsdrucksache 16/1800, Seite 229 u. a. – dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten worden. 9
Davon abgesehen war der Effekt der negativen Stimmgewichte bereits in der Vergangenheit Gegenstand von Wahlprüfungsverfahren vor dem Deutschen Bundestag und vor dem Bundesverfassungsgericht und ist nicht beanstandet worden. So wurde zu Einsprüchen gegen die Bundestagswahlen 1998 und 2002 festgestellt, dass der angesprochene Effekt bei gewissen Zweitstimmenkonstellationen mit der Existenz von Überhangmandaten im Rahmen der gesetzlichen Regelung verbunden ist (vgl. Bundestagsdrucksachen 14/1560, S. 177, 185; 15/1850, S. 76). Bereits in diesen Wahlprüfungsentscheidungen ist auch darauf aufmerksam gemacht worden, dass das die Überhangmandate betreffende Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Kenntnis möglicher negativer Stimmeffekte ergangen ist, ohne hierauf aber einzugehen. So war von der Antragstellerin des Organstreits der angesprochene Effekt als „inkonsequente Ausgestaltung“ des Wahlrechts vorgetragen und zudem in der mündlichen Verhandlung vom Bundeswahlleiter als möglich bezeichnet worden (BVerfGE 95, 335 <343, 346>). Später hat das Bundesverfassungsgericht die Beschwerden gegen die vorgenannten Wahlprüfungsentscheidungen zur Bundestagwahl 1998 jeweils mit Beschluss vom 22. Januar 2001 verworfen mit dem Hinweis, dass sie aus den durch ein Berichterstatterschreiben mitgeteilten Erwägungen offensichtlich unbegründet seien (2 BvC 1/99 und 5/99). In den dabei in Bezug genommenen Berichterstatterschreiben wird laut Schreiber, Handbuch des Wahlrechts, 7. Auflage, § 6 Rn. 6b, darauf verwiesen, dass mit der Entscheidung des Gesetzgebers für eine personalisierte Verhältniswahl der Erfolgswertgleichheit aller Stimmen nur eine von vornherein begrenzte Tragweite zukomme, so dass der beanstandete Effekt eines negativen Erfolgswertes der Wählerstimmen, zu dem das Berechnungsverfahren Hare/Niemeyer führe, nicht die Verfassungswidrigkeit der geltenden Regelung bewirken könne. Eine vergleichbare Beschwerde gegen die Wahlprüfungsentscheidung zur Bundestagswahl 2002 ist noch beim Bundesverfassungsgericht anhängig. 10
Entgegen der Auffassung des Einspruchsführers ändert die durch mögliche negative Stimmgewichte bedingte Gefahr, das eine Stimmabgabe für eine Partei dieser nicht notwendig nützlich ist, nichts daran, dass es sich bei diesem Vorgang um eine durch das einfache Wahlrecht ausgestaltete Wahl im Sinne des Artikels 38 GG handelt. Ebenso wenig ist von einer Verletzung der Grundsätze der unmittelbaren und freien Wahl auszugehen. Sicherlich muss dem Wähler erkennbar sein, wie sich die eigene Stimmabgabe auf Erfolg oder Misserfolg der Wahlbewerber auswirken kann (vgl. BVerfGE 95, 335 <350>). Dies kann aber nur im Sinne einer Kenntnis der theoretisch denkbaren Wirkungen zu verstehen sein, da die tatsächlichen Auswirkungen nur im Zusammenhang mit der Stimmabgabe aller Wähler eintreten können und überdies von den durch das Wahlrecht gesetzten Rahmenbedingungen abhängen. Ebenso wie manche Wähler nicht wissen können, ob ihre Stimmabgabe z. B. wegen Verfehlens der 5-Prozent-Hürde der von ihnen gewählten Partei Berücksichtigung findet oder wirkungslos bleibt, erscheint auch die Gefahr einer möglicherweise „schädlichen“ Stimmabgabe hinnehmbar. Aus den gleichen Erwägungen ist auch nicht von einer Beeinträchtigung der Entschließungsfreiheit der Wähler durch Unsicherheit über die Auswirkungen ihrer Stimmabgabe oder Hinweise auf mögliche taktische Stimmabgaben auszugehen. Dabei ist einzuräumen, dass sich im Falle einer Nachwahl mögliche Konsequenzen einer Stimmabgabe qualitativ anders darstellen als bei einer ausschließlich an einem Tag stattfindenden Bundestagswahl. Hierbei handelt es sich aber um letztlich nicht vermeidbare Folgen einer Nachwahl, bei der – wie vom Deutschen Bundestag bereits festgestellt (vgl. Bundestagsdrucksache 16/1800, S. 12 ff.) – die Ergebnisse der Hauptwahl bereits bekannt sein dürfen. 11
Ob und gegebenenfalls wie einfachgesetzlich dem möglichen Auftreten negativer Stimmgewichte zu begegnen ist, ist nicht im Wahlprüfungsverfahren zu entscheiden. 12

 


Matthias Cantow