Bundesverfassungsgericht

[Pressemitteilungen]

Pressemitteilung

38/2008

19.03.2008


 

Mündliche Verhandlung in Sachen „Negatives Stimmgewicht“

2 BvC 1/07; 2 BvC 7/07
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts verhandelt am

Mittwoch, 16. April 2008, 13:00 Uhr,
im Sitzungssaal des Bundesverfassungsgerichts,
Schloßbezirk 3, 76131 Karlsruhe

die Wahlprüfungsbeschwerden von zwei Wählern, die sich gegen das Phänomen des negativen Stimmgewichts bei der Bundestagswahl 2005 (16. Deutscher Bundestag) wenden.
1
Die Verhandlungsgliederung finden Sie im Anhang an diese Pressemitteilung. 2
Unter dem Begriff des negativen Stimmgewichts werden unterschiedliche Paradoxien im Verfahren der Mandatszuteilung zusammengefasst, denen gemeinsam ist, dass der Gewinn von Zweitstimmen einer Partei bei genau dieser Partei zu einem Mandatsverlust führen kann. Der Effekt kann auch in umgekehrter Richtung derart auftreten, dass der Verlust von Zweitstimmen zu einem Mandatsgewinn führt. 3
Bei Bundestagswahlen kann das negative Stimmgewicht beim Entstehen von Überhangmandaten gemäß § 7 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 6 Abs. 5 Bundeswahlgesetz auftreten. Stehen der Zahl der gewählten Wahlkreisbewerber einer Partei in einem Land nur ebenso viele oder weniger nach Zweitstimmen auf der Landesliste (unter)verteilte Sitze gegenüber, dann kann es für die Partei günstiger sein, weniger Zweitstimmen in einem Bundesland zu erhalten, wenn dadurch die Sitzzahl in der bundesweiten Oberverteilung zwischen den verschiedenen Parteien nicht beeinflusst wird. Einfluss hat die niedrigere Stimmzahl dann allein auf die Unterverteilung der Sitze auf die einzelnen Landeslisten der betroffenen Partei. Denn eine niedrigere Anzahl an Zweitstimmen kann bei der Verteilung der bei der Unterverteilung übrig gebliebenen Reststimmen dazu führen, dass eine andere Landesliste vorrangig zum Zuge kommt. Je enger die Nachkommaanteile des ungerundeten Sitzanspruchs zweier Länder liegen, nach denen sich die Verteilung der Reststimmen bemisst, desto eher kann – wenn mindestens in einem dieser Länder Überhangmandate gewonnen wurden – der Effekt des negativen Stimmgewichts eintreten. Büßt die Partei in dem Land, in dem sie ein Überhangmandat gewonnen hat, ein Listenmandat in der Unterverteilung ein, so erleidet sie dadurch keinen Nachteil, weil ihre Liste ohnehin nicht zum Zuge kommt und sie die ihr zustehenden Wahlkreismandate nicht verlieren kann. Eine andere Landesliste der Partei erhält hingegen einen Sitz mehr. Damit gewinnt die betroffene Partei bundesweit durch den geringeren Stimmenanteil einen Sitz hinzu. Auch in umgekehrter Reihenfolge ist dieser Effekt denkbar. Eine Partei kann durch mehr Zweitstimmen ein Überhangmandat verlieren und somit in der Gesamtmandatszahl schlechter stehen. 4
Der Effekt des negativen Stimmgewichts kann in den seltenen Fällen ausgenutzt werden, in denen eine Nachwahl an einem anderen Tag als dem Tag der Hauptwahl durchgeführt wird und das Ergebnis der Hauptwahl vor der Nachwahl bekannt ist. In diesen Fällen können Berechnungen dazu angestellt werden, ob und unter welchen Voraussetzungen der Effekt des negativen Stimmgewichts eintreten kann, und die Wähler der Nachwahl können sich in ihrem Wahlverhalten hierauf einstellen. Dies war bei der Bundestagswahl 2005 im Wahlkreis Dresden der Fall, in dem die Direktkandidatin der NPD plötzlich verstorben war. In der Presse wurde erläutert, dass die CDU bei einer Zweitstimmenanzahl von mehr als 41.225 Stimmen ein Mandat verlieren könnte, bei einer niedrigeren Zweitstimmenzahl könnte sie jedoch ein Mandat gewinnen. Denn bei mehr als 41.225 Zweitstimmen würde sie zwar ein Listenmandat hinzugewinnen; da jedoch bereits nach dem vorläufigen Ergebnis der Hauptwahl in Sachsen drei Überhangmandate gewonnen waren, würde ein zusätzliches Listenmandat für Sachsen nicht zum Tragen kommen. 5
Die Beschwerdeführer halten die Möglichkeit, dass der Effekt des negativen Stimmgewichts auftreten kann, für verfassungswidrig. Hieraus resultiere eine Verletzung von Art. 38 GG, insbesondere der Freiheit und Unmittelbarkeit der Wahl. Die Unmittelbarkeit der Wahl sei verletzt, weil die Stimmen nicht direkt wirkten, sondern Anhänger einer Partei gezwungen seien, ihrer Partei die Stimme zu verweigern. Eine Verletzung der Freiheit der Wahl liege vor, weil die Wähler, die ihrer Partei mit ihrer Stimme schaden können, davon abgehalten würden, dieser Partei ihre Stimme zu geben. 6
Hinweis
Interessierte Bürgerinnen und Bürger, die an der mündlichen Verhandlung teilnehmen wollen, wenden sich bitte schriftlich an

Herrn Oberamtsrat Kambeitz
Postfach 1771, 76006 Karlsruhe
Fax: 0721 9101-461


Bei der Anmeldung sind Name, Vorname, Geburtsdatum und Telefon- oder Faxnummer anzugeben.
7
– Pressestelle –  

Verhandlungsgliederung zur mündlichen Verhandlung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts am 16. April 2008

Verhandlungsgliederung
A. Einführende Stellungnahmen (je 10 Minuten)

    I. Beschwerdeführer im Verfahren 2 BvC 1/07
   II. Beschwerdeführer im Verfahren 2 BvC 7/07
  III. Deutscher Bundestag
8
B. Zulässigkeit 9
C. Begründetheit

    I. Nichtöffentliche Nachzählung in einzelnen Stimmbezirken

   II. Verfassungsmäßigkeit von § 7 i.V.m. § 6 BWahlG, soweit der Effekt des negativen Stimmgewichts betroffen ist

      – Entstehungsvoraussetzungen des Effekts des negativen Stimmgewichts
      – Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit
      – Rechtfertigung einer möglichen Verletzung der Wahlrechtsgleichheit
      – Verstoß gegen weitere Wahlrechtsgrundsätze

  III. Rechtsfolgen

      1. Mandatsrelevanz
      2. Folgen für den 16. Deutschen Bundestag
10
D. Auswirkungen einer Entscheidung

    I. Folgen einer Verfassungswidrigkeit des Effekts des negativen Stimmgewichts für das bestehende Wahlsystem
   II. Bedeutung der Änderung des Bundeswahlgesetzes vom Januar 2008
  III. Alternativen für den Gesetzgeber
11
E. Abschließende Stellungnahmen 12

 


eingetragen von Matthias Cantow