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01.10.2005

CDU will neues Hamburger Wahlrecht wieder kippen

Mit kleinen, aber gravierenden Änderungen am neuen Wahlrecht plant die CDU, den Einfluß der Hamburger Wähler auf die personelle Zusammensetzung der Bürgerschaft wieder deutlich zu reduzieren.

Mit großer Mehrheit hat der Landesausschuß („kleiner Parteitag“) der Hamburger CDU am Dienstag beschlossen, wesentliche Teile des per Volksabstimmung beschlossenen neuen Wahlrechts zu modifizieren. Die CDU spricht dabei von „notwendigen, aber maßvollen Änderungen“. Im einzelnen sieht der Beschluß die folgenden Änderungen vor:

Stimmen ohne Personenwahl sollen „echte Listenstimmen“ werden

Ganz bewußt hatten die Initiatoren des neuen Wahlrechts darauf verzichtet, den Parteien irgendwelche „Hintertürchen“ offen zu lassen, durch die sie die Fraktionszusammensetzung mit Hilfe der vorgegebenen Kandidatenreihenfolge auf den Listen beeinflussen können. In den Bundesländern, die bei Kommunalwahlen Kumulieren und Panaschieren zulassen, sind derartige Regelungen durchaus üblich:

Was das Aussehen des Stimmzettels angeht, ist das neue Hamburger Wahlrecht dem niedersächsischen Modell sehr ähnlich: Neben jedem Parteinamen sind wie auch neben jedem Kandidaten fünf Felder eingezeichnet. Die Wähler können ihre fünf Stimmen frei auf die Kandidaten und/oder Parteien verteilen. Gewertet werden die „Listenkreuze“ hier jedoch ganz anders als in Niedersachsen. Sie kommen der jeweiligen Partei zwar im Kampf um die Sitze gegen die anderen Parteien zugute, wirken in bezug auf die Personenwahl innerhalb der Liste jedoch wie eine Enthaltung. Wer in Hamburg ein Kreuz oben beim Parteinamen macht, überläßt die Personenauswahl also nicht der Partei, sondern den anderen Wählern.

Die Initiatoren hatten sich für diese konsequente Lösung entschieden, weil in den anderen Bundesländern, insbesondere auch in Niedersachsen, die Mandatsrelevanz der von den Wählern vergebenen Personenstimmen recht gering ist. Die Zusammensetzung der Kommunalparlamente weicht häufig um weniger als zehn Prozent von der Zusammensetzung ab, die sich bei geschlossenen Listen ergeben hätte. Selbst wenn man den Parteien zugestehen mag, die Personenauswahl ihrer Fraktion mitzubestimmen, um z.B. sicherzustellen, daß für alle wichtigen Politikbereiche Fachpolitiker in der Fraktion vertreten sind, stellt sich die Frage, ob die beschriebenen „Hintertürchen“ die Personalentscheidungen der Wähler nicht in einem Maße zurückdrängen, daß sich der mit Kumulieren und Panaschieren verbundene Aufwand kaum noch lohnt. Zumal die bisherigen Erfahrungen auf Kommunalebene die Befürchtungen der Parteien, die Wähler könnten die Liste quasi bis zur Unkenntlichkeit durcheinanderwirbeln, keineswegs bestätigt haben.

Der Beschluß des CDU-Landesausschusses sieht nun vor, „daß die ‚Parteistimmen‘ sowohl im Wahlkreis als auch auf der Landesliste zu 'echten Listenstimmen' werden, mit denen der Wähler seine Zustimmung zur Listenreihenfolge geben kann, damit nicht kleine Gruppen über die Auswahl der Abgeordneten entscheiden.“

Diese Formulierung entbehrt nicht einer gewissen Ironie, da insbesondere die Hamburger CDU in der Vergangenheit dadurch negativ aufgefallen war, daß die Listenaufstellung von kleinen informellen Zirkeln wie dem sog. „Magdalenenkreis“ bestimmt wurde. Der Mangel an innerparteilicher Demokratie bei der Kandidatennominierung führte 1993 sogar dazu, daß sich das Hamburgische Verfassungsgericht genötigt sah, die Bürgerschaftswahl 1991 komplett für ungültig zu erklären.

Die CDU-Beschlußvorlage erwähnt zwar kurz die Regelungen in Niedersachsen und Thüringen, legt sich aber selbst nicht fest, auf welche Weise genau sie die „echten Listenstimmen“ künftig gewertet wissen will. In einer von der CDU veröffentlichten Präsentation wird die Einführung eines Quorums angedeutet: Demnach würden nur noch solche Kandidaten einen Sitz aufgrund ihrer Personstimmen erhalten können, wenn sie mehr Stimmen erhalten, „als für einen Sitz erforderlich sind“. Das Quorum soll sich also wohl berechnen aus der Summe aller gültigen Stimmen geteilt durch die zu vergebenden Sitze. Diese Hürde zu überspringen, dürfte realistischer Weise allenfalls den Spitzenkandidaten gelingen, womit dem Kumulieren und Panaschieren beinahe jegliche Relevanz genommen wäre. Bei der letzten Nationalratswahl in Österreich, wo auf Landesebene ein ebenso hohes Quorum herrscht, war es lediglich dem Bundeskanzler Schüssel (ganz knapp) gelungen, die nötige Stimmenzahl zu erreichen.

Zur Veranschaulichung demonstriert die CDU die beabsichtigte Änderung an einem recht kuriosen Extrembeispiel (Seite 17 in der CDU-Präsentation):

Mit echter Listenstimme Stimmenzahl Bei 5 Sitzen
Summe der Stimmen 100.000
Partei X/Listenstimmen 79.995
Kandidat A 0 gewählt
Kandidat B 0 gewählt
Kandidat C 0 gewählt
Kandidat D 0 gewählt
Kandidat E 1
Kandidat F 1
Kandidat G 1
Kandidat H 1
Kandidat J 20.001 gewählt
Kandidat K 0

Kandidat J hat das Quorum von 20.000 Stimmen (100.000 Stimmen geteilt durch fünf Sitze) also knapp übersprungen und erhält trotz des hinteren Listenplatzes einen Sitz. Hätte er aber zwei Stimmen weniger erreicht, wäre er leer ausgegangen – im Gegensatz zu den Bewerbern auf den fünf vorderen Plätze, von denen vier keine einzige Stimme erhalten haben. Die Fragwürdigkeit des Quorums wird aber auch deutlich, wenn man sich vorstellt, daß keine der 100.000 Stimmen als Listenkreuz vergeben worden wären, sondern sie sich auf die zehn Kandidaten verteilt hätten, ohne daß jedoch ein Bewerber auf mindestens 20.000 Stimmen gekommen wäre. Auch dann hätten alle Kandidaten die Hürde verfehlt. Die fünf Sitze würden nach der Vorstellung der CDU dann wohl gemäß der Listenrangfolge verteilt, ungeachtet der erreichten Stimmenzahlen.

Sollten die Hamburger Christdemokraten tatsächlich diese Quorumsregelung durchsetzen, würden sie damit den Einfluß der Wähler noch weit stärker zurückdrängen als es die oben erwähnten Regelungen in anderen Bundesländern tun. Letztlich bliebe es insoweit vermutlich sogar hinter dem Bundestagswahlrecht zurück, dessen Übertragung auf Hamburger Verhältnisse CDU und SPD bei der Volksabstimmung als Gegenvorlage zum Entwurf der Initiative den Abstimmenden vorgeschlagen hatten. Auch der innerparteiliche Einfluß der Parteibasis auf die Kandidatenaufstellung wäre bei den damals vorgesehenen 50 Wahlkreisen sicherlich größer gewesen.

Das per Volksentscheid beschlossene Wahlrecht, mit dem die Initiatoren den Wählern deutlich mehr Macht geben und die Parteien zu mehr innerparteilicher Demokratie zwingen wollten, würde praktisch mit einem Handstreich wirkungslos gemacht.

Ob die CDU tatsächlich so weit gehen wird, oder ob sie sich beispielsweise an der niedersächsischen Regelung orientieren wird, bleibt abzuwarten.

Streichung der Anreize für die Parteien, möglichst viele Kandidaten aufzustellen

Neben dem „Listenkreuz“ plant die CDU die Änderung einiger Detailregelungen des von der Volksinitiative durchgesetzten Gesetzentwurfs, die zum Ziel hatten, eine möglichst große Personenauswahl im Wahlkreis zu gewährleisten. Denn auch noch so wählerfreundliche Stimmgebungsregeln bringen wenig, wenn die Parteien jeweils nur gerade so viele Kandidaten aufstellt, wie sie im Wahlkreis bei einem guten Ergebnis Sitze erwarten. Darum hatten die Initiatoren einige Regelungen vorgesehen, mit denen sie die Parteien davon abhalten wollten, durch eine restriktive Kandidatenaufstellung die Auswahlmöglichkeiten der Wähler zu minimieren. Zwei dieser Schutzvorkehrungen möchte die CDU abschaffen:

Nachrückerregelung

Scheidet ein Abgeordneter aus der Bürgerschaft aus, rückt nach dem (noch) geltenden Wahlgesetz jener Kandidat nach, der auf der jeweiligen Liste die nächsthöchste Stimmenzahl erhalten hat. Nach den Plänen der CDU soll auch hierbei nun ausschließlich die Listenplatznummer entscheidend sein.

Rückgängig machen will die CDU die Abschaffung der Regelung, wonach Kandidaten, die zwischenzeitlich aus der Partei ausgeschieden sind, als Nachrücker nicht berücksichtigt werden. Bei einem stark personenwahl-orientiertem Wahlrecht ließe sich eine solche Regelung schwerlich mit dem Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl in Einklang bringen. Da die CDU aber offensichtlich die faktische Abschaffung der Personenwahl-Elemente im Sinn hat, entbehrt die Wiedereinführung dieser Regelung nicht einer gewissen Konsequenz.

Bezirksversammlungs-Wahlrecht

Das vom Hamburger Volk beschlossene Wahlgesetz sieht eine weitgehende Übertragung des neuen Bürgerschaftswahlrechts auf die Wahl der sieben Bezirksversammlungen vor. Um die Selbständigkeit der Bezirksversammlungen zu stärken, sollte ihre Wahl zudem vom Termin der Bürgerschaftswahl entkoppelt und stattdessen mit der Europawahl zusammengelegt werden. Außerdem sollte die 5-%-Hürde bei den Bezirksversammlungswahlen abgeschafft werden.

Auch die CDU möchte die von ihr vorgesehenen Modifikationen des Bürgerschaftswahlrechts auf das Bezirksversammlungs-Wahlgesetz übertragen. Zudem sollen die Bezirksversammlungen weiterhin gemeinsam mit der Bürgerschaft gewählt werden. Die Abschaffung der 5-%-Hürde will die CDU entgegen der kommunalwahlrechtlichen Entwicklung in anderen Bundesländern rückgängig machen.


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von Wilko Zicht und Matthias Cantow (erstellt: 01.10.2005)