16. Deutscher Bundestag |
[Wahlprüfung] |
Beschluss |
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Zum Wahleinspruch | |
des Herrn H. R., ... | |
– WP 177/05 – | |
gegen | |
die Gültigkeit der Wahl zum 16. Deutschen Bundestag am 18. September 2005 | |
hat der Wahlprüfungsausschuss in seiner Sitzung vom 9. März 2006 beschlossen, dem Bundestag folgenden Beschluss zu empfehlen: |
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Entscheidungsformel: |
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Der Wahleinspruch wird zurückgewiesen. | |
Tatbestand: |
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Mit Schreiben vom 15. November 2005 hat der Einspruchführer gegen die Gültigkeit der Wahl zum 16. Deutschen Bundestag Einspruch eingelegt. Gerügt wird der Erwerb von insgesamt 16 Überhangmandaten (sieben für die CDU, neun für die SPD) ohne Mandatsausgleich nach dem Zweitstimmenverhältnis oder Streichung der Überhangmandate als Verletzung des Grundsatzes der Gleichheit der Wahl. | 1 |
Als mögliche Ursachen der Überhangmandate nennt der Einspruchsführer die Wahlkreiseinteilung, die Anzahl der Parteien ohne Direktmandat, die unterschiedliche Verteilung von Erst- und Zweitstimmen auf zwei Parteien, eine geringere Wahlbeteiligung im betreffenden Bundesland sowie eine unterschiedliche, bei der Wahlkreiseinteilung nicht berücksichtigte Bevölkerungsstruktur bezüglich des Anteils der Wahlberechtigten. In einer historischen Betrachtung führt der Einspruchsführer für die Bundestagswahlen 1949 bis 1961 das Entstehen der Überhangmandate vorherrschend auf eine stark verzerrte Wahlkreiseinteilung zurück. Nach einer 1963 vom Bundesverfassungsgericht verlangten Anpassung der Wahlkreiseinteilung und einer zunehmenden Konzentration der Wählerstimmen auf die beiden großen Parteien habe es für 1965 bis 1987 – abgesehen von Baden-Württemberg – keine Überhangmandate in den bevölkerungsstarken Bundesländern gegeben. In den bevölkerungsschwachen Ländern – mit Ausnahme des Saarlandes – sei am Ende dieser Periode je ein Überhangmandat angefallen, wozu auch der Erfolg der GRÜNEN bei der Bundestagswahl 1987 beigetragen habe. Seit 1990 habe sich die Zahl der Überhangmandate drastisch erhöht, vor allem in den neuen Bundesländern. Der Faktor „bevölkerungsarmes Bundesland“ müsse jetzt verfassungsrechtlich stärker bewertet werden, da die neuen Bundesländer fast alle zu dieser Kategorie gehörten. Ein weiterer wichtiger Faktor sei die Vermehrung kleinerer, an der Sitzverteilung teilnehmender Parteien. 1990 sei die PDS hinzugekommen, die stark auf die neuen Bundesländer konzentriert sei. Ihre Nichtteilnahme an der Sitzverteilung erkläre neben der neuen Wahlkreiseinteilung den vorübergehenden Rückgang der Überhangmandate bei der Bundestagswahl 2002. Die unterschiedliche Wahlbeteiligung sei als Faktor zwar geringer einzustufen; festzustellen sei aber eine merklich unterdurchschnittliche Wahlbeteiligung in den neuen Bundesländern. Eine Belohnung einer geringeren Wahlbeteiligung durch Überhangmandate sei für ein demokratisches Wahlsystem bedenklich. Das zunehmende Splitting könne man einerseits als demokratische Reife im Hinblick auf die Persönlichkeitswahl und die Wahlkreisbindung ansehen; andererseits sei es auch mit Blick auf Überhangmandate als Manipulationsmittel missbrauchbar. Zur Groteske werde es, wenn – wie bei der Nachwahl in Dresden – auf einen niedrigeren Zweitstimmenanteil hingearbeitet werden müsse, um ein Überhangmandat zu gewinnen. Die jetzt erneut hohe Zahl an Überhangmandaten deute darauf hin, dass sich Wahl-, Wähler- und Parteienlandschaft für eine Anfälligkeit zu Überhangmandaten strukturell verändert habe und sich wohl weiter verändern werde. Damit werde die Frage der Verfassungswidrigkeit dringlich. Der Einspruchsführer erinnert sodann an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1997 (BVerfGE 95, 335 ff.) und die insoweit unterschiedlichen Auffassungen im Zweiten Senat. Die die Entscheidung tragenden Richter hätten immerhin gefordert, dass sich die Zahl der Überhangmandate in Grenzen halten müsse. Würden diese überschritten, weil sich Verhältnisse einstellten, unter denen Überhangmandate regelmäßig in größerer Zahl anfielen, entferne sich das Wahlverhalten von den gesetzlichen Grundentscheidungen. Aus diesen Anforderungen an das Wahlverfahren könnten sich eine Schranke für den gesetzgeberischen Gestaltungsraum sowie auch ein Handlungsauftrag aufgrund der geänderten tatsächlichen Verhältnisse ergeben. | 2 |
Abschließend erörtert der Einspruchsführer mögliche Abhilfen. Eine Mindeststimmenzahl für die Wahl im Wahlkreis bei Drohen von Überhangmandaten könnte die mit Ausgleichsmandaten verbundenen Probleme ersparen. Gegen die Auffassung, dass die Verzerrung der föderativen Repräsentanz durch Überhangmandate bedeutungslos sei, weil bei einer Bundestagswahl nicht erforderlich, spreche, dass ansonsten das System auf den Landeslisten aufgebaut sei. Schließlich stelle sich die Frage der Verfassungswidrigkeit, wenn erst durch Überhangmandate Regierungsmehrheiten erlangt werden könnten. | 3 |
Der Wahlprüfungsausschuss hat nach Prüfung der Sach- und Rechtslage beschlossen, gemäß § 6 Abs. 1a Nr. 3 des Wahlprüfungsgesetzes von der Anberaumung einer mündlichen Verhandlung abzusehen. | 4 |
Entscheidungsgründe |
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Der Einspruch ist zulässig, jedoch offensichtlich unbegründet. | 5 |
Soweit der Einspruchsführer eine Verfassungswidrigkeit der das Entstehen von Überhangmandaten ermöglichenden § 6 Abs. 4 und 5 des Bundeswahlgesetzes (BWG) geltend macht, lässt sich hieraus kein Wahlfehler ableiten. Die Verteilung der Sitze nach der Bundestagswahl 2005 beruht auf einer korrekten Anwendung des geltenden Rechts. | 6 |
Wie auch dem Einspruchsführer bekannt, lehnt es der Deutsche Bundestag im Verhältnis zum Bundesverfassungsgericht ab, die Verfassungswidrigkeit von Wahlrechtsnormen festzustellen. Davon abgesehen werden die erhobenen verfassungsrechtlichen Bedenken nicht geteilt. | 7 |
Die den Überhangmandaten zugrunde liegenden Vorschriften hat das Bundesverfassungsgericht 1997 als mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar festgestellt und ausdrücklich ausgeführt, dass die Ermöglichung von Überhangmandaten ohne Ausgleich für andere Parteien den Anforderungen der Wahlgleichheit nach Artikel 38 Abs. 1 Satz 1 GG genügt und die Chancengleichheit der Parteien wahrt (BVerfGE 95, 335 <357>). | 8 |
Der Deutsche Bundestag hat sich wiederholt mit den durch Überhangmandate aufgeworfenen Fragen befasst, aber keinen Änderungsbedarf ermittelt. Bereits vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts hatte sich der Deutsche Bundestag intensiv mit den Regelungen beschäftigt und sie unter Hinzuziehung von Sachverständigen auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft. So war in der 13. Wahlperiode die Reformkommission zur Größe des Deutschen Bundestages zu dem Ergebnis gekommen, dass die betreffenden wahlrechtlichen Regelungen verfassungsgemäß seien und keine verfassungsrechtliche Notwendigkeit bestehe, Überhangmandate z. B. durch Ausgleichsmandate oder eine Verrechnung bei den verbundenen Landeslisten auszugleichen (vgl. Bundestagsdrucksache 13/4560). In dem nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vorgelegten Schlussbericht ist einvernehmlich keine Änderung des Bundeswahlgesetzes vorgeschlagen worden (Bundestagsdrucksache 13/7950). Auch in der Folge hat sich der Deutsche Bundestag wiederholt mit Überhangmandaten beschäftigt. Zum einen sind Wahleinsprüche gegen die Bundestagswahl 1998 mit 13 Überhangmandaten und – mehrheitlich – gegen die Bundestagswahl 2002 mit fünf Überhangmandaten zurückgewiesen worden (vgl. Bundestagsdrucksache 14/1560, z. B. Anlagen 29, 31 und 32 sowie Bundestagsdrucksache 15/1850 – z. B. Anlagen 3 bis 5, 7). Zum anderen fanden Gesetzentwürfe der 13. Wahlperiode, die die Kompensation von Überhangmandaten vorsahen (vgl. Bundestagsdrucksache 13/5750; Plenarprotokoll 13/129 vom 11. Oktober 1996, S. 11631 ff.) ebenso wenig eine Mehrheit wie eine Initiative in der 14. Wahlperiode (vgl. Bundestagsdrucksache 14/2150; Plenarprotokoll 14/134 vom 23. November 1999, S. 12992 ff.). | 9 |
Für den Gesetzgeber bestand angesichts der Entwicklungen seit dem Urteil von 1997 kein Anlass, die wahlrechtlichen Bedingungen für Überhangmandate zu ändern. Soweit laut Bundesverfassungsgericht der Gesetzgeber darauf zu achten hat, dass sich die Zahl der Überhangmandate in Grenzen hält, hat das Gericht bezüglich eines gesetzgeberischen Handlungsbedarfs auf die 5-Prozent-Grenze zurückgegriffen (BVerfGE 95, 366). Fünf Überhangmandate bei der Bundestagswahl 2002 blieben jedoch ebenso unter dieser Grenze wie 13 bei der Wahl 1998. Das Gleiche gilt für die nunmehr 16 Überhangmandate. Bezüglich der Wahlkreisgrößen enthält § 3 BWG Maßgaben für die Einteilung der Wahlkreise. So soll die Bevölkerungszahl eines Wahlkreises von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl der Wahlkreise nicht um mehr als 15 Prozent nach oben oder unten abweichen; beträgt die Abweichung mehr als 25 Prozent, ist neu abzugrenzen. Diese Regelung in § 3 BWG hat auch der Neuabgrenzung der Wahlkreise für die Wahl zum 16. Deutschen Bundestag zugrunde gelegen (so im Siebzehnten Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 11. März 2005 – BGBl. I S. 674). | 10 |
Soweit schließlich der Einspruchsführer eine Verfassungswidrigkeit erörtert, falls die Überhangmandate über die – bei der jetzigen Bundestagswahl hiervon allerdings unabhängige – Mehrheitsbildung entscheiden, war dies dem Bundesverfassungsgericht als Problem bewusst, ohne daraus aber Konsequenzen abzuleiten. So müsse der Gesetzgeber die besonderen Anforderungen der Wahlrechtsgleichheit im Zusammenhang mit der Wahlkreisgröße beachten, wenn er sich entscheide, dass nicht alle errungenen Wahlkreismandate nach dem Zweitstimmenproporz zu verrechnen seien, sondern dass nicht ausgleichsfähige Wahlkreismandate die Gesamtzahl des Deutschen Bundestages erhöhen und „damit die Frage von Mehrheit und Minderheit beeinflussen“ könnten (BVerfGE 95, 335 <363>). | 11 |
Ob künftig die Regelungen verändert werden sollen, ist nicht im Wahlprüfungsverfahren zu entscheiden, sondern nach Einbringung entsprechender Initiativen im Gesetzgebungsverfahren zu beraten. | 12 |