15. Deutscher Bundestag

[Wahlprüfung]

Beschluss vom 17. Februar 2005

EuWP 40/04

BT-Drucks. 15/4750, 83 (Anlage 20)

„Erfolgswertgleichheit“


Entscheidungen 2000–heute

[BT-Drucks. 15/4750, 83 (83)] Beschluss

Zum Wahleinspruch
des Herrn S.,
– EuWP 40/04 –
gegen
die Gültigkeit der Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland am 13. Juni 2004
hat der Wahlprüfungsausschuss in seiner Sitzung vom 27. Januar 2005 beschlossen, dem Bundestag folgenden Beschluss zu empfehlen:

Entscheidungsformel:

Der Wahleinspruch wird zurückgewiesen.

Tatbestand:

Mit Schreiben vom 11. August 2004, das am 12. August 2004 beim Deutschen Bundestag eingegangen ist, hat der Einspruchsführer gegen die Gültigkeit der Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland am 13. Juni 2004 Einspruch eingelegt. Der Einspruchsführer beanstandet, dass die Vorschrift des § 2 des Europawahlgesetzes (EuWG), insbesondere die Fünf-Prozent-Sperrklausel und das gesetzlich bestimmte Berechnungsverfahren zur Sitzverteilung, den gleichen Erfolgswert der Wählerstimmen nicht gewährleistet habe. 1
Wie durch den Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments vom 20. September 1976 (BGBl. 1977 II S. 733 ff.), zuletzt geändert durch Beschluss des Rates vom 25. Juni 2002 und 23. September 2002 (BGBl. 2003 II S. 810) – Direktwahlakt – bestimmt worden sei, komme bei der Europawahl das Verhältniswahlsystem zur Anwendung. Demzufolge müsse der Gesetzgeber die Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen gewährleisten. 2
Der Einspruchsführer trägt vor, dass durch die Vorschrift des § 2 Abs. 2 EuWG nur die Wahlvorschläge berücksichtigt worden seien, die mindestens fünf vom Hundert der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Stimmen erhalten hätten. Dadurch sei der Erfolgswert von „annähernd zehn vom Hundert der gültigen Wählerstimmen willkürlich auf null gesetzt“ worden. Das Bundesverfassungsgericht habe in seiner Entscheidung vom 22. Mai 1979 (BVerfGE 51, 222) festgestellt, dass Eingriffe in die Erfolgswertgleichheit, die der Gesetzgeber in § 2 EuWG bestimmt habe, eines besonderen, rechtfertigenden, zwingenden Grundes bedürften. Der Zweck und die Natur des Wahlverfahrens müssten diese zwingend erfordern. Dieser Grund bestehe nach Auffassung des Einspruchsführers heute nicht mehr. Wie das Bundesverfassungsgericht bereits in dieser Entscheidung festgestellt habe, hätten die Fraktionen des Europäischen Parlaments in der Praxis mehr und mehr an Bedeutung gewonnen. Dieser Prozess habe sich fortgesetzt. 3
So sei in die Fraktionen auch ein großer Teil derjenigen Abgeordneten eingebunden, die sehr kleinen nationalen Kontingenten entstammten oder sogar ganz ohne Mitstreiter aus einer nationalen Liste seien. Mehrere nationale Listen seien teilweise in einer gemeinsamen Fraktion vereint. Andererseits sei es durchaus üblich, dass sich die gewählten Mitglieder nationaler Listen auf mehrere Fraktionen verteilten. Teilweise würden im Laufe einer Wahlperiode auch Abgeordnete großer nationaler Kontingente fraktionslos. Spätere Wechsel zwischen den Fraktionen seien nicht unüblich. 4
Die Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen nationalen Liste ist nach Auffassung des Einspruchsführers kein geeignetes Kriterium mehr, die Bündnisfähigkeit oder den Grad der Zersplitterung im Europäischen Parlament zu prognostizieren. 5
Das Bundesverfassungsgericht habe in der Entscheidung vom 22. Mai 1979 angenommen, dass eine lediglich aus vier oder weniger Abgeordneten bestehende Gruppe den vielfältigen Anforderungen, die die Parlamentsarbeit an sie stelle, schwerlich in umfassender Weise genügen könne. Nun sei es aber durchaus möglich gewesen, dass eine aus vier oder weniger Abgeordneten bestehende Gruppe in das Europäische Parlament habe gelangen können. Neben zahlreichen Beispielen aus anderen Ländern sei das trotz Sperrklausel von 1979 bis 1984 und von 1989 bis 1994 bei der FDP der Fall gewesen. Es gebe keinerlei Belege dafür, dass die damaligen Befürchtungen des Bundesverfassungsgerichts eingetreten seien. Zudem habe die Sperrklausel in der gewählten Form auch dazu geführt, dass Listen, denen die laut Bundesverfassungsgericht nötigen fünf Sitze zugestanden hätten, von der Verteilung ausgeschlossen worden seien, wie es 1994 der PDS tatsächlich passiert sei. Auch die FDP hätte damals noch fünf Sitze erreicht, wenn schrittweise die noch kleineren Listen ausgeschlossen gewesen wären. 6
Prinzipiell sei es schon im Jahre 1979 möglich gewesen, eine Liste mit einem grundsätzlichen Anspruch von fünf Sitzen durch die Sperrklausel von der Sitzvergabe auszuschließen, aber zumindest habe es der Gesetzgeber versäumt, die Sperrklausel zu korrigieren, nachdem zur Wahl von 1994 das deutsche Kontingent von 78 auf 99 direkt zu wählende Sitze erhöht worden sei. Seither seien Listen mit einem grundsätzlichen Anspruch von fünf Sitzen regelmäßig von der Sitzvergabe ausgeschlossen worden. Deshalb sei auch die damalige Annahme des Bundesverfassungsgerichts, dass lediglich der Einzug von Splittergruppen von höchstens vier Abgeordneten [BT-Drucks. 15/4750, 83 (84)] verhindert werde, nicht mehr aufrechtzuerhalten. Das Bundesverfassungsgericht habe in der Entscheidung vom 22. Mai 1979 betont, dass im damaligen Stadium der Integration ein erfolgreiches Wirken des Europäischen Parlaments noch sehr stark davon abgehangen habe, dass eine enge Verbindung und Zusammenarbeit zwischen den Abgeordneten des Europäischen Parlaments und den tragenden politischen Kräften ihrer Heimatländer bestanden habe. Einerseits sei die Entwicklung der Europäischen Union seither fortgeschritten, was schon allein am geänderten Namen deutlich werde. Andererseits sei dem Gericht in diesem Zusammenhang entgangen, dass mit dem Direktwahlakt gerade das Recht der Wahlberechtigten begründet worden sei, eine Besetzung des Europäischen Parlaments zu bestimmen, die von der der nationalen Parlamente abweiche. Die Wähler hätten regelmäßig von diesem Recht Gebrauch gemacht. Zudem habe sich kein erkennbarer Zusammenhang zwischen einer Verbindung zu den tragenden politischen Kräften der Heimatländer und dem Überwinden der Sperrklausel gezeigt. Insbesondere sei die FDP dazu 1984 und 1994 nicht in der Lage gewesen, obwohl sie zu dieser Zeit in der Bundesrepublik Deutschland sogar die Regierung mitgetragen habe. In diesen Fällen habe die Sperrklausel die Verbindung, die sie habe sicherstellen sollen, gerade unterbrochen. 7
Das Bundesverfassungsgericht habe die Bestimmungen des Europawahlgesetzes (EuWG) mit denen der anderen Länder verglichen. Dieser Vergleich sei heute teilweise nicht mehr zutreffend und zumindest in einem Punkt auch sachlich und mathematisch unrichtig: Die faktische Sperrwirkung sei selbst bei Anwendung des Divisorverfahrens mit Abrundung (d’Hondt) geringer als die angegebenen Zahlen, die lediglich den nötigen Stimmenanteil zu einem Idealanspruch von einem Mandat angegeben hätten. In Irland, Nordirland und heute auch Malta sei zudem der Erfolgswert der Wählerstimmen nicht von einer solchen Sperrwirkung berührt, weil die Wählerinnen und Wähler in den dortigen Wahlsystemen Folgepräferenzen hätten angeben können, die zum Tragen gekommen seien, wenn ihr zunächst präferierter Kandidat nicht genügend Stimmen bekommen hätte. Wenn es in Deutschland dem Wähler in ähnlicher Weise möglich gewesen wäre, Listen anzugeben, an die seine Stimme hätte übergehen sollen, falls die zunächst präferierte Liste die Sperrklausel nicht überwunden hätte, hätte die Sperrklausel ebenfalls nicht mehr in die Erfolgswertgleichheit eingegriffen und wäre damit unbedenklich gewesen. 8
Außerdem sei zu bemerken, dass eine faktische Sperrwirkung zwar je nach Größe des Kontingents eines Landes eine deutliche prozentuale Hürde darstellen könne, aber dennoch erlaube, dass ein einzelner Abgeordneter ohne zugehörige größere Gruppe Mitglied des Europäischen Parlaments werden könne, und damit nicht geeignet sei, dessen Zersplitterung wirksam einzuschränken. 9
Wie die Erfahrung gezeigt habe, sei es weder möglich noch nötig zu verhindern, dass Abgeordnete ohne Mitstreiter aus ihren eigenen Ländern im Europäischen Parlament seien. Darauf, ob ein Abgeordneter Mitstreiter im Europäischen Parlament finde, habe diese Frage nur einen äußerst untergeordneten Einfluss. Trotz der hohen Zahl an Abgeordneten aus kleinen und kleinsten nationalen Gruppierungen sei die Anzahl der fraktionslosen Abgeordneten stets vernachlässigbar gering gewesen, zumal darunter auch größere nationale Gruppen zu finden gewesen seien. Bezüglich der strengeren Voraussetzungen für eine Kandidatur in anderen Ländern sei darauf hinzuweisen, dass derartige Hürden auch in Deutschland das mildere Mittel gewesen wären und demnach Vorrang vor dem massiven Eingriff in die Erfolgswertgleichheit hätten haben müssen. Aus heutiger Sicht sei es nicht richtig, dass sich das Europawahlgesetz in größtmöglichem Umfang an das Bundeswahlrecht anlehne. Vielmehr seien die beiden zu beanstandenden Punkte – Sperrklausel und „Stimmenverrechnungsverfahren“ – die einzigen wesentlichen Gemeinsamkeiten, die nicht durch europäisches Recht erzwungen worden seien. 10
Im Gegensatz zum Stand von 1979 sei heute ein Verhältniswahlsystem bereits durch den Direktwahlakt vorgeschrieben. Darüber hinaus gebe es lediglich die Übereinstimmung beider Systeme, dass es sich nicht um ein Verfahren mit übertragbaren Einzelstimmen handele. Ansonsten habe dem bei der Europawahl verwendeten System die Personalisierung des Bundeswahlrechts völlig gefehlt, was aus Sicht des Wählers zu einer ganz anderen Stimmabgabe mit nur einer Stimme geführt habe. Auch auf Landesebene sei eine derartige Stimmabgabe inzwischen die Ausnahme, so dass man kaum noch behaupten könne, dass dieses Verfahren der Bevölkerung von anderen Wahlen her vertraut wäre. 11
Zudem seien dem Bundeswahlrecht die bei der Europawahl vorherrschenden Bundeslisten fremd. Übereinstimmung gebe es allenfalls noch im Detail; aber es seien auch Abweichungen festzustellen. Zu nennen seien hier insbesondere die Bestimmungen zum Nachrücken mit der Möglichkeit von Ersatzbewerbern. Das Bundesverfassungsgericht habe das Europawahlgesetz 1979 als Übergangsgesetz aufgefasst und aus diesem Grund gewisse Abstriche bei der Gleichbehandlung zugelassen. 25 Jahre später sei diese Auffassung aber nicht mehr angemessen. Wenn auch die Entwicklung noch nicht abgeschlossen sei (sofern das überhaupt jemals der Fall sein könne), handele es sich jedenfalls nicht mehr um ein Konstrukt, an das man die Maßstäbe einer Übergangsregelung anlegen könne. 12
Seit 1979 sei die Integration der europäischen Parteien deutlich fortgeschritten. Inzwischen könne keine Rede mehr davon sein, dass es sich um verhältnismäßig lockere Zusammenschlüsse und nicht um organisatorisch verfestigte übernationale Parteien handele. Zwar gebe es hier durchaus Ausnahmen, aber eine Sperrklausel sei nicht geeignet, hier eine Selektion zu treffen. Tatsächlich hätten die Parteien inzwischen sogar damit begonnen, als einheitliche Parteien in allen Mitgliedstaaten gemeinsam aufzutreten. Mittlerweile dominierten im Europäischen Parlament nicht mehr die nationalen Unterschiede, sondern die politischen Anschauungen, die sich zu einem guten Teil in den Fraktionen manifestiert hätten. Dass sich die Parteien trotzdem auch als selbständige Parteien in der Bundesrepublik Deutschland präsentiert hätten, sei nicht zuletzt eine Folge der Sperrklausel. Sie hätten nicht die Möglichkeit gehabt, sich den europäischen Wählern insgesamt zu stellen, sondern hätten eine rein national konzipierte Sperrklausel überwinden und sich damit speziell an die Wähler in Deutschland wenden müssen. 13
Weiter trägt der Einspruchsführer vor, dass das in § 2 Abs. 3 EuWG vorgesehene Berechnungsverfahren zur Sitzverteilung regelmäßig größere Abweichungen der Erfolgswertgleichheit als nötig verursache, soweit es zu einer anderen [BT-Drucks. 15/4750, 83 (85)] Verteilung komme. Besonders von der unbilligen Erhöhung bzw. Verringerung des Erfolgswerts seien dabei die Wähler von Listen mit geringem Stimmenanteil betroffen. Im vorliegenden Fall seien die Wähler der PBC unangemessen gegenüber den Wählern der SPD bevorzugt worden. Es existiere ein mathematisch eindeutig bestimmtes Verfahren zur Verteilung der Sitze nach erhaltenen Stimmen, das die Erfolgswertgleichheit optimal gewährleiste, nämlich das Divisorverfahren mit Standardrundung nach Sainte-Laguë/Schepers. 14
Nach Auffassung des Einspruchsführers steht die Wahl einiger von ihm namentlich benannter Personen nicht im Einklang mit den Wahlrechtsgrundsätzen. Stattdessen hätten seinen Berechnungen zufolge andere Wahlbewerber ein Mandat erhalten müssen. Zu den Einzelheiten wird auf den Inhalt der Akten Bezug genommen. 15
Zu den Ausführungen des Einspruchsführers hat der Bundeswahlleiter wie folgt Stellung genommen: 16
Das Bundesverfassungsgericht habe in seiner Entscheidung vom 22. Mai 1979 die Fünf-Prozent-Sperrklausel gemäß § 2 Abs. 6 EuWG als verfassungskonform angesehen, weil sie an dem durch besondere, zwingende Gründe gerechtfertigten Ziel, einer übermäßigen Parteienzersplitterung im Europäischen Parlament entgegenzuwirken, orientiert gewesen sei und das Maß des zur Erreichung dieses Ziels Erforderlichen nicht überschreite (BVerfGE 51, 222 <233>). Dies sei wie folgt begründet worden: 17
Der Gleichheitssatz fordere nicht, dass der Gesetzgeber die Einzelnen und ihre relevanten gesellschaftlichen Gruppen unbedingt gleichmäßig behandele; er lasse Differenzierungen zu, die durch sachliche Erwägungen gerechtfertigt seien. Ob und in welchem Ausmaß der Gleichheitssatz bei der Ordnung bestimmter Materien dem Gesetzgeber Differenzierungen erlaube, richte sich nach der Natur des jeweils in Frage stehenden Sachbereichs (BVerfGE 6, 84 <91> und BVerfGE 11, 266 <272>). Aus den Grundsätzen der formalen Gleichheit und der Chancengleichheit der politischen Parteien und Wählergruppen folge mithin, dass für den Gesetzgeber bei der Ordnung des Wahlrechts zu politischen Körperschaften nur ein eng bemessener Spielraum für Differenzierungen verbleibe. In diesem Bereich bedürften Differenzierungen stets eines besonderen, rechtfertigenden, zwingenden Grundes (BVerfGE 1, 208 <249 und 255>; ständige Rechtsprechung). 18
Die Verhältniswahl begünstige das Aufkommen kleiner Parteien und Wählervereinigungen. Daraus könnten sich ernsthafte Beeinträchtigungen der Handlungsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung ergeben. Eine Wahl habe nicht nur das Ziel, eine Volksvertretung zu schaffen, die ein Spiegelbild der in der Wählerschaft vorhandenen politischen Meinungen darstelle, sondern sie solle auch ein funktionsfähiges Organ hervorbringen. Würde der Grundsatz der getreuen Abbildung der politischen Meinungsschichtung in der Wählerschaft bis zur letzten Konsequenz durchgeführt, so hätte das nach Auffassung des Bundeswahlleiters eine Aufspaltung der Volksvertretung in viele kleine Gruppen zur Folge haben können, die die Mehrheitsbildung erschweren oder verhindern würde. Der unbegrenzte Proporz würde es erleichtern, dass auch solche kleinen Gruppen eine Vertretung erlangten, die nicht ein am Gesamtwohl orientiertes politisches Programm, sondern im Wesentlichen nur einseitige Interessen vertreten würden. Klare und ihrer Verantwortung für das Gesamtwohl bewusste Mehrheiten in einer Volksvertretung seien aber für eine Bewältigung der ihr gestellten Aufgaben unentbehrlich. Deshalb dürfe der Gesetzgeber Differenzierungen im Erfolgswert der Stimmen bei der Verhältniswahl vornehmen, soweit dies zur Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorganges bei der politischen Willensbildung im Interesse der Einheitlichkeit des ganzen Wahlsystems und zur Sicherung der mit der Wahl verfolgten Ziele unbedingt erforderlich sei (BVerfGE 51, 222 <236>). Unter diesem Blickpunkt habe das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung das Postulat der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung und die Gebote des grundsätzlich gleichen Erfolgswertes aller Wählerstimmen sowie der gleichen Wettbewerbschancen der politischen Parteien und Wählervereinigungen im Rahmen der Verhältniswahl gegeneinander abgewogen. Was in diesem Zusammenhang von Verfassungs wegen als zwingender Grund für eine begrenzte Differenzierung anzuerkennen sei, variiere von Bereich zu Bereich und bestimme sich vor allem nach dem Aufgabenkreis der zu wählenden Volksvertretung (BVerfGE 51, 222 <236 und 236 f.>). Die Fünf-Prozent-Sperrklausel beziehe sich hier auf die Wahlen zu einem supranationalen Organ, dem Europäischen Parlament. 19
Der dem Europäischen Parlament im Verfassungsgefüge der Europäischen Gemeinschaften zugewiesene Aufgabenkreis und die ihm auf dem Wege zu „einem immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker“ zugedachte Rolle erforderten ein handlungsfähiges Organ. Das Europäische Parlament könne die ihm gestellten Aufgaben nur dann wirksam bewältigen, wenn es durch eine, den vielschichtigen Spezialmaterien angemessene, interne Arbeitsteilung allen seinen Mitgliedern die notwendige Sachkenntnis verschaffe und zu einer überzeugenden Mehrheitsbildung in der Lage sei. Beides könne gefährdet werden, wenn die durch die große Zahl der Mitgliedstaaten ohnehin nicht vermeidbare Aufgliederung des Parlaments in viele Gruppen ein Ausmaß annehme, das dessen Funktionsfähigkeit ernsthaft in Frage stelle. Dies sei ein zwingender Grund, der Vorkehrungen gegen eine übermäßige Parteienzersplitterung zu rechtfertigen vermöge (BVerfGE 51, 222 <246 f.>). 20
Die Arbeitsfähigkeit eines so heterogen zusammengesetzten Parlaments wie des Europäischen Parlaments hänge in noch stärkerem Maße als bei einem nationalen Parlament von dem Vorhandensein großer, durch gemeinsame politische Zielsetzungen verbundener Gruppen von Abgeordneten ab. Schon unter diesem Blickpunkt erwiesen sich Vorkehrungen, die wie die in das Europawahlgesetz aufgenommene Fünf-Prozent-Sperrklausel darauf abzielten, den Einzug einer Gruppe von weniger als fünf Abgeordneten in das Parlament zu verhindern, als sachlich gerechtfertigt und zur Gewährleistung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments zwingend geboten. Eine solch kleine Gruppe wäre – so der Bundeswahlleiter – kaum in der Lage, die zahlreichen Maßnahmen der Europäischen Gemeinschaften in ihrem vielschichtigen und weiträumigen Tätigkeitsbereich zu verfolgen und kritisch zu beurteilen; sie wäre damit außerstande, in einer dem Ineinandergreifen der vielfältigen Aktivitäten gerecht werdenden Weise ihren Teil zur Kontrolle eines so hoch qualifizierten und großen bürokratischen Apparates wie der Kommission beizutragen. Eine solche Kontrolle sei wirksam nur möglich, wenn sie arbeitsteilig erfolge und eine größere Organisation den einzelnen Abgeordneten unterstütze. Entsprechendes gelte für die Mitwirkung des Europäischen Parlaments [BT-Drucks. 15/4750, 83 (86)] im Gesetzgebungsverfahren und bei der Verabschiedung des Haushalts (BVerfGE 51, 222 <247>). 21
Die seit dieser Entscheidung aus dem Jahr 1979 eingetretenen Veränderungen des Europarechts und der tatsächlichen Verhältnisse in der Europäischen Union hätten die darin getroffenen Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts bestätigt und sogar verstärkt. Die Arbeitsweise des Parlaments habe sich seit der o. g. Entscheidung nicht grundlegend verändert. Jedoch habe das Parlament deutlich an Kompetenzen gewonnen und sei der zentralen Funktion eines nationalen Parlaments bei der Gesetzgebung und der Regierungsbildung durch die Einheitliche Europäische Akte von 1986, die Verträge von Maastricht 1992, von Amsterdam 1996 und von Nizza 2001 erheblich näher gekommen. Die Einführung und Ausweitung des Mitentscheidungsverfahrens gemäß Artikel 251 des EG-Vertrages habe das Europäische Parlament in den meisten Bereichen der gemeinschaftlichen Rechtsetzung neben dem Rat zum gleichberechtigten Gesetzgeber der EU gemacht. 22
Auch die Anwendbarkeit des Anhörungs- und Zustimmungsverfahrens sei kontinuierlich ausgeweitet worden. So müsse das Parlament der Aufnahme neuer Mitgliedstaaten zustimmen und bei Abschluss völkerrechtlicher Verträge angehört werden und für bestimmte Arten wichtiger Abkommen sogar zustimmen. Das Parlament habe also inzwischen eine erhebliche gesetzgeberische Funktion und einen stärkeren politischen Einfluss auf die europäische Rechtsetzung. Auch im Verhältnis zur Kommission sei mit dem Zustimmungserfordernis bei der Ernennung der Kommissionsmitglieder und des Präsidenten die Stellung des Parlaments verstärkt worden. Der Kontrollaufgabe gegenüber dem Rat und der Kommission könne das Parlament nun auch durch Erhebung einer Nichtigkeitsklage nachkommen. Die dem Europäischen Parlament im institutionellen Gefüge der Europäischen Union zugewiesenen Aufgaben und seine Rolle hätten ein handlungs- und entscheidungsfähiges Organ erfordert. Dieses Erfordernis habe angesichts der Stärkung und des Kompetenzzuwachses seit 1979 noch erheblich an Bedeutung gewonnen. Das Parlament müsse zu effektiver Tätigkeit und überzeugender Mehrheitsbildung in der Lage sein. Über den Regelfall einer absoluten Mehrheit der abgegebenen Stimmen (Artikel 198 Abs. 1 EG-Vertrag) seien teilweise qualifizierte Mehrheiten und im Haushaltsrecht eine besonders qualifizierte Mehrheit von drei Fünftel der abgegebenen Stimmen bei Parlamentsentscheidungen erforderlich. 23
Das Gemeinschaftsrecht erkenne inzwischen das Ziel der Sicherung eines funktionsfähigen Parlaments sowie das Instrument der Sperrklausel auf europäischer Ebene als legitim an. Die Zulässigkeit einer Sperrklausel in Höhe von bis zu fünf Prozent für die Wahlen zum Europäischen Parlament im nationalen Wahlrecht der Mitgliedstaaten sei seit dem Jahr 2002 in Artikel 3 des Direktwahlaktes normiert. Deutschland sei nicht der einzige Mitgliedstaat, der eine Mindestschwelle für die Verteilung der Abgeordnetensitze im innerstaatlichen Wahlrecht vorsehe. Eine Sperrklausel von fünf Prozent gebe es außer in Deutschland auch in Frankreich, Litauen, Polen, in der Slowakei, der Tschechischen Republik und in Ungarn. In Griechenland normiere das nationale Wahlrecht eine Drei-Prozent-Hürde und in Österreich und Schweden müssten die Wahlvorschläge eine Vier-Prozent-Klausel überwinden müssen. 24
Die Sicherung mehrheitsfähiger Strukturen im Europäischen Parlament sei angesichts zehn neuer Mitgliedstaaten und den aus diesen Ländern in das Europäische Parlament gewählten weiteren Gruppen und Parteien umso wichtiger geworden. Im 5. und 6. Europäischen Parlament hätten sich die nationalen Parteien und Gruppen zu sieben Fraktionen gleicher politischer Richtung zusammengeschlossen, was angesichts einer Gesamtzahl von nun 732 Abgeordneten recht hoch sei. Auch hier sei einer weiteren Vermehrung von Fraktionen durch den Einzug kleiner Parteien vorzubeugen. Zudem sei nicht ausgeschlossen, dass bei Beschlüssen mit nationaler Bedeutung die Einigkeit in den Fraktionen für nationale Interessen geopfert werden könne, was bei der großen Anzahl von Mitgliedstaaten zur Gefährdung von Mehrheiten führen könne. Die Gefahr der Zersplitterung werde verschärft durch den möglichen Beitritt neuer Mitgliedstaaten. 25
Zudem begünstige das Wahlsystem der Europawahl, die Verhältniswahl, das Aufkommen kleiner Parteien. Der unbegrenzte Proporz würde es erleichtern, dass auch solche kleinen Gruppen eine Vertretung erlangen könnten, die nicht ein am Gesamtwohl orientiertes politisches Programm, sondern im Wesentlichen nur einseitige Interessen verträten (BVerfGE 51, 222 <236>). 26
Zu dem vom Einspruchsführer beanstandeten Berechnungsverfahren zur Sitzverteilung gemäß § 2 Abs. 3 bis 5 EuWG (Hare/Niemeyer) führt der Bundeswahlleiter aus, es liege im Ermessen des Gesetzgebers, welches mathematische Verfahren er im Rahmen der Wahlrechtsgrundsätze für die Berechnung der Verteilung der 99 Sitze deutscher Abgeordneter im Europäischen Parlament festlege. Die Verteilung der Sitze nach Bruchteilen entspreche der Regelung des § 2 Abs. 3 bis 5 EuWG und sei rechtlich nicht zu beanstanden. Die Entscheidung des Gesetzgebers für eine Berechnung nach dem Verfahren der mathematischen Proportion nach Hare/Niemeyer genüge den Anforderungen an ein für die Verhältniswahl unabdingbares Sitzverteilungssystem. Das gewählte Verfahren trage dem in § 1 Satz 2 EuWG niedergelegten Grundsatz der Gleichheit der Wahl Rechnung, obwohl mathematisch eine absolute Gleichheit des Erfolgswertes der Stimmen auch mit dieser Berechnungsart nicht erreicht werde (vgl. Schreiber, Kommentar zum Bundeswahlgesetz, 7. Auflage, § 6 Rn. 6a m. w. N. zu Hare/Niemeyer im Bundestagswahlrecht). 27
Soweit der Einspruchsführer vortrage, dass das Berechnungsverfahren Sainte-Laguë/Schepers die Erfolgswertgleichheit besser gewährleiste als das Verfahren Hare/Niemeyer, werde auf den Bericht des Bundesministeriums des Innern zu Nummer 3 der Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses vom 8. September 1999 hingewiesen. In diesem Bericht werden die Abweichungen der Sitzverteilung von der Stimmenverteilung bei dem Verfahren Sainte-Laguë/Schepers und bei dem Verfahren nach Hare/Niemeyer anhand von verschiedenen mathematischen Maßen beispielhaft berechnet und dargestellt. Zu den Einzelheiten der Berechnungen wird auf den Inhalt der Akten Bezug genommen. Da beim Verfahren nach Sainte-Laguë/Schepers bestimmte Ungereimtheiten nicht auftreten könnten und es in der Praxis kaum vorkommen dürfte, dass sich bei der Verteilung nach Sainte-Laguë/Schepers die Sitzzahlen nicht im Rahmen der sog. Idealansprüche bewegten, könne dieses Verfahren gegenüber dem Verfahren nach Hare/Niemeyer als geringfügig vorzugswürdig betrachtet [BT-Drucks. 15/4750, 83 (87)] werden. Das Bundesverfassungsgericht habe es allerdings der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers überlassen, für welches System der Berechnung und Verteilung der Mandate er sich entscheiden wolle (BVerfGE 79, 169 <171>). Die dafür im Wesentlichen angeführte Begründung, dass bei beiden Verfahren Reststimmen unberücksichtigt blieben und deshalb keine absolute Gleichheit des Erfolgswertes der Stimmen erreicht werden könne, gelte grundsätzlich auch für das Verfahren nach Sainte-Laguë/Schepers. 28
Zu den vom Einspruchsführer vorgenommenen Berechnungen hat der Bundeswahlleiter drei Modellrechnungen durchgeführt. Hierbei wurde in der ersten Modellrechnung der Berechnung der Sitzverteilung das Verfahren Hare/Niemeyer (§ 2 Abs. 3 EuWG) ohne Anwendung der in § 2 Abs. 6 EuWG vorgesehenen Fünf-Prozent-Sperrklausel zugrunde gelegt. In der zweiten Modellrechnung wurde der Berechnung der Sitzverteilung das Verfahren Sainte-Laguë/Schepers – ebenfalls ohne Anwendung der in § 2 Abs. 6 EuWG vorgesehenen Fünf-Prozent-Sperrklausel – zugrunde gelegt. In der dritten Modellrechnung wurde die Berechnung der Sitzverteilung bei der Europawahl 2004 unter Berücksichtigung der Sperrklausel des § 2 Abs. 6 EuWG nach den Verfahren Sainte-Laguë/Schepers und Hare/Niemeyer durchgeführt. Zu den Einzelheiten der Berechnungen wird auf den Inhalt der Akten Bezug genommen. 29
Die Berechnungen des Einspruchsführers seien – so der Bundeswahlleiter – zutreffend, sofern man davon ausgehe, dass er seinen Ausführungen eine Berechnung der Sitzverteilung ohne Sperrklausel nach dem Verfahren Sainte-Laguë/Schepers zugrunde gelegt habe. Abweichungen ergäben sich folgerichtig bei einer Anwendung des gesetzlich vorgeschriebenen Berechnungsverfahrens Hare/Niemeyer. 30
Dem Einspruchsführer ist die Stellungnahme des Bundeswahlleiters bekannt gegeben worden. Er hat sich hierzu nicht geäußert. 31
Der Wahlprüfungsausschuss hat nach Prüfung der Sach- und Rechtslage beschlossen, gemäß § 26 Abs. 2 EuWG in Verbindung mit § 6 Abs. 1a Nr. 3 Wahlprüfungsgesetz (WPrüfG) von einer mündlichen Verhandlung abzusehen. 32

Entscheidungsgründe

Der Einspruch ist form- und fristgerecht beim Deutschen Bundestag eingegangen. Er ist zulässig, jedoch offensichtlich unbegründet. 33
Ein Wahlfehler liegt nicht vor, weil der Einspruchsführer nicht mit Erfolg geltend machen kann, die Fünf-Prozent-Sperrklausel in § 2 Abs. 6 EuWG und das in § 2 Abs. 3 EuWG festgelegte Berechnungsverfahren für die Verteilung der Sitze der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland seien verfassungswidrig. Der Deutsche Bundestag und der Wahlprüfungsausschuss sehen sich nach ständiger Praxis nicht dazu berufen, die Verfassungswidrigkeit von Rechtsvorschriften festzustellen. Diese Kontrolle ist stets dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten worden (exemplarisch: Bundestagsdrucksache 14/1560, Anlage 77). Unabhängig hiervon halten der Deutsche Bundestag und der Wahlprüfungsausschuss die Vorschrift des § 2 EuWG für verfassungsgemäß. 34
Dies gilt zunächst für die Fünf-Prozent-Sperrklausel. Nach Artikel 3 Satz 1 des geänderten Direktwahlakts können die Mitgliedstaaten eine Mindestschwelle für die Sitzvergabe festlegen. Diese Schwelle darf jedoch nach Satz 2 dieser Vorschrift landesweit nicht mehr als fünf Prozent der abgegebenen Stimmen betragen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 8. Juni 2004 in einem Organstreitverfahren zur Fünf-Prozent-Sperrklausel des § 2 Abs. 6 EuWG (2 BvE 1/04), in dem die diesbezügliche Organklage der NPD wegen Nichteinhaltung der Frist des § 64 Abs. 3 Bundesverfassungsgerichtsgesetz als unzulässig verworfen worden ist, auf die Änderung des Direktwahlakts hingewiesen und hierzu ausgeführt, dass der Gesetzgeber mit dem am 21. August 2003 verkündeten Vierten Gesetz zur Änderung des Europawahlgesetzes und des Neunzehnten Gesetzes zur Änderung des Europaabgeordnetengesetzes zum Ausdruck gebracht hat, dass er an der Fünf-Prozent-Sperrklausel festhalten möchte. Er hat sich dabei – so das Bundesverfassungsgericht – auf die Ermächtigung der Mitgliedstaaten im Beschluss des Rates der Europäischen Union stützen können, eine Sperrklausel zu erlassen. Der Rat der Europäischen Union hat nach Zustimmung des Europäischen Parlaments mit Beschluss vom 25. Juni und 23. September 2002 (BGBl. 2003 II S. 811) den Direktwahlakt geändert, damit die Wahlen zum Europäischen Parlament „gemäß den allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Grundsätzen stattfinden können, die Mitgliedstaaten zugleich aber die Möglichkeit erhalten, für Aspekte, die nicht durch diesen Beschluss geregelt sind, ihre jeweiligen nationalen Vorschriften anzuwenden“. Dieser Änderung des Direktwahlakts hat der deutsche Gesetzgeber mit Artikel 1 des Zweiten Gesetzes über die Zustimmung zur Änderung des Direktwahlakts vom 15. August 2003 (BGBl. II S. 810) zugestimmt. 35
Zwar kann aus dieser erstmalig verankerten ausdrücklichen Ermächtigung zum Erlass einer Fünf-Prozent-Sperrklausel durch den Direktwahlakt nicht unmittelbar die Verfassungsmäßigkeit einer solchen Sperrklausel nach dem deutschen Verfassungsrecht abgeleitet werden. Sie ist jedoch als starkes Indiz dafür anzusehen, dass § 2 Abs. 6 EuWG – wie auch schon bisher – nicht gegen das Grundgesetz verstößt. Auch nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verstößt die Fünf-Prozent-Sperrklausel nicht gegen die Verfassung (BVerfGE 51, 222 <233 ff.>; BVerfGE 95, 335 <366>). Die Grundzüge dieser Rechtsprechung werden in der Stellungnahme des Bundeswahlleiters dargelegt. 36
Soweit der Einspruchsführer einen Verstoß gegen den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit wegen des unterschiedlichen Erfolgswertes der Stimmen derjenigen Wählerinnen und Wähler, die eine Partei gewählt haben, die die Fünf-Prozent-Sperrklausel überwunden hat, und derjenigen Wählerinnen und Wähler, die eine Partei gewählt haben, die an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert ist, geltend macht, so greift dieser Einwand nicht durch. Wie in der vom Bundeswahlleiter in seiner Stellungnahme zitierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dargelegt wird, ist die Fünf-Prozent-Sperrklausel gemäß § 2 Abs. 6 EuWG durch das Ziel gerechtfertigt, einer übermäßigen Parteienzersplitterung im Europäischen Parlament entgegenzuwirken. Eine Abwägung des Postulats der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung mit den Geboten des grundsätzlich gleichen Erfolgswertes aller Wählerstimmen sowie der gleichen Wettbewerbschancen der politischen Parteien im Rahmen der Verhältniswahl [BT-Drucks. 15/4750, 83 (88)] ergibt die Zulässigkeit dieser begrenzten Differenzierung des Erfolgswertes der Wählerstimmen. 37
Soweit der Einspruchsführer die Praxis der Fraktionsbildung im Europäischen Parlament aus seiner Sicht darstellt und bezüglich der wahlrechtlichen Auswirkungen der Fünf-Prozent-Sperrklausel Beispiele aus der Vergangenheit anführt, so kann hierdurch nicht widerlegt werden, dass die Fünf-Prozent-Sperrklausel generell ein geeignetes und wirksames Mittel ist, um einer Zersplitterung des Europäischen Parlaments entgegenzuwirken. Hierbei liegt es in der Natur der Sache, dass vereinzelt auch gegenläufige Effekte auftreten können, solange kein einheitliches Wahlrecht in allen Mitgliedstaaten gilt. So mag es zutreffen, dass es einem einzelnen Abgeordneten, der aus einem kleinen Mitgliedstaat als einziges Mitglied einer bestimmten Liste in das Europäischen Parlament gewählt worden ist, des Öfteren gelingt, Mitglied einer Fraktion im Europäischen Parlament zu werden. Dieser Umstand lässt aber keine Schlussfolgerung des Inhalts zu, dass eine Fünf-Prozent-Sperrklausel in einem größeren Mitgliedstaat wie der Bundesrepublik Deutschland nicht zu einer einfacheren Fraktionsbildung im Europäischen Parlament beitragen könnte. Das Verhältniswahlrecht birgt von vornherein die Gefahr einer Parteienzersplitterung in sich. Wie vom Bundeswahlleiter dargelegt, tragen Sperrklauseln in den einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union und ähnlich wirkende Mechanismen der Wahlsysteme auf jeden Fall dazu bei, einer noch weitergehenden Zersplitterung des Europäischen Parlaments vorzubeugen. 38
Der Einspruchsführer kann auch nicht mit Erfolg geltend machen, nach der Erhöhung des deutschen Kontingents auf 99 Sitze hätte die Sperrklausel vom Gesetzgeber niedriger angesetzt werden müssen. Dieses Argument ist schon deshalb nicht plausibel, weil diese Erhöhung u. a. eine Folge der deutschen Einheit war und die 99 Sitze eine zahlenmäßig wesentlich größer gewordene Bevölkerung repräsentiert, wenngleich die seinerzeitige Erhöhung der Zahl der Sitze nicht proportional zum vereinigungsbedingten Anstieg der Bevölkerungszahl in Deutschland erfolgt ist (vgl. Schreiber, NVwZ 2004, 21 <24>). In diesem Zusammenhang versucht der Einspruchsführer zu Unrecht, aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Mai 1979 abzuleiten, dass die Sperrklausel nach dessen Auffassung stets so wirken müsse, dass ein Wahlvorschlag mit weniger als fünf gewählten Abgeordneten unabhängig von der gesamten Sitzzahl im Europäischen Parlament oder von anderen Faktoren nicht berücksichtigt werden solle. 39
Die Verfassungswidrigkeit der Fünf-Prozent-Sperrklausel kann auch nicht mit dem Argument geltend gemacht werden, dem Gesetzgeber stehe ein milderes Mittel als die Fünf-Prozent-Sperrklausel zur Verfügung, um das Ziel, einer übermäßigen Parteienzersplitterung im Europäischen Parlament entgegenzuwirken, zu erreichen. Es bedarf hier keiner näheren Erörterung, ob dieses Ziel möglicherweise mit strengeren Voraussetzungen für eine Kandidatur erreicht werden könnte oder ob es sinnvoll sein könnte, den Wählerinnen und Wählern Folgepräferenzen für den Fall einzuräumen, dass der von ihnen gewählte Wahlvorschlag nicht genügend Stimmen bekäme. Denn es gehört zum Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, das vom Direktwahlakt vorgegebene Verhältniswahlsystem in einer mehr oder weniger starken Anlehnung an das Bundeswahlgesetz auszugestalten. 40
Schließlich spricht auch nicht die seit 1979 erfolgte stärkere Integration der europäischen Parteien gegen eine Fünf-Prozent-Sperrklausel. Hierbei mag dahinstehen, ob der Integrationsprozess vom Einspruchsführer zutreffend beschrieben worden ist. Aufgrund des national ausgestalteten Wahlrechts treten jedenfalls nach wie vor nationale Parteien und sonstige politische Vereinigungen zu den Europawahlen an. Der Bundeswahlleiter weist in diesem Zusammenhang zu Recht auf einen Kompetenzgewinn des Europäischen Parlaments im Zuge des europäischen Integrationsprozesses hin. Dessen Arbeitsfähigkeit muss durch die Sicherung mehrheitsfähiger Strukturen in größerem Umfang als bisher gewährleistet werden. Insoweit spricht der europäische Integrationsprozess zusätzlich für eine Differenzierung des Erfolgswertes der Wählerstimmen, wie dies zwischenzeitlich in Artikel 3 Direktwahlakt ausdrücklich als Möglichkeit der Mitgliedstaaten verankert ist. 41
Soweit sich der Einspruchsführer gegen das in § 2 Abs. 3 EuWG verankerte Berechnungsverfahren für die Sitzverteilung (Hare/Niemeyer) wendet, so liegt darin kein Verstoß gegen die Verfassung. Es verstößt insbesondere nicht gegen die Wahlrechtsgleichheit nach § 1 Abs. 1 Satz 2 EuWG i. V. m. Artikel 38 Abs. 1 Grundgesetz (GG). Der Deutsche Bundestag hat sich in der Vergangenheit wiederholt mit der Frage des verfassungsrechtlich richtigen Berechnungsverfahrens befasst (Bundestagsdrucksache 14/1560, Anlage 67; Bundestagsdrucksache 15/1850, Anlage 5). Hierbei ist ebenso wie in der Stellungnahme des Bundeswahlleiters herausgestellt worden, dass die Auswahl des Berechnungsverfahrens im Ermessen des Gesetzgebers liegt (BVerfGE 79, 169 <171>). Durch keines der drei üblichen Berechnungsverfahren (Hare/Niemeyer, Sainte-Laguë/Schepers, d’Hondt) können mathematisch exakt die Stimmenverhältnisse auf die Verteilung der Sitze der deutschen Abgeordneten des Europäischen Parlaments übertragen werden. Hierbei sind jeweils gewisse Abstriche bei der Erfolgswertgleichheit aller Stimmen hinzunehmen. 42
Hiervon zu trennen ist die nicht auf der verfassungsrechtlichen Ebene angesiedelte Frage, ob angesichts bestimmter Effekte das Verfahren Hare/Niemeyer durch dasjenige nach Sainte-Laguë/Schepers ersetzt werden sollte. Der hierzu vom Bundesministerium des Innern vorgelegte Bericht vom 8. September 1999 ist Gegenstand parlamentarischer Beratungen. Diese Frage bedarf aber keiner Behandlung in einem Wahlprüfungsverfahren. Die Wahlprüfung ist nämlich allein auf die Feststellung von Wahlfehlern und deren Relevanz für die Verteilung der Mandate bei der Europawahl 2004 beschränkt. 43
Der Einspruch ist somit als offensichtlich unbegründet im Sinne des § 26 Abs. 2 EuWG in Verbindung mit § 6 Abs. 1a Nr. 3 WPrüfG zurückzuweisen. 44

 


Matthias Cantow