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06.07.2012
Sechs Monate nach dem Inkrafttreten des geänderten Bundeswahlgesetzes, ein Jahr nach Verstreichen der Änderungsfrist durch das Bundesverfassungsgericht und vier Jahre nach der Wahlprüfungsentscheidung zu negativem Stimmgewicht verhandelte das Bundesverfassungsgericht am 5. Juni 2012 mündlich die von Mehr Demokratie e. V. und Wahlrecht.de unterstützte Verfassungsbeschwerde von mehreren tausend Bürgern („Bürgerklage“ – 2 BvR 2670/11), ein Normenkontrollverfahren aller Mitglieder der Bundestagsfraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen (2 BvF 3/11) und ein Organstreitverfahren der Partei Bündnis 90/Die Grünen (2 BvE 9/11). Nachdem die letzte Fassung des Wahlgesetzes mit diskussionsvermeidenden Tricks durch den Bundestag gejagt wurde und im Gegensatz zum Auftrag des Bundesverfassungsgerichts – über negatives Stimmgewicht bis Normenklarheit – die Situation nur verschlimmert wurde, fand damit die erste Diskussion über das neue Wahlrecht statt.
Erschienen waren u. a. fürdie Bürgerkläger: | Prof. Matthias Rossi (als Bevollmächtigter), von den Beschwerdeführern u. a.: Michael Efler und Anne Dänner (Mehr Demokratie e.V.), Matthias Cantow, Martin Fehndrich und Wilko Zicht (alle drei von Wahlrecht.de) |
die Normenkläger: | Prof. Hans Meyer (als Bevollmächtigter), Thomas Oppermann, Dieter Wiefelspütz, Brigitte Zypries, Michael Hartmann (alle SPD), Volker Beck (Bündnis 90/Die Grünen) |
die Organklägerin: | Prof. Ute Sacksofsky (als Bevollmächtigte), Steffi Lemke (Bundesgeschäftsführerin Bündnis 90/Die Grünen) |
den Bundestag: | Prof. Bernd Grzeszick und Prof. Frank Schorkopf (beide Bevollmächtigte), die MdB Günter Krings, Franz Josef Jung, Wolfgang Götzer (alle CDU/CSU), Stefan Ruppert, Christian Ahrendt (beide FDP) |
die Bundesregierung: | Prof. Heinrich Lang (als Bevollmächtigter), Hans-Heinrich von Knobloch (Bundesministerium des Innern) |
und als sachverständige Auskunftspersonen: |
Prof. Joachim Behnke (Universität Friedrichshafen), Prof. Christian Hesse (Universität Stuttgart) und Prof. Friedrich Pukelsheim (Universität Augsburg) |
Wie die lange Liste der hier nur zum Teil aufgeführten Anwesenden zeigt, erreichte die Verhandlung von Seiten des Bundestags und der Bundesregierung aber auch von den Medien – im Gegensatz zur Verhandlung vor vier Jahren – eine viel größere Beachtung, so war der Verhandlungssaal im zurzeit vom Bundesverfassungsgericht genutzten Amtssitz „Waldstadt“ bis zum letzten Platz reserviert (die wenigen „freien“ Besucherplätze waren bereits zehn Minuten nach dem Versand der Pressemitteilung des Gerichts vergeben). Für die „Bürgerkläger“ saßen Prof. Rossi und Wilko Zicht in der ersten Reihe vor der Richterbank, die anderen saßen in der vierten Reihe, was die Kommunikation untereinander erschwerte. Im Publikum war auch der ehemalige Vorsitzende Richter des Zweiten Senats Prof. Ernst Gottfried Mahrenholz und als Bürgerklägerin die linke Bundestagsabgeordnete Halina Wawzyniak. Beginn der Verhandlung war um 10 Uhr, auch unter Berücksichtigung der einstündigen Mittagspause dauerte sie sehr lange und ging bis 18:40 Uhr.
Die Verhandlung begann mit der einleitenden Erläuterung des Sachverhalts noch vor der Feststellung der anwesenden Personen – und damit vor der Beendigung der Film- und Tonaufnahmen. So konnten dann auch die Medien im Originalton berichten, wie der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Andreas Voßkuhle, zu Beginn „in aller Deutlichkeit“ kritisierte, dass es der Politik nicht gelungen ist, innerhalb der drei Jahre rechtzeitig – und „möglichst einverständlich“ – eine neues Wahlgesetz vorzulegen. Er stellte zudem fest – was leider nicht mehr in der Tagesschau zu sehen war – dass dies beileibe keine Herkulesaufgabe gewesen sei.
In ihren einleitenden Stellungnahmen bat Thomas Oppermann um klare, umsetzbare Vorgaben des Gerichts und Volker Beck ergänzte dies mit einer Bitte nach einem Wahlrecht, das nicht zu einer strategischen Kandidatur in Blöcken zwinge. Steffi Lemke brachte für das derzeitige Wahlrecht das Bild eines Roulettetisches, der durch die „Reform” nur schiefgestellt wurde und fragte, wie man dieses Wahlrecht in der Schule im Unterricht erklären solle.
Michael Efler verwies auf die Wechselspielchen der Parteien, die in der Opposition jammerten und an der Regierung alles beim Alten beließen, und verwies dabei auf Volker Kauder, der für die CDU im Jahr 2005 Überhangmandate noch für verfassungsrechtlich bedenklich und aus demokratischer Sicht für keineswegs wünschenswert hielt und auf die rot-grüne Koalition im 14. Bundestag (1998–2002), die die Regelung hätte ändern können, aber einen Gesetzesvorschlag scheitern ließ. Desweiteren rechnete er das Standardbeispiel für negatives Stimmgewicht – die Nachwahl 2005 in Dresden – mit dem neuen Wahlgesetz vor. Demnach hätte die CDU mit dem neuem Wahlrecht dann einen Sitz mehr erhalten, wenn bei der Nachwahl in Dresden 5.000 CDU-Wähler weniger zur Wahl gegangen wären.
Günter Krings wiederholte seine (mathematisch falsche) Lieblingsaussage, durch die Aufhebung der bundesweiten Listenverbindungen würde der Effekt des „negativen Stimmgewichts” beseitigt, brachte aber auch sein Unbehagen gegenüber Ausgleichsmandaten zum Ausdruck, und fand konkret die unveränderte Fraktionsgröße der CDU im nordrhein-westfälischen Landtag angesichts des schmerzhaften Stimmeneinbußen bei der Landtagswahl nicht angemessen. Er behauptete sogar die Union profitiere nicht vom neuen Wahlrecht und begründete dies mit einem Vergleich der Sitzzahl der letzten Bundestagswahl nach neuem und alten Wahlrecht begründete, nach der die Koalition nunmehr zwei Sitze weniger hätte (tatsächlich hätte sie mit 334 statt 332 zwei Sitze mehr). Darüberhinaus ist das ebenso kritisierte alte verfassungswidrige Wahlrecht ein wenig geeigneter Maßstab.
Nachdem zur Zulässigkeit der Klagen kein Erörterungsbedarf gesehen wurde, – ein positives Zeichen – ging es beim Prüfungsmaßstab um die Wahlrechtsgrundsätze aus Art. 38 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 1 GG, an denen die umstrittenen Regelungen zu prüfen sind, und die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte.
Professor Meyer vertrat die Meinung, beim Wahlgesetz, bei dem der Gesetzgeber bzw. dessen Mehrheit, ein eigenes Interesse habe, sei die Kontrolldichte besonders hoch anzusetzen. Von der Bundestagsseite wurde dagegen nur eine besonders niedrige Kontrolldichte als erforderlich angesehen.
Von den Richtern kam dabei u. a. die Frage, ob eine pauschale Zuteilung von Zusatzsitzen für die stärkste Partei (also 50–70 Stück, wie in Italien oder Griechenland) in Deutschland verfassungsgemäß wäre.
Bei "D. Subsumtion" wurden einzelne Punkte/Eigenschaften des Wahlrechts abgearbeitet, wobei die Reihenfolge sich an der steigenden verfassungsrechtlichen Bedenklichkeit zu orientieren scheint.
Gemeint ist hier keine feste Sitzkontingentierung (wegen der Abhängigkeit der Wählerzahl vom Wahlergebnis), sondern eine Umgewichtung der Stimmen. Ungültige Stimmen und Stimmen an Parteien, die an der Sperrklausel gescheitert sind, werden den Bundestagsparteien im jeweiligen Bundesland zugeschlagen.
Die Nachteile dieses Konzepts: Es wirkt als Sperrhürde für kleine Landeslisten („natürliches Quorum“), es reduziert die Gleichheit wegen kumulierter Rundungsfehler und natürlich die Umgewichtung der Stimmen als solche.
Da ich mir zu Punkt I keine Notizen gemacht habe, wird die Gegenseite wohl wie erwartet argumentiert haben, dass diese nachteiligen Effekte nicht besonders schlimm seien, durch den Absatz 2a abgemildert würden und dadurch das negative Stimmgewicht beseitigt würde.
Mit der Zusatzsitzverteilung im neuen Absatz 2a wurde dann die erste „Sollbruchstelle“ (so Prof. Rossi) verhandelt. Prof. Meyer bezeichnete sie als das liederlichste Stück Wahlrecht, das ihm je untergekommen ist. Wilko Zicht merkte an, dass man die merkwürdige Berechnung durch eine pauschale Zuteilung von zwei Sitzen je Partei, die mit Überhängen verrechnet werden könnten, ersetzen könnte, was ähnlich sinnlos, aber wenigstens leichter verständlich wäre.
Zu den Zusatzsitzen gab es einige kritische Fragen von der Richterbank. Zum neuen Nachrücken in den Überhang; warum nur die positiven, nicht die negativen „Reststimmen“ berücksichtigt würden; ob die Berücksichtigung der großen, schon erfolgreichen Landeslisten nicht über das Ziel hinaus schießen würde; ob es Berechnungen dazu zur Erfolgswertgleichheit gäbe und die „Korrektur“ nicht zu immer neuen Abweichungen führen würde, die eine iterative unendliche Anwendung des Paragraphen erfordern würde; wie die „zweite oder doppelte Chance“ auf einen Sitz zur Erfolgswertgleichheit stehe.
Heiterkeit im Gerichtszahl entstand, als Richterin Prof. Gertrude Lübbe-Wolff die Formulierung einer Frage zu Satz 2 der Überhangverrechnung in Abs. 2a, wegen eines Lachanfalls unterbrechen musste.
Hier gab es die Mittagspause, danach starteten die Sachverständigen. Zuerst der Gutachter für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Prof. Hesse. Er bezweifelte den Überschlagswert von zwei Zusatzsitzen pro Partei und rechnete die verrechneten Überhang/Zusatzsitze nicht als Zusatzsitze (im Gegensatz zu Prof. Lang, der dann später die verrechneten Überhang/Zusatzmandate auch nicht als Überhangmandate sah. D.h. eine ganze Kategorie nichtproportionaler Zusatzsitze wurde in der Verhandlung gar nicht behandelt.)
Prof. Pukelsheim nahm dann den Paragraphen nach allen Regeln der Kunst auseinander und charakterisierte den Text als „Bandwurmsatz mit Wurmfortsatz“ und die Zusatzsitze als „wählerfreie Sitze“. Er versuchte mehrere Interpretationen des Textes und rechnete schließlich am Beispiel der 16 Richter des Bundesverfassungsgerichts den Erwartungswert von zwei Zusatzsitzen pro Partei vor. Am Ende warnte er vor Scheinregelungen im Wahlrecht, die ein Ziel vorgeben, aber nicht erreichen können. Wir glauben, dass der Abs. 2a explizit gekippt wird, also nicht nur implizit mit dem Gesetz.
Die Paragrafen, die zu Überhangmandaten führen, haben wir nicht nur wegen der dadurch verursachten negativen Stimmgewichte, sondern auch wegen der Überhangmandate an sich kritisiert. Einen wichtigen Aspekt beschrieb Volker Beck direkt in seiner einleitenden Stellungnahme. Das Wahlsystem zwinge zu einer strategisch abgesprochenen Kandidatur mehrerer Parteien mit dem Ziel mehr Überhangmandate des eigenen Lagers und weniger des anderen Lagers. Dies zwinge Parteien in konforme Blöcke und Wähler solche Blöcke zu wählen und reduziere die Freiheit der Parteien und Abgeordneten auszuscheren und außerhalb dieser Blöcke abzustimmen. Meyer stellte fest, dass die Listenwahl so ihren Sinn verliere und der Manipulation Tür und Tor geöffnet sei. Er verglich Überhangmandate mit Boni für Bänker. Der Unterschied sei: Banker erhielten Boni trotz eines schlechten Ergebnisses, Überhangmandate erhielte man wegen eines schlechten Ergebnisses.
Gestritten wurde dann auch über die Frage, ob das Wahlsystem ein Verhältniswahlsystem oder ein Mischsystem sei, und ob das gesetzlich festgelegte Wahlsystem „materielles Verfassungsrecht“ schaffe.
Pukelsheim sah in dem Mischsystem die „gegenseitige Relativierung der Systembereiche“ (Mehrheits- und Verhältniswahl) als problematisch an und verwies auf die strengen Kriterien für die Wahlkreisgröße in Mehrheitwahlsystemen anderer Länder (USA, UK).
Prof. Behnke stellte fest, dass – nachdem lange über das Problem von 30.000 möglicherweise wertlosen Zweitstimmen der FDP-Wähler in Bremen diskutiert worden sei – in Baden-Württemberg 2. Mio. Wähler vorhersehbar eine wertlose Zweistimme hätten, nämlich die der CDU. Dort seien Überhangmandate praktisch sicher vorhersagbar und damit die Wirkungslosigkeit von CDU-Zweitstimmen. Man könne auch zeigen, dass wegen der Wirkungslosigkeit der Stimmen CDU-Anhänger der FDP die Zweitstimmen gäben (was ein anderer Grund als eine Stütz-/Leihstimme ist). Zur Vorhersehbarkeit bot er Krings eine Wette um ein Monatsgehalt an, dass die FDP nicht mehr Überhangmandate bekomme als die CDU und dass er einen Gewinn der Wette als sichere Einnahme versteuern müsse.
Die Richter fragten nach der Möglichkeit einer personalisierten Verhältniswahl ohne Mehrheitswahl (was indirekt auf offene Listen oder Mehrmandatswahlkreise deutet), nach der Zahl „systemverträglicher“ Überhangmandate und nachdem Lang das Wort „Funktionsstörung“ aussprach, nach der gestörten Funktion und wie der Gesetzgeber die Aufgabe erfüllt habe diese zu regeln.
Auf die Frage von Voßkuhle, ob denn eine personalisierte Verhältniswahl auch ohne Mehrheitswahlkomponente denkbar sei, hat Prof. Lang mit „Nein“ geantwortet. Daraufhin hat sich Wilko Zicht zu Wort gemeldet und darauf hingewiesen, dass innerhalb eines Verhältniswahlsystems sogar noch sehr viel stärker personalisierende Elemente denkbar seien als es die Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen darstellt. Deshalb sei auch nicht einzusehen, warum die Mehrheitswahl in der ständigen Rechtsprechung einen Sonderstatus genieße und dem Gesetzgeber erlaube, beliebig von der Erfolgswertgleichheit abzuweichen. Er appelierte an die Richter, diese Rechtsprechnung aufzugeben und endlich aus der Wahlrechtsgleichheit in Artikel 38 GG einen einheitlichen Maßstab abzuleiten. Und wenn das nicht auf die bloße Chancengleichheit hinauslaufen soll, am Ende von einem ungerechten Ergebnis zu profitieren (wie die Mehrheitsprämie in Italien/Griechenland), kann dieser Maßstab nur die Erfolgswertgleichheit sein.
Richter Prof. Herbert Landau fragte, ob und wie eine Regelung dazu (also Deckelung der Überhangmandate) in den Verhandlungen dazu thematisiert worden sei. Stefan Ruppert zählte mehrere Abfederansätze auf (Teilausgleich, Ausgleich nur von Überhang über einer bestimmten Schwelle), die aber verworfen worden seien. Krings räumte dann sogar eine aufgetretene „Funktionsstörung“ durch Überhangmandate ein, auch wenn diese mit den mehrheitserhaltenden Überhangmandaten der SPD unter Gerhardt Schröder 2001 (vgl. Überhangkanzler) bei den anderen aufgetreten sei.
Beim Thema negatives Stimmgewicht brachte Prof. Sacksofsky die unterschiedlichen Sichtweisen auf den Punkt. Die Gegenseite rechne mit einer Neudefinition das negative Stimmgewicht klein. Prof. Rossi wies darauf hin, dass die Zusatzstimmen in der Konsequenz dieser Definition nur von den ungültigen Stimmen kommen könnten, also nur den unwahrscheinlicheren Fall beträfen, während der wahrscheinlichere außer Acht gelassen würde.
Die Vertreter der Gegenseite versuchten ihre Sichtweise u.a. damit zu verteidigen, dass nicht abgegebenen Stimmen keine Wahlentscheidung zukäme und die gewählte Definition genau die des Bundesverfassungsgerichts sei. Unsere Beispiele seien seltene Fallgestaltungen (bikausal, multikausal), die man nicht beachten müsse und eine Beseitigung des negativen Stimmgewichts nach unserer umfassenderen Definition nicht möglich sei. Uns wird hier „Uminterpretation“ vorgeworfen.
Das ist falsch. Negatives Stimmgewicht lässt sich sehr wohl in der vollständigen Sichtweise und ohne Vergeblichkeitseffekt1 (für die FDP Bremen) und Steinbrucheffekt2 (für die CDU Bremen oder Brandenburg) beseitigen. Hier gab es dann einige kritische Fragen der Richter (des Berichterstatters Prof. Michael Gerhardt) zu der Beschreibung „bikausal“ und den Werten der Tabelle 13 im Gutachten Hesse und ob die Auftretenswahrscheinlichkeit nicht in Wahrheit unverändert hoch wie beim vorherigen Wahlsystem sei.
Weitere Fragen gab es zu der „eingeengten“ Definition und dem Wählerbezug der Sichtweisen. Der Gutachter Prof. Hesse sah in BVerfGE 121, 266 eine „exakte Definiton“ von negativem Stimmgewicht (was zum Glück auch zu Erstaunen auf der Richterbank führte), und kam zu der erstaunlichen Aussage, negatives Stimmgewicht durch nur einen Wähler sei unwahrscheinlich und daher unbeachtlich. Er ging (ungefragt) auf Kritiken an den BMI/BSI-Rechnungen ein (so wie hier, hier und hier), dort würde der Gültigkeitsbereich überschritten, und rechtfertigte dies mit den wenigen gefundenen Fällen von negativem Stimmgewicht in dem zuerst untersuchten Bereich (unsere Kritik richtete sich nicht gegen das Vorgehen, sondern dass auf die Überschreitung nicht hingewiesen wurde, wenigstens nicht in den wenigen öffentlich vorliegenden Dokumenten). Indirekt bestätigte er so das starke Einengen des Ausgangsbereiches durch die beschränkte Definition.
Beim Verweis Hesses auf die reduzierte Vorhersehbarkeit und Ausnutzbarkeit des Effektes wurde deutlich, dass die Richter schon in der reinen Ex-post-Betrachtung ein massives Problem sehen. Dies ersparte mir (Martin Fehndrich) dann auf die gar nicht so kleine Vorhersehbarkeiten und Ausnutzbarkeit des negativen Stimmgewichts im neuen Wahlgesetz ausführlicher einzugehen. Ich verwies darauf, dass ich schon immer negatives Stimmgewicht in der umfassenderen Sichtweise bemängelt habe und ich über die verengte Interpretation sehr erstaunt bin, da das Gericht damals meine Formulierungen weitgehend übernommen hat und der Vorwurf der „Umdefinition“ sich so absurderweise auf meine eigene Darstellungen bezöge und verwies auf Formulierungen explizit im Sinne der bestritten erweiterten Definition im alten Verfahren („Nichtwähler“ in BVerfGE 121, 266 <Rz 48>). Ich setzte mono- und bikausal gleich, weil man als Wähler gleichermaßen zu Hause bleiben oder einen Stimmzettel ungültig machen kann und erklärte, dass die Ceteris-paribus-Bedingung nicht für Quellen des Zweitstimmenzuwachses gelten kann (und Quellen sind sowohl Ungültig-, als auch Nichtwähler), sonst könne man auch mit einem Konstanthalten aller Zweitstimmen negatives Stimmgewicht per Definition völlig unmöglich machen (aber auch jedes andere Wahlergebnis). Bei der Nachwahl in Dresden 2005 (dem Standardbeispiel für negatives Stimmgewicht) sei es so gelungen, negatives Stimmgewicht rückwirkend zu beseitigen, denn der nötige Stimmenzuwachs von ca. 3.500 Zweitstimmen der CDU könne nur von den 1.888 ungültigen Stimmen kommen (bzw. gerade nicht). Die Nachwahl in Dresden 2005 ist also kein negatives Stimmgewicht im Sinne der Definition des Bundestages.
Da Beck sich darüber beklagt hatte, ihm seien Berechnungen zum neuen Wahlrecht nicht ausgehändigt worden und sogar deren Existenz sei geleugnet worden (BT-Drs. 17/6773 S.6), erklärte Ministerialdirektor von Knobloch aus dem Innenministerium darauf hin, dass die Berechnungen aufgrund des Entwurfs erst nach Becks Anfrage durchgeführt wurden (das hörte sich nach sehr spezifischem Dementi an, also keine Aussage zu anderen Berechnungen zum Wahlrecht) und das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) diese wegen der dort vorhandenen Rechenkapazitäten als Dienstleistung für den Bundestag durchgeführt habe.
Wir finden es im Übrigen ziemlich intransparent, dass diese Berechnungen nicht öffentlich verfügbar sind – und anscheinend noch nicht einmal parlamentsöffentlich. Dies gilt sowohl für die Berechnungen, auf die sich Prof. Hesse in seinem Gutachten für die CDU/CSU stützt, als auch für andere in der Presse erwähnten Berechnungen [Der Spiegel 27/2012]. Die im Innenausschuss am 22. September 2012 vorgelegte Berechnung ist auch nur durch Wahlrecht.de öffentlich.
Dann kamen die Schlussworte. Einen neuen Aspekt brachte unser Vertreter Prof. Rossi, der das Gericht nicht nur um eine Übergangslösung bat, sondern auch auf die Probleme einer Wahlprüfung nach einer Wahl unter einem solchen Notwahlsystem hinwies.
Die Verhandlung endete gegen 18:40 Uhr.
Beim negativen Stimmgewicht sehen wir die Versuche der Bundestagsseite, dieses als reduziert, multikausal oder konstruiert anzusehen gescheitert. Auch der Versuch den Effekt, durch eine Umdefinition von „Stimmenzuwachs“ kleinzurechnen, dürfte eher nach hinten losgegangen sein. Da selbst der Vorhersehbarkeitsaspekt von den Richtern als nachrangig eingeordnet wurde, können wir uns nicht vorstellen, dass das Gericht von seiner ablehnenden Haltung zum negativen Stimmgewicht abrückt.
In Sachen Absatz 2a (Zusatzmandate für „Reststimmen“) erscheint es angesichts der deutlichen Kritik mehrerer Richter kaum denkbar, dass diese Regelung das Urteil überleben wird.
Einzig bei den Überhangmandaten sehen wir Probleme, da diese im Gegensatz zum negativen Stimmgewicht nicht einfach herausgerechnet werden können und wir hier keine Einigkeit im Senat erwarten. Die Notwendigkeit eines verfassungsgemäßen Wahlgesetzes verwehrt dem Gericht praktisch auch die Möglichkeit, das Thema Überhangmandate auszuklammern und das Gesetz nur am negativen Stimmgewicht scheitern zu lassen.
Dies macht auch eine Einschätzung des Entscheidungstermins schwierig (Urteilsverkündung ist am 25. Juli 2012). Der näherrückende Wahltermin spricht für einen früheren Termin, Differenzen im Senat, die Formulierung möglicher Minderheitenvoten, aber auch die Notwendigkeit einer konstruktiven Darstellung eines Wahlgesetzes sprechen für eine gewisse Mindestdauer um das Urteil zu formulieren.
Da sich der Gesetzgeber als unwillig oder unfähig erwiesen hat, ein verfassungsgemäßes Wahlgesetz zu erlassen, wird das Bundesverfassungsgericht entweder eine Übergangslösung einsetzen oder auf verfassungsgemäße Wege in für Bundestagsabgeordnete verständlicher Sprache hinweisen (oder beides, um einem Notwahlrecht den Charakter einer politischen Richtungsentscheidung zu nehmen). Die Möglichkeiten hängen auch davon ab, was im Detail als verfassungswidrig gesehen wird. Sollte das Gericht eine Verfassungswidrigkeit der Überhangmandate erkennen, wird es nicht umhin kommen entweder Direktmandate zur Disposition zu stellen, oder aber Ausgleichsmandate vorzusehen. Beim Nichtzuteilen von überhängenden Direktmandaten (1.1) muss man noch entscheiden, in welchen Wahlkreisen der Stimmenstärkste das Mandat erhält und in welchen nicht. Diese Entscheidung kann man aber auch dem Gesetzgeber überlassen. Denkbar wäre dabei, erst nach einer internen Kompensation wie im Gesetzentwurf der Grünen zu streichen (1.1.1) oder schon landesinterne Überhangmandate nicht zuzuteilen und so den Proporz der Landeslisten hochzuhalten (1.1.2). Denkbar als Notwahlrecht wäre auch ein Aussetzen des ganzen Mehrheitswahlelements solange ein sachgerechtes Zusammenwirken der Teilelemente nicht sichergestellt ist (1.1.3). Nicht minimalinvasiv, aber unangenehm genug, um einen massiven Einigungsdruck zu erzeugen.
Bei der Zulassung von Ausgleichsmandaten (1.2) besteht das Problem, dass auch beim Entwurf der SPD (1.2.1) negatives Stimmgewicht auftreten kann. Allerdings kann man den Ausgleich auch erst nach einer Beseitigung negativer Stimmgewichte wirken lassen (1.2.2), wie z.B. im Ansatz von Peifer-Pukelsheim (direktmandatsorientierte Divisormethode). Auch Mischsysteme sind denkbar, z.B. die parteiinterne Kompensation und nur ein Ausgleich externer Überhangmandate wie im Gesetzentwurf der Linken (1.2.3).
Auch andere Misch- oder Teillösungen sind denkbar (Teilausgleich, Garantiedivisor oder nur interne Kompensation). Die Möglichkeit, durch Mehrmandatswahlkreise Proporz auf allen Ebenen und gleichzeitig zu einem besseren Personenwahlelement zu kommen (1.3), erscheint zumindest für die Wahl 2013 nicht mehr machbar.
Sollte das Gericht nur das negative Stimmgewicht bemängeln, sollte es ausreichen, auch nur dieses herauszurechnen (2.1). Auch hier sind weitergehende über das minimale hinausgehende Lösungen denkbar: interne Kompensation (2.2.) oder gleich eine Bundesliste, Ländertrennung (2.3) (wie 1953, auch wenn dies die von uns beklagte unterschiedliche Gewichtung der Stimmen in den Ländern deutlich verschärfen würde) - evtl. ergänzt durch einen korrigierten Absatz 2a (dessen Konzept wir aber nach der Verhandlung als unrettbar gescheitert sehen), ein Graben- oder Mehrheitswahlrecht (2.4), eine Verrechnung zulasten der nicht überhängenden Parteien wie in Schottland und Wales oder auch das Aussetzen der Wahl in Wahlkreisen (1.1.3).
Keine Beseitigung (oder Reduzierung) des negativen Stimmgewichts erhielte man dagegen bei Behalten des Bundeswahlgesetzes von 2011 (oder einer Version davor) (3.1), nur dem Streichen des Absatzes 2a (3.2), oder nur dem Streichen der Listenverbindung (3.3), die trotz Wirkungslosigkeit der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Krings in der Verhandlung wiederholt als Lösung hochgehalten hatte.
Nicht zu vergessen negatives Stimmgewicht durch Listenerschöpfung und die neuformulierte Mehrheitsklausel. Hier kann man auf Lösungswege und Formulierungen aus unserer Verfassungsbeschwerde zurückgreifen.
Mit diesen Lösungen wird sich der Bundestag in der nächsten Jahreshälfte, dann 1 ½ Jahre nach Ende der Frist, beschäftigen müssen.
Wir hoffen, daß sich alle Bundestagsfraktionen dann endlich zu einer gemeinsamen und sachgerechten Lösung durchringen können.
1 Vergeblichkeitseffekt bezeichnet den Effekt, dass die Wahl einer Liste oder Partei, deren Stimmenanteil eine Sperrhürde aller Voraussicht nach nicht überschreiten wird, zu keinem Mandatsgewinn führen würde. Somit gibt es für die Wähler keinen Anreiz mehr, diese Partei/Liste zu wählen. Konkret betroffen ist die FDP im kleinen Bundesland Bremen, wenn ein Ergebnis wie 2009 nicht wiederholt werden kann und die Partei hier unter der faktischen Hürde für einen Sitz liegt. Der Effekt soll im Bundeswahlgesetz (mit Stand 3. Dezember 2011) durch den § 6 Abs. 2a BWahlG abgemildert werden.
2 Steinbrucheffekt: Eine Möglichkeit, Überhangmandate zu beseitigen, liegt in der Verrechnung mit Listenmandaten anderer, nicht überhängender Landeslisten. Je nach Verechnungsmethode kann dies dazu führen, dass Landeslisten einer überhängenden Partei kaum noch Chancen auf eigene Listenmandate haben. Bei vollständiger Verrechnung auf Basis des Ergebnisses der Bundestagswahl 2009 und des dabei verwendeten Bundeswahlgesetzes würden alle Listenmandate der CDU verrechnet, die stark betroffenen (quasi als „Steinbruch“ genutzten) Landeslisten wären Bremen (kein Mandat) und Brandenburg (ein Direktmandat statt insgesamt fünf Mandate).