Nachrichten

[Aktuelle Meldungen]

03.01.2011

Bundestagsfraktionen verhandeln über 1953er-Wahlrecht und Ausgleichsmandate

Schwarz-Gelb will Rückkehr zum Bundestagswahlrecht von 1953

Auch zweieinhalb Jahre nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum negativen Stimmgewicht liegt noch immer kein Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen zur Reform des Bundestagswahlrechts vor. Es bleibt somit für das gesamte parlamentarische Verfahren nur noch ein knappes halbes Jahr, um die vom Bundesverfassungsgericht gesetzte Frist bis zum 30. Juni 2011 einzuhalten. Im Nachhinein bestätigt sich somit unsere Einschätzung, dass auch eine Änderung rechtzeitig vor der Bundestagswahl 2009 problemlos möglich gewesen wäre.

Immerhin hat sich 2010 hinter den Kulissen einiges getan: Nach der parlamentarischen Sommerpause wurden den Oppositionsfraktionen die ungefähren Vorstellungen präsentiert, wie das Bundestagswahlrecht nach dem Willen von CDU/CSU und FDP in Zukunft aussehen soll. Im Wesentlichen schlägt Schwarz-Gelb eine Rückkehr zum Wahlsystem der Wahl zum 2. Deutschen Bundestag im Jahre 1953 vor: Nur die Fünfprozenthürde soll weiterhin auf Bundesebene angewandt werden, alle weiteren Schritte der Sitzverteilung sollen strikt getrennt nach Bundesländern erfolgen.

Überhangmandate sollen bestehen bleiben

Den Bundesländern würden also vor der Wahl feste Sitzkontingente zugewiesen. Nachdem feststeht, welche Parteien bundesweit mehr als fünf Prozent der Zweitstimmen oder drei Direktmandate errungen haben, würden diese Kontingente Land für Land auf die Parteien entsprechend ihres Zweitstimmenanteils verteilt. Anschließend würden die im jeweiligen Land errungenen Direktmandate mit den der Landesliste zustehenden Sitze verrechnet, überschüssige Direktmandate verblieben wie bisher als Überhangmandate. Das Konkurrieren der Landeslisten einer Partei untereinander, das bisher zusammen mit den Überhangmandaten für das negative Stimmgewicht gesorgt hat, entfiele aufgrund der strikten Trennung der Bundesländer als abgeschlossene Wahlgebiete.

Der Vorschlag von Schwarz-Gelb kam wenig überraschend, da er dem Wunsch der Union entspricht, bei der Beseitigung des negativen Stimmgewichts die Zahl der Überhangmandate auf dem derzeitigen Niveau zu halten. Dies ist verfassungsrechtlich sehr riskant, da das Bundesverfassungsgericht in seinen letzten Entscheidungen zum Bundestagswahlrecht die Vereinbarkeit von Überhangmandaten mit dem Grundsatz der gleichen Wahl ausdrücklich offen gelassen hat. Ob und in welche Richtung sich die Mehrheitsverhältnisse im Zweiten Senat seit dessen berühmter 4:4-Entscheidung im Jahre 1997 in dieser Frage verschoben haben, vermag niemand sicher zu beurteilen. In den Wahlprüfungsverfahren zur Bundestagswahl 2002, die aufgrund der vorgezogenen Neuwahl 2005 nicht mehr in der Sache entschieden wurden, hatte sogar die CDU in ihrer Stellungnahme die Überhangmandate als „rechtlich bedenklich und aus demokratischer Sicht nicht wünschenswert“ bezeichnet.

Neue Probleme mit der Wahlgleichheit

Zudem holt man sich mit dem „1953er-Modell“ einige neue Gleichheitsprobleme ins Haus. Da sind zum einen die bei der Umrechnung von Stimmen in ganzzahlige Sitzzahlen unvermeidbar auftretenden Rundungsfehler, die es nun nicht mehr nur einmal (auf Bundesebene) gibt, sondern sechzehnmal, nämlich in jedem Bundesland einzeln. Allein hierdurch kann es passieren, dass eine Partei mehrere Sitze mehr oder weniger bekommt, als ihr nach dem Gesamtergebnis zustünde. Noch schwerwiegender sind aber die Verzerrungen, die sich durch eine ungleiche Wahlbeteiligung oder eine ungleiche Verteilung der Stimmen der an der Fünfprozenthürde gescheiterten Parteien ergeben. Durch die vorher feststehende (Mindest-)Sitzzahl pro Land bewirkt eine geringe Wahlbeteiligung, dass die im jeweiligen Bundesland abgegebenen Zweitstimmen ein im Bundesvergleich höheres Gewicht erhalten. Parteien, die in Bundesländern mit niedriger Wahlbeteiligung überdurchschnittlich gut abschneiden, profitieren davon. So könnte DIE LINKE damit rechnen, mit dem 1953er-Modell dank ihrer hohen Stimmenanteile im beteiligungsschwachen Osten das eine oder andere Zusatzmandat zu gewinnen. Umgekehrt würde ein Scheitern der Partei DIE LINKE an der Sperrklausel (wie die PDS 2002) dafür sorgen, dass die für die anderen Parteien in den ostdeutschen Bundesländern abgegebenen Stimmen aufgewertet werden. Auf die gleiche Weise konnte die CSU bei der Bundestagswahl 1953 in Bayern 52 Sitze erringen, obwohl ihr nach ihrem bundesweiten Stimmenanteil nur 46 Sitze zugestanden hätten. Dies verdankte die CSU damals der Bayernpartei, die mit 9,2 % in Bayern auf einen bundesweiten Stimmenanteil von 1,7 % kam, somit an der Fünfprozenthürde scheiterte und den übrigen bayerischen Stimmen zur mehr Gewicht verhalf.

Statt der Verzerrung der Sitzverteilung durch die Überhangmandate endlich ein Ende zu bereiten, würde das 1953er-Modell also die Überhangmandate unangetastet lassen und erhebliche neue Verzerrungen verursachen. Selbst wenn keine Überhangmandate anfallen, könnte es dann bei einem halbwegs knappen Wahlergebnis ohne weiteres zu einer Mehrheitsumkehr kommen. Diese hat bereits bei der letzten Landtagswahl in Schleswig-Holstein zu erheblichen Legitimationsproblemen der dortigen Landesregierung geführt und könnte auf Bundesebene womöglich in einer Staatskrise enden.

SPD fordert Ausgleichsmandate

Dem Vernehmen nach ist die SPD-Fraktion im Bundestag dennoch bereit, das 1953er-Modell mitzutragen, fordert allerdings die Ergänzung um Ausgleichsmandate. Die könnten ebenfalls nur getrennt nach Bundesländern verteilt werden. Selbst eine länderweise Ausgleichsmandatsregelung ohne jede Deckelung würde aber dazu führen, dass die durch die Überhangmandate verursachte Verzerrung des Bundesproporzes nur teilweise ausgeglichen wird. Denn zum einen würde der Überhang in den einzelnen Ländern nur soweit ausgeglichen, dass das letzte Direktmandat der überhängenden Partei so gerade eben vom Zweitstimmenanteil gedeckt ist; der Rundungsfehler würde also in allen Überhangländern zu Gunsten der überhängenden Partei gehen. Zum anderen würde sich das Gewicht aller Zweitstimmen in den Überhangländern durch die Aufstockung der dortigen Sitzzahl beträchtlich erhöhen; und weil die überhängende Partei erfahrungsgemäß in ihren Überhangländern ein besseres Zweitstimmenergebnis als im Bundesdurchschnitt erzielt, profitiert auch sie hiervon. So wären beispielsweise bei der Bundestagswahl 2009 aus Baden-Württemberg statt regulär 73 satte 100 Abgeordnete in den Bundestag eingezogen, wovon trotz der Ausgleichsmandate nicht zuletzt die CDU profitiert hätte, die in Baden-Württemberg ihr drittbestes Landesergebnis eingefahren hat. Ihr bestes Landesergebnis konnte sie in Sachsen erzielen, wo sich die Zahl der Sitze mit Ausgleichsmandaten von aktuell 31 auf 42 erhöht hätte.

Obwohl also eine nach Ländern getrennte Ausgleichsmandatsregelung gar nicht geeignet wäre, eine gerechte Sitzverteilung auf Bundesebene herbeizuführen, wird zwischen den Fraktionen zusätzlich eine Deckelung diskutiert. Dahinter steckt die Absicht, die Vergrößerung des Bundestags zu begrenzen und die Proporzverzerrung zwischen den Ländern nicht noch weiter aus dem Ruder laufen zu lassen. Die Überhangländer sind ohnehin schon deutlich überrepräsentiert und würden durch eine Ausgleichsmandatszuteilung innerhalb des Landes noch stärker bevorteilt.

Bessere Alternativen

Wenn eine Aufblähung des Bundestags durch Ausgleichsmandate für die Fraktionen grundsätzlich akzeptabel ist, wäre es wesentlich sinnvoller, es beim bestehenden Verfahren aus Ober- und Unterverteilung zu belassen und die Ausgleichsmandate auf Bundesebene zu verteilen, um hier eine verzerrungsfreie Sitzverteilung zu erreichen. Theoretisch wäre dann zwar das Auftreten eines negativen Stimmgewichts noch möglich, praktisch – und damit wohl auch verfassungsrechtlich – hätte dieses Phänomen aber keine nennenswerte Relevanz mehr. Nach unseren Berechnungen wäre mit einer bundesweiten Ausgleichsmandatsregelung nur bei einer Bundestagswahl seit Bestehen des geltenden Wahlsystems (1957) ein klassischer Fall von negativem Stimmgewicht aufgetreten, nämlich 2005. Die bisher erhebliche Vorhersehbarkeit des negativen Stimmgewicht würde ohnehin komplett entfallen.

Die beste „minimal-invasive“ Lösung wäre unseres Erachtens jedoch nach wie vor, die Überhangmandate partei-intern mit den Listenmandate der nicht-überhängenden Landesverbände zu verrechnen. Politisch dürfte dieses Modell aber keine Chance mehr haben, nachdem es bei der Bundestagswahl 2009 dazu geführt hätte, dass die Union kein einziges Listenmandat mehr bekommen hätte, wovon u. a. Bundestagspräsident Lammert, Bundesministerin von der Leyen und die Staatsminister von Klaeden und Neumann betroffen gewesen wären.

Bedauerlicherweise wurde die Zeit seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht dazu genutzt, weitergehende Reformen in die Überlegungen einzubeziehen, die auch geeignet sind, den Einfluss der Wählerinnen und Wähler auf die personelle Zusammensetzung des Bundestags zu erhöhen. So könnte man beispielsweise die partei-interne Verrechnung mit einer Reduzierung der Wahlkreise sowie der Einführung einer Vorzugsstimme auf den Landeslisten kombinieren. Alternativ könnte man auch den Wahlkreisanteil deutlich erhöhen, dabei aber von Einmandats- auf Mehrmandatswahlkreisen umstellen. Anders als das 1953er-Verfahren würden diese beiden Modelle nicht nur dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts Genüge tun, sondern auch den Anforderungen eines Fünfparteiensystem und dem Wunsch der Bürgerinnen und Bürger nach mehr demokratischer Teilhabe entsprechen.

Verfassungsbeschwerden absehbar

Angesichts der erwähnten Konflikte mit dem Grundsatz der Wahlgleichheit ist bereits jetzt absehbar, dass im Falle einer Umsetzung des 1953er-Modells – sei es mit oder ohne Ausgleichsmandaten – das neue Bundestagswahlrecht dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vorgelegt werden wird. Dies wäre in diesem Fall nicht erst nach der kommenden Wahl im Rahmen des Wahlprüfungsverfahrens möglich, sondern bereits vorab im Wege eines Organstreit- oder Verfassungsbeschwerdeverfahrens.

Gegen die Entscheidung des Bundestags würde jede Partei, die an Bundestagswahlen teilnehmen möchte, innerhalb von sechs Monaten Organklage erheben können, um geltend zu machen, durch den Gesetzesbeschluss in ihrem Recht auf Chancengleichheit bei der Wahl verletzt worden zu sein.

Darüber hinaus hätte jeder Wahlberechtigte (!) die Möglichkeit, innerhalb eines Jahres nach dem Inkrafttreten der Gesetzesänderung direkt Verfassungsbeschwerde gegen das Änderungsgesetz zu erheben. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind nämlich alle Wahlberechtigten durch ein Gesetz, das die Wahlrechtsgrundsätze verletzt, „selbst, gegenwärtig und unmittelbar“ betroffen, so dass ohne weiteren Rechtsweg der Gang nach Karlsruhe eröffnet ist. Anders als bei Wahlprüfungsbeschwerden bedarf es zur Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde nicht einmal des Sammelns von 100 Unterstützungsunterschriften.

Aufgrund der Bedeutung und Dringlichkeit des Themas spricht vieles dafür, dass eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Klagen noch vor der Bundestagswahl 2013 fallen würde. Sollte das Gericht erneut die Verfassungswidrigkeit des Bundeswahlgesetzes feststellen, werden die Richter dem Gesetzgeber kaum noch einmal eine Gnadenfrist bis zur darauf folgenden Wahl geben, sondern dieses Mal eine unverzügliche Korrektur fordern.

Der Bundestag wäre also im Interesse aller Beteiligten gut beraten, eine verfassungsrechtlich über jeden berechtigten Zweifel erhabene Neuregelung zu suchen.


von Wilko Zicht (03.01.2011, letzte Aktualisierung: 28.08.2011)