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24.08.2009
Auch wenn in den letzten Wochen eher die Kritik an dem für die Teilnahme an der Bundestagswahl notwendigen Verfahren der Anerkennung als politischer Partei sowie der Zulassung der Landeslisten die wahlrechtliche Berichterstattung der Medien prägte – das Manko mit den weitaus größeren Auswirkungen auf das Ergebnis der Bundestagswahl in einem Monat wird ein bereits als verfassungswidrig beurteilter wesentlicher Teil des Wahlrechts sein.
Bereits im Vorfeld der Abstimmung über einen, das negative Stimmgewicht im Bundestagswahlrecht beseitigenden Gesetzentwurf der GRÜNEN, der schließlich am 3. Juli 2009 abgelehnt wurde, sprachen sich Union und FDP für die Beibehaltung des verfassungswidrigen Wahlrechts aus. Trotz einer Expertenanhörung wurde diese mit einer Reihe von vagen und Tatsachen behauptenden Äußerungen begründet, dass sogar ansonsten der Kritiklosigkeit gegenüber der Großen Koalition unverdächtige Medien die notwendige Änderung als „Luxusproblem“ bezeichneten.
Im Folgenden werden daher diese Begründungen in den Redebeiträgen der Abgeordneten – Günter Krings (CDU), Gisela Piltz (FDP) und Wolfgang Götzer (CSU) – in der Debatte vom 3. Juli 2009 aus den, den Gesetzentwurf ablehnenden Fraktionen analysiert und dokumentiert, bevor ein Fazit gezogen wird.
Der erste Redner, Günter Krings, versuchte, in die Debatte mehr Sachlichkeit hineinzubekommen. Diese strukturierte Herangehensweise ermöglicht es den Wahrheitsgehalt der Sachaussagen zu überprüfen.
Krings beginnt mit einer sehr überraschenden Aussage:
Überraschend ist hier die Aussage, dass das Urteil überraschend gekommen sein soll und das auch noch für alle Experten. In Wahrheit gab es vor dem Urteil nur wenige Veröffentlichungen zu dem Thema, von denen keine einzige den Effekt als verfassungsgemäß gesehen hat. Bis zur Bundestagswahl 2005 war es daher auch eine Aufgabe von Wahlrecht.de darauf hinzuweisen, dass es so einen Effekt überhaupt gibt. Auch dass der Wahlrechtsfehler schon seit Jahrzehnten bekannt sein soll, wirft die Frage auf, warum man ihn nicht schon vorher beseitigt hat und relativiert die wiederholt geäußerten Hinweise zur plötzlichen Eile und überhasteten Schweinsgalopp. Verwunderlich ist auch, dass das negative Stimmgewicht einige Jahre vorher ausdrücklich akzeptiert worden sein soll.
Krings versucht nun in seinem Beitrag mit fünf „Legenden“ aufzuräumen. Das meiste Gesagte ist allerdings sachlich gesehen falsch:
Das Gericht hat in seinem Urteil das negative Stimmgewicht für verfassungswidrig erklärt und richtigerweise festgestellt, dass "der Effekt des negativen Stimmgewichts untrennbar mit den Überhangmandaten" verbunden ist. Damit werden Überhangmandate nicht ausdrücklich akzeptiert. Beim jetzigen Entstehungsmechanismus führen interne Überhangmandate immer zu negativen Stimmgewichten, so dass man diese Art von Überhangmandate als verfassungswidrig bezeichnen kann.
Es tritt immer auf, wenn es interne Überhangmandate gibt. Beides ist kausal verbunden. Und richtig, das negative Stimmgewicht muss vermieden werden.
„Rettet das Überhangmandat“. Ja, es gibt solche Lösungen, die allerdings einen größeren Eingriff ins Wahlsystem und den Entstehungsmechanismus von Überhangmandaten darstellen und die vermutlich deshalb nicht vorgeschlagen wurden.
Solche Konstellationen interessieren uns sehr, wenn es sie gibt. Aber auch diese wären nach dem Urteil verfassungswidrig. Wenn dem so wäre, spräche das aber nicht gegen die vorgeschlagene Wahlrechtsänderung, sondern es wäre ein Hinweis, dass diese in einem Punkt immer noch nicht weitreichend genug wäre. Es sei denn solche neuen Konstellationen entstünden durch das vorgeschlagene Verfahren, was aber bei diesem Gesetzentwurf nicht möglich ist.
Der Gesetzentwurf löst das bisher regelmäßig aufgetretene Problem negativer Stimmgewicht. Und zwar auch dann, wenn man dem Gesetzesschreiber vorwirft, er hätte das eigentliche Problem nicht erkannt. Ein negatives Stimmgewicht tritt immer dann auf, wenn interne Überhangmandate auftreten. Die Verrechnung der internen Überhangmandate stellt damit auch einen vernünftigen Lösungsansatz dar. Im Übrigen steht der Gesetzentwurf gar nicht im Wettbewerb mit einem anderen Gesetzentwurf, der möglicherweise besser ist, sondern nur mit dem bisherigen verfassungswidrigen Wahlsystem.
An der Stelle hätte man den Gesetzentwurf lesen sollen. Die Möglichkeit, dass Teile einer Partei aus der Liste ausscheren, besteht durch die klare Zuteilungsreihenfolge (zuerst an Partei und dann an Landeslisten) explizit nicht mehr. Das negative Stimmgewicht wird so wirksam beseitigt.
Will sich die CDU in NRW von der Bundes-CDU trennen um dadurch die Chance auf ein weiteres Bundestagsmandat zu wahren? Eine Kandidatur einer neu gegründeten Christlichen Rheinland-Union zur Bundestagswahl 2009, um die es hier geht, ist auch nicht mehr möglich. Für Abspaltungen in kleineren Bundesländern käme noch das Problem der bundesweiten Sperrklausel hinzu, die solche Szenarien völlig ausschließen.
Das negative Stimmgewicht ist kein Nachwahleffekt und kein Sonderfall. Das besondere am Fall Dresden war, dass zum ersten Mal Wähler in großer Zahl vor der Wahl gelernt haben, dass es einen solchen, jeder Intuition widersprechenden Effekt gibt. Um auf ein negatives Stimmgewicht reagieren zu können, muss ein Wähler nur wissen, dass Überhangmandate in seinem Bundesland auftreten oder wahrscheinlich sind. Entsprechende Prognosen wurden inzwischen auch veröffentlicht. Wenn Wähler darauf reagieren, also mit der Zweitstimme nicht die eigentlich präferierte Partei wählen, führt dies auch immer zu einer Erhöhung der Zahl der Überhangmandate. Ein Wähler kann damit unabhängig von den anderen Wählern reagieren. Es ist keine Abstimmung von Wählern notwendig, weil jede einzelne Stimme eine negative Wirkung hat. Viele Wähler werden auf den Effekt reagieren und damit die Zahl der Überhangmandate noch weiter erhöhen. Und zwar je mehr Wähler, je mehr und je besser die Wähler über die Auswirkung ihrer Stimme informiert werden.
An dieser Stelle hat das Bundesverfassungsgericht den Effekt selbst unterschätzt. Es erweckt in seinem Urteil den falschen Eindruck, das negative Stimmgewicht wäre nicht vorhersehbar oder planbar und eine zufällige Folge des Wählerverhaltens (Absatz 102), und beträfe nur wenige Sitze (Absatz 138). Man kann darin aber ein tiefes Misstrauen in den Bundestag erkennen, dass dieser nicht in der Lage zu sein scheint, die Verfassungswidrigkeit in dieser Legislaturperiode und die angemahnte große Reform in der nächsten Legislaturperiode zu bewerkstelligen (oder gar die Reform in dieser Legislaturperiode).
Nichts spricht gegen eine Verbesserung jetzt und eine Reform 2010. Mit dem jetzigen Vorgehen behalten wir eine Verfassungswidrigkeit im Wahlgesetz als Merkposten für die angemahnte Reform.
Das Gericht sieht in seinem Urteil für das reguläre Gesetzgebungsverfahren einen spätesten Termin im April 2009 (Absatz 144). Dieser Termin hätte beim vorgelegten Gesetzentwurf auch gehalten werden können, wurde allerdings auf Betreiben der Koalitionsparteien verschoben. Eine genaue Begründung für diesen im Gegensatz zu einem späteren oder früheren Termin fehlt. Der ehemalige Bundeswahlleiter Hahlen hielt auch einen Termin im Juli noch für ausreichend. Letztlich wäre auch eine Änderung in der Woche vor der Wahl noch denkbar, auch wenn die Komplikationen mit abnehmendem Zeitraum zum Wahltermin größer werden. Auf die Kandidaturen hätte das alles keinen Einfluss, es sei denn die Kandidaten hätten sich schon auf einen Wahlkampf unter den Bedingungen des negativen Stimmgewichts eingestellt und wollten ausschließlich um Erststimmen werben.
Oh doch, das derzeitige [verfassungswidrige] Bundeswahlgesetz ist durch seine Verschachtelungen deutlich unverständlicher.
Warum müssen gerade die Berliner Zweitstimmen plötzlich unverzüglich neu geregelt werden? Gerade die hier angedeutete Eile findet sich in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes nicht wieder. Die Berliner Zweitstimmen sind ein Nebenthema, ein Problem, das demnächst und speziell für die Wahl 2009 nicht zu erwarten ist. Das von der CDU bevorzugte Nichtberücksichtigen von Zweitstimmen könnte sogar wieder negative Stimmgewichte hervorbringen – im Ergebnis hatte die SPD 2002 zu viele Zweitstimmen für ein zusätzliches Mandat, das Streichen besonders vieler SPD-Zweitstimmen hätte ihr ein weiteres Mandat beschert (vgl. Ergebnis der öffentlichen Nachzählung). Aber auch ein solcher Kompromissentwurf lag vor und wurde von der CDU verworfen.
Wie sollte ein geringerer Eingriff ins Wahlsystem aussehen? Der Entwurf ändert nichts am prinzipiellen Mechanismus der Sitzverteilung. Es beinhaltet nur den nötigen Eingriff zur Vermeidung negativer Stimmgewichte. Der Versuch ist auch nicht untauglich, da er das verfassungsrechtliche Problem löst. Der Wegnahmevorwurf ist Unsinn, denn natürlich würde sich etwas bei einer Änderung des Wahlgesetzes im Vergleich zur bisherigen Berechnung ändern. Diese angeblich weggenommenen Sitze werden als solche aber gar nicht erst zugeteilt. Auch das derzeitige Wahlgesetz formuliert einige Rechenschritte so, dass Sitze zugeteilt und dann wieder gestrichen werden, ohne dass diese Formulierung als Problem gesehen wird. Man könnte das Wahlgesetz auch ohne Wegnahme so formulieren, dass die Sitze einzeln nach Anspruch zugeteilt werden (vgl. Vorschlag von Wilko Zicht in der Expertenanhörung), im Ergebnis führt dies zu keinem Unterschied bei der Sitzverteilung. Es ist aber im Gegensatz zur Auswirkung negativer Stimmgewichte keine Bestrafung für Landeslisten, denn die Stimmen wirkten immer positiv. Für mehr Stimmen erhielte eine Partei auch nur mehr Sitze.
Der Vorschlag ist leider so floskelhaft, dass nicht einmal eindeutig ersichtlich ist, was für eine Alternative überhaupt gemeint ist.
Wenn mit der Trennung der Landeslisten nur ein Verbot der Listenverbindung im derzeitigen § 7 BWahlG gemeint ist, dann ist dies keine taugliche Alternative, denn negative Stimmgewichte können nach wie vor entstehen.
Wenn damit wahlrechtlich eine völlige Trennung der Bundesländer gemeint ist, ist dies kaum ein geringer Eingriff, eher ein Eingriff nach dem Motto „wir retten die Überhangmandate“. Selbst im Fall ohne Überhangmandate blieben dann größere Proporzverzerrungen bestehen.
Regionale Ungleichheiten entstehen durch die Überhangmandate oder die Fünf-Prozent-Hürde derzeit schon in noch viel stärkerem Maße. Konsequenterweise müsste man dann im Fall von Überhängen Direktmandate streichen. Das macht man aber nicht, weil dieser Punkt anders und zwar zulasten des absoluten regionalen Proporzes bewertet wird. Andererseits führt der Vorschlag nicht zu unakzeptablen regionalen Verzerrungen, sondern diese halten sich im Rahmen der schon bestehenden Verzerrung.
Die Sprecherin der FDP, Gisela Piltz, deutete in ihrer Rede eine Verfassungswidrigkeit an, allerdings ohne diese klar zu benennen:
Unklar bleibt, was genau verfassungswidrig sein soll. Im Folgenden werden zwei Problemfelder angesprochen, von denen allerdings keines auf eine Verfassungswidrigkeit hinausläuft. Das erste dreht sich um das föderale System.
Hier muss sie etwas verwechselt haben, denn das Gegenteil ist der Fall. Listen mit vielen Direktmandaten werden nicht benachteiligt, sondern im Gegenteil der Vorteil dieser Listen bleibt erhalten, weil keine Direktmandate gestrichen werden.
Das Bundesverfassungsgericht stellt fest, dass dieser Punkt nachrangig ist und keine negativen Stimmgewichte rechtfertigt. Der Gesetzgeber darf, aber er muss keine föderalen Belange im Wahlgesetz berücksichtigen. So sind Überhangmandate als solche nicht deswegen verfassungswidrig, weil sie das föderale Gewicht in einem noch viel stärkerem Maße beeinträchtigen als die Verrechnung des Gesetzentwurfes. Wenn föderale Belange das entscheidende Kriterium sein sollten, müsste man Maßnahmen wie Direktmandate streichen diskutieren. Es ist aber nicht so, dass föderale Belange nicht mehr angemessenen gewahrt werden, sie werden nur zur Vermeidung negativer Stimmgewichte im Konfliktfall hinter diese zurückgestellt.
Unklar bleibt auch der folgende Einwurf:
Worüber wird getäuscht?
Das CSU-Problem stellt kein Problem negativer Stimmgewichte dar, da CSU-Überhangmandate immer nur extern sein können. Es kann, aber muss daher nicht geregelt werden. Denkbar wäre eine Ausgleichsmandatsregelung, die vermutlich aus Rücksicht auf die Union nicht vorgeschlagen wurde. Zu einer Verfassungswidrigkeit würde die CSU hier aber nicht führen.
Auch der Abgeordnete Wolfgang Götzer machte in seiner Rede erstaunliche Feststellungen.
Dies sehen inzwischen nicht nur wir anders. So dürften Überhangmandate und damit negative Stimmgewichte für die CDU in Baden-Württemberg und Sachsen als sicher gelten. Aber selbst wenn Überhangmandate und negative Stimmgewicht unwahrscheinlich wären, und die Änderungen im Wahlgesetz sich nicht auswirken würden, könnte dies die Verunsicherung der Wähler durch das Wahlsystem nicht verhindern.
Im Übrigen kann die Unsicherheit über negative Stimmgewichte kann auch nicht die Anforderung an das Bundestagswahlsystem sein. Die Anforderung muss sein, dass negative Stimmgewichte auch theoretisch nicht mehr auftreten können.
Die Trennung von Listen ist wirkungslos, wenn damit nur das verbindliche Nichtverbinden der Landesliste im derzeitigen § 7 BWahlG gemeint sein sollte. Negative Stimmgewichte können dann noch wie gehabt auftreten. Sollte der völlige Verzicht auf jede Länderverrechnung gemeint sein, kann aber kaum noch von einer geringfügigen Gesetzesänderung gesprochen werden.
Der weitere Verweis auf die Abwägung von Alternativen führt im Ergebnis zu einem Verhalten wie von bei Buridans Esel, der zwischen zwei frischen Heuhaufen verhungert, da er sich nicht entscheiden kann. Weil wir nicht wissen, welche der Alternativen, die alle für sich dem derzeitigen Wahlsystem überlegen sind, die Beste ist, ändern wir nichts und wählen mit dem jetzigen verfassungswidrigen System mit negativem Stimmgewicht.
Hier verwies der Abgeordnete Volker Schneider in einer Kurzintervention auf die ähnlich großen Zeiträume vom Urteil zur Bundestagswahl einerseits und von der Neukonstituierung zur Ende der Frist des Bundesverfassungsgerichtes andererseits, so dass das Abwarten zwangsläufig auch zu einem Schweinsgalopp führt. Ansonsten gilt das oben zu den Jahrzehnten Gesagte.
Angesichts der evident falschen und themenfremden Aussagen ist es erschreckend, wie leichtfertig die Mehrheit der Abgeordneten im Deutschen Bundestag es derart „gerechtfertigt“ riskiert, die Bundestagswahl 2009 gegen die Wand zu fahren. Denn hier ist nicht einer von vielen guten Vorschlägen gegen einen noch besseren Vorschlag gescheitert. Hier hat sich das bestehende verfassungswidrige Wahlsystem gegen einen verfassungsgemäßen Vorschlag behauptet. Den Fehler beseitigen muss nun der nächste Bundestag – der Bundestag, bei dessen Wahl sich gerade dieser verfassungswidrige Effekt des negativen Stimmgewichts am stärksten ausgewirkt haben wird.