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30.08.2010
Das Landesverfassungsgericht von Schleswig-Holstein hat dem Landtag aufgetragen, bis zum 31. Mai 2011 das Landtagswahlrecht grundlegend zu reformieren und bis zum 30. September 2012 eine Neuwahl herbeizuführen. Obwohl sich die im Vorfeld verbreiteten Gerüchte bei der heutigen Urteilsverkündung damit bestätigt haben, kann das Landesverfassungsgericht mit einigen Überraschungen aufwarten. Die schönste: Beide Urteile sind einstimmig ergangen. Dies war angesichts der politischen Brisanz nicht zu erwarten und ist den sieben Richtern daher hoch anzurechnen.
Kurioserweise können sich die Kläger von GRÜNE, SSW und DIE LINKE über das Ergebnis des Urteils freuen, obwohl das Gericht ihre Argumentation nahezu vollständig zurückgewiesen hat. In der heftig umstrittenen Frage, ob das Landeswahlgesetz einen „kleinen Ausgleich“ oder einen „großen Ausgleich“ vorsieht, hat sich das Gericht ganz auf die Seite der Landeswahlleiterin geworfen: Der Wortlaut sei zwar nicht eindeutig, die Entstehungsgeschichte und seine systematische Auslegung ließen aber nur den „kleinen Ausgleich“ zu. Nicht einmal eine verfassungskonforme Auslegung zugunsten eines „großen Ausgleichs“ sei möglich, zumal dem die Vorgabe der Verfassung entgegenstehe, die Sitzzahl möglichst nicht über 69 anwachsen zu lassen. Das Gericht ließ sogar die Frage offen, ob die geltende Kappung der Zahl der Ausgleichsmandate für sich betrachtet mit der Wahlgleichheit und der Verfassungsvorgabe, Ausgleichsmandate vorzusehen, vereinbar ist oder nicht.
Dass sich die Kläger trotzdem als Sieger fühlen können, verdanken sie einer ganz anderen Verfassungsvorschrift, der das Gericht eine überraschend hohe Bedeutung zumisst: Artikel 10 Absatz 2 Satz 2 der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein:
Der Landtag besteht aus fünfundsiebzig Abgeordneten. Ab der 16. Wahlperiode besteht der Landtag aus neunundsechzig Abgeordneten. Sie werden nach einem Verfahren gewählt, das die Persönlichkeitswahl mit den Grundsätzen der Verhältniswahl verbindet. Die in Satz 1 genannte Zahl ändert sich nur, wenn Überhang- oder Ausgleichsmandate entstehen oder wenn Sitze leer bleiben. Das Nähere regelt ein Gesetz, das für den Fall des Entstehens von Überhangmandaten Ausgleichsmandate vorsehen muss.
Weil das Gericht hierin nicht nur eine mehr oder weniger unverbindliche Regelgröße sieht, von der ohne weiteres abgewichen werden darf, verfehlt das geltende Wahlrecht nach seiner Ansicht die verfassungsrechtlichen Vorgaben. Ursache hier für sei das Zusammenspiel der Regelungen über die Bildung, die Größe und Anzahl der Wahlkreise, der Bestimmung des Zweistimmenwahlrechts und der Regelung über den Überhangmandatsausgleich. Dies führe in der mittlerweile eingetretenen politischen Realität derzeit und in Zukunft dazu, dass der Landtag die vorgeschriebene Abgeordnetenzahl von 69 regelmäßig verfehle und so Überhangmandate und ihnen folgend Ausgleichsmandate in einem nicht mehr vertretbaren Ausmaß entstehen können.
Die schriftlichen Begründungen der beiden heutigen Urteile überschneiden sich in großen Teilen. So sind die Randnummern 36 bis 125 im Urteil zur Normenkontrolle weitgehend textidentisch mit den Randnummern 82 bis 170 des Urteils zu den Wahlprüfungsbeschwerden, bis hin zu per Copy and Paste übertragenen Tippfehlern. Wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Urteilsbegründungen ist, dass im Urteil zur Normenkontrolle die in der Wahlprüfungsentscheidung enthaltenen Ausführungen zur formellen Rechtmäßigkeit des Wahlprüfungsverfahrens im Landtag, zur korrekten Auslegung der Ausgleichsmandatsregelung durch die Landeswahlleiterin sowie zu den Rechtsfolgen des festgestellten Wahlfehlers fehlen.
Beide Urteile sind größtenteils sehr sorgfältig begründet und wissen insgesamt durchaus zu überzeugen. Die wohl schwächste Argumentation findet sich dort, wo das Gericht die großzügig bemessenen Fristen rechtfertigt. So gewährt es dem Landtag noch ein dreiviertel Jahr zur Korrektur des Wahlgesetzes, obwohl das Gericht selbst darauf hinweist, dass der Landtag zur Reform der in Frage stehenden Vorschriften des Wahlrechts bereits eine 1. Lesung sowie eine schriftliche und eine mündliche Sachverständigenanhörung durchgeführt hat. Weitere sechzehn Monate sollen anschließend ins Land gehen dürfen, bis es zur Neuwahl kommen. Zwar betont das Gericht zurecht, dass es höchstwahrscheinlich zu einer Neueinteilung der Wahlkreise kommen müsse, was natürlich einiger Vorbereitungen bei der Kandidatenaufstellung bedarf. Hinzu kommt, dass die Wahlkreiseinteilung – nach geltender Rechtslage – nicht vom Landtag beschlossen wird, sondern vom Wahlkreisausschuss, der aus der Landeswahlleiterin und acht Abgeordneten besteht. Dennoch bleibt schleierhaft, warum es alles in allem mit der gebotenen Zügigkeit nicht möglich sein soll, die Neuwahl bis zum Herbst 2011 durchzuführen.
Der Landtag wird nun in der bestehenden Besetzung, d. h. mit schwarz-gelber Mehrheit, entscheiden müssen, wie er die Vorgaben des Verfassungsgerichts umsetzen will. Er könnte es sich natürlich einfach machen und die Vorgabe von 69 Sitzen wieder aus der Landesverfassung streichen. Dass sich die zu diesem unpopulären Schritt notwendige Zweidrittelmehrheit finden wird, erscheint derzeit aber ausgeschlossen.
Nicht zu viel versprechen sollte man sich von der Rückkehr zum Einstimmensystem. Die Auswirkungen auf die Zahl der zu erwartenden Überhangmandate wäre eher gering. Unter Umständen kann ein Zweistimmensystem sogar Überhangmandaten entgegenwirken. So konnte bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Mai dieses Jahren erstmals seit dreißig Jahren keine Partei Überhangmandate erzielen, obwohl man gerade vom Ein- zum Zweistimmensystem gewechselt war.
Auch die Angleichung der Wahlkreisgrößen würde nichts am grundsätzlichen Problem ändern, dass im Fünfparteiensystem – welches in Schleswig-Holstein dank des SSW ja sogar ein Sechsparteiensystem ist – die stärkste Partei mit landesweit etwas über dreißig Prozent der Stimmen die allermeisten Wahlkreise gewinnen kann. Will man bei den bestehenden Einsitzwahlkreisen bleiben, müsste man die Anzahl der Wahlkreise schon auf unter dreißig reduzieren, um Überhangmandate in nennenswerter Zahl zu vermeiden. Dann würden aber rund sechzig Prozent aller Sitze nur noch nach geschlossenen Listen vergeben. In einer Zeit, in der immer mehr Bundesländer aus guten Gründen ihr Wahlrecht demokratisieren und den Wählern mehr Einfluss auf die personelle Zusammensetzung der Parlamente geben, wäre dies ein ziemlicher Rückschritt. Daher spricht einiges dafür, eine Reduzierung der Wahlkreise mit einer Öffnung der Landeslisten zu verbinden, damit die Wähler gezielt bestimmte Listenkandidaten wählen können.
Noch reizvoller erscheint die Idee, die bestehenden Einsitzwahlkreise durch Mehrsitzwahlkreise zu ersetzen. In diese Richtung geht zum Beispiel der Reformvorschlag von Mehr Demokratie e. V., der in den Wahlkreisgrenzen der elf schleswig-holsteinischen Bundestagswahlkreise jeweils vier Abgeordnete wählen lassen will. Über die Einzelheiten des Vorschlags lässt sich sicherlich streiten, aber er ist weitaus innovativer und konsequenter als der dem Landtag bereits seit letztem Jahr vorliegenden Gesetzentwurf der Grünen, lediglich die Zahl der Wahlkreise auf 30 zu reduzieren, von d’Hondt zu Sainte-Laguë zu wechseln und die Kappung der Ausgleichsmandate aufzuheben.
Als erstes Landesverfassungsgericht hat das schleswig-holsteinische die Vergrößerung des Landesparlaments durch Überhang- und Ausgleichsmandate unter Berufung auf die in der Verfassung festgelegte Regelsitzzahl für verfassungswidrig erklärt. Nun stellt sich natürlich die Frage, auf welche Bundesländer sich diese Rechtsprechung möglicherweise übertragen ließe.
In Baden-Württemberg, Brandenburg, Bremen, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Thüringen findet sich in der Landesverfassung keine Festlegung der Sitzzahl. Hier haben die Landtage also insofern nichts zu befürchten.
In Bayern ist die Rechtslage ähnlich wie in Schleswig-Holstein. In Artikel 13 Absatz 1 heißt es: „Der Landtag besteht aus 180 Abgeordneten des bayerischen Volkes.“ Artikel 14 Absatz 1 Satz 6 bestimmt: „Durch Überhang- und Ausgleichsmandate, die in Anwendung dieser Grundsätze zugeteilt werden, kann die Zahl der Abgeordneten nach Art. 13 Abs. 1 überschritten werden.“ Aufgrund der noch vergleichsweise starken CSU halten sich Überhang- und Ausgleichsmandate in Bayern aber bisher im Rahmen. Bei der letzten Landtagswahl waren es sieben.
In Berlin wird die Regelgröße von 130 Sitzen regelmäßig durch Überhang- und Ausgleichsmandate überschritten. Bei den letzten vier Wahlen waren es im Schnitt 31 Zusatzsitze. In Artikel 38 Absatz 2 der Verfassung heißt es zudem großzügig: „Das Abgeordnetenhaus besteht aus mindestens 130 Abgeordneten.“
Ähnlich ist die Rechtslage in Hamburg, hier bestimmt die Verfassung in Artikel 6 Absatz 2: „Die Bürgerschaft besteht aus mindestens 120 Abgeordneten ...“ Da in Hamburg Mehrsitzwahlkreise mit drei bis fünf Abgeordneten existieren, sind Überhangmandate hier aber eh sehr unwahrscheinlich.
Auch in Mecklenburg-Vorpommern findet sich das Wort „mindestens“ in der Verfassung (Artikel 20 Absatz 2): „Der Landtag besteht aus mindestens einundsiebzig Abgeordneten. [...] Die in Satz 1 genannte Zahl ändert sich nur, wenn Überhang- oder Ausgleichsmandate entstehen oder wenn Sitze leer bleiben.“ Bisher sind Überhangmandate in diesem Bundesland ausgeblieben.
Im Saarland kennt die Verfassung keine Ausnahmen: „Der Landtag besteht aus 51 Abgeordneten“ (Artikel 66 Absatz 1 Satz 1). Hier fühlt man sich anscheinend sicher, weil auch das Wahlgesetz keine explizite Möglichkeit vorsieht, dass sich der Landtag durch Überhangmandate vergrößern kann. Tatsächlich besteht aber im saarländischen Wahlrecht durchaus die rechnerische Möglichkeit, dass den Kreiswahlvorschlägen einer Partei in Summe mehr Sitze zustehen als der Partei insgesamt, wenn auch nur in seltenen Grenzfällen. Was mit diesen Sitzen passiert, würde sich im Falle des Falles also wohl erst vor dem Verfassungsgericht entscheiden.
Recht streng ist die Rechtslage auch in Sachsen, wo es in Artikel 41 Absatz 1 Satz 1 der Verfassung heißt: „Der Landtag besteht in der Regel aus 120 Abgeordneten.“ Folgt man der Richtschnur des schleswig-holsteinischen Verfassungsgerichts, wären regelmäßige größere Abweichungen von der vorgegebenen Sitzzahl kaum zu rechtfertigen. Bei der vorletzten Wahl waren es vier Zusatzmandate, bei der letzten Wahl immerhin schon zwölf. Setzt sich der Trend bei der nächsten Wahl fort, wird es wohl diesbezügliche Wahleinsprüche geben.