Nachrichten

[Aktuelle Meldungen]

10.06.2008

Umstrittene Sitzzuteilung in Schleswig-Holsteins Kommunen

Bei den Kommunalwahlen in Schleswig-Holstein am 25. Mai 2008 erlitt die CDU starke Verluste (Landesergebnis 38,6 % – 2003: 50,8 %), ohne dass die SPD Stimmenanteile gewinnen konnte (Landesergebnis 26,6 % – 2003: 29,3 %). Begünstigt durch das Wahlsystem führten gerade die Ein-Mandats-Wahlkreise in den größeren Gemeinden und den Kreisen zu vielen Wahlkreisgewinnen mit einer nur schwachen relativen Mehrheit. Bei homogenen Ergebnissen in einem Wahlgebiet fielen so für die „großen“ Parteien leicht mehr Direktmandate an, als durch den Stimmenanteil gedeckt waren – es entstanden verstärkt Überhangmandate. Damit erhöhte sich auch die Zahl der an die anderen Parteien zu verteilenden Ausgleichsmandate.

Zahl der zu verteilenden Ausgleichsmandate unklar

Fraglich ist nun in einigen Städten die Zahl der als Ausgleich zu verteilenden Mandate. Diese ist gedeckelt und das genaue Verfahren zu deren Ermittlung umstritten – die entsprechende Regelung in § 10 Abs. 4 des Gesetzes über die Wahlen in den Gemeinden und Kreisen in Schleswig-Holstein (GKWG) lautet:

Ist die Anzahl der in den Wahlkreisen für eine politische Partei oder Wählergruppe gewählten Bewerberinnen und Bewerber größer als ihr verhältnismäßiger Sitzanteil, so verbleiben ihr die darüber hinausgehenden Sitze (Mehrsitze). In diesem Fall sind auf die nach Absatz 2 Satz 2 und 3 noch nicht berücksichtigten nächstfolgenden Höchstzahlen so lange weitere Sitze zu verteilen und nach Absatz 3 zu besetzen, bis der letzte Mehrsitz durch den verhältnismäßigen Sitzanteil gedeckt ist. Die Anzahl der weiteren Sitze darf dabei jedoch das Doppelte der Anzahl der Mehrsitze nicht übersteigen.

Auf den ersten Blick regelt die Vorschrift die Verteilung nach Höchstzahlen und Anrechnung der Direktmandate nach Absatz 2 Satz 2 und 3 bis zur Deckung des letzten Überhangmandats bzw. maximal bis zu einer Erhöhung der Proporzmandate um das Doppelte der Zahl der Überhangmandate (eine ähnliche Regelung findet sich auch im § 3 Abs. 5 Landeswahlgesetz von Schleswig-Holstein). Gestützt wird diese Ansicht durch das Innenministerium in einem Beratungserlass vom 2. Juni 2008. Bisher führte dieses Ausgleichsverfahren im Ergebnis zu Sitzverteilungen, die unumstritten waren.

Bei den Wahlen zu den Räten der Städte Kiel, Lübeck und Norderstedt wurden so jedoch weniger Ausgleichsmandate verteilt, als zu einem vollständigen Verhältnisausgleich notwendig wären. Die dabei benachteiligten Parteien und Wählergruppen, die CDU und die GRÜNEN in Kiel, die SPD in Norderstedt sowie GRÜNE und BfL in Lübeck legen die Ausgleichsregelung anders aus. Sie vertreten die Meinung, mit „weiteren Sitze“ seien nur Ausgleichsmandate gemeint und nicht die Höchstzahlen nach Absatz 2 Satz 2 und 3, so dass eine Verrechnung mit den Überhangmandaten (Mehrsitzen) nicht gestattet sei.

Verweis auf Rechtsprechung

Dabei berufen sie sich auf ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Schleswig-Holstein vom 22. November 2000 – 2 L 25/00 – und ein Urteil des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts vom 15. Dezember 2005 – 6 A 237/05 –, welche die zweite Interpretation vorschreiben sollen. Allerdings erscheinen dort die Ausgleichsberechnungen nur als obiter dicta, als Erläuterungen, welche nicht Grundlage der Entscheidungen sind. Beide Urteile betreffen das Nachrücken in Überhangmandate und in beiden Fällen wird dieses deshalb als statthaft angesehen, weil für Schleswig-Holsteins Kommunen ein Einstimmenwahlrecht gilt, bei dem mit dem Direktkandidaten auch die Liste zum Nachrücken unmittelbar gewählt wird und bei dem Überhangmandate ausgeglichen werden. Bei beiden Entscheidungen hätte die erste Gesetzesauslegung zur selben Sitzverteilung geführt.

Bei der Wahl am 22. März 1998 hatte die CDU in Halstenbek ein Überhangmandat erzielt, das nicht ausgeglichen werden musste, weil schon dieser Sitz der nachfolgenden Höchstzahl entsprach. Bei der Kommunalwahl am 2. März 2003 hatte die CDU in Geesthacht Überhangmandate erzielt. Deshalb erhielten BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die FDP und die SPD jeweils einen weiteren Sitz. Zur Interpretation der Ausgleichsmandatsregelung findet sich im Urteil von 2000 wenig.

Gemäß § 10 Abs. 4 Satz 3 GKWG wird dieses Verfahren dadurch begrenzt, dass in diesem Verfahren die Zahl solcher weiteren Sitze (Ausgleichsmandate) nicht mehr als das Doppelte der Anzahl der Mehrsitze (Überhangmandate) betragen darf.

Dass „Ausgleichsmandate“ in Klammern hinter „weiteren Sitze“ steht, mag darauf hindeuten, dass die Richter unter beiden Begriffen dasselbe verstanden haben können, zwingend ist diese Auslegung aber nicht und eine Vorschrift oder Anweisung schon gar nicht. Anders sieht es in der Entscheidung vom 15. Dezember 2005 aus. Hier wird explizit festgestellt:

„Die Mehrsitze sind dabei nicht auf die weiteren Sitze anzurechnen.“

Ob dieses obiter dictum den genauen Wortlaut von § 10 Abs. 4 GKWG widerspiegelt, ist strittig. Der Verweis der „weiteren Sitze“ auf die Höchstzahlenrechnung (und auf Absatz 2 mit der Anrechnung von Direktmandaten) legt eher die Vermutung nahe, dass Direktmandate weiter angerechnet werden sollen. Allerdings ist „weitere Sitze“ kein bestimmter Begriff. Das Gesetz könnte damit in Satz 2 und 3 des Absatzes jeweils etwas anderes gemeint haben. Im zweiten Satz die Höchstzahlen, im dritten Satz die zusätzlichen, von den Mehrsitzen unterschiedenen Ausgleichsmandate.

Landeswahlgesetz Mecklenburg-Vorpommern

Eine vergleichbare Formulierung mit identischem Satz 3 (hier Satz 4) findet sich im Landeswahlgesetz für das Land Mecklenburg-Vorpommern (LWahlG MV). So lautet § 4 Abs. 6 LWahlG MV lautet:

In den Wahlkreisen errungene Sitze verbleiben der Partei auch dann, wenn sie die nach den Absätzen 3 und 4 ermittelte Zahl übersteigen (Mehrsitze). In diesem Fall werden den übrigen Landeslisten weitere Sitze zugeteilt. Die Gesamtzahl der Abgeordnetensitze (§ 1 Abs. 1) erhöht sich um so viele, bis unter Einbeziehung der Mehrsitze das nach den Absätzen 3 und 4 zu berechnende Verhältnis erreicht ist. Die Anzahl der weiteren Sitze darf dabei jedoch das Doppelte der Anzahl der Mehrsitze nicht übersteigen. Ist die erhöhte Gesamtsitzzahl eine gerade Zahl, so wird diese um einen zusätzlichen Sitz erhöht.

Auch hier ist die Bedeutung von „weiteren Sitzen“ nicht sofort ersichtlich und folgende Interpretationen für „weiteren Sitze“ erscheinen nicht ausgeschlossen:

Klare Regelung durch Gesetzgeber erforderlich

Für die endgültige Sitzverteilung der jetzt gewählten Kommunalvertretungen in den umstrittenen Fällen kann eine Klarstellung nur im Rahmen der Wahlprüfung erfolgen. Für die Zukunft dagegen sollte der Gesetzgeber den Ausgleich klar im Gesetz regeln. Dies gilt auch für die Landeswahlgesetze von Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern.

Wortlaut von § 10 GKWG

Die weiteren einschlägigen Absätze von § 10 Gemeinde- und Kreiswahlgesetz („Verhältnisausgleich“) lauten:

(1) An dem Verhältnisausgleich nimmt jede politische Partei oder Wählergruppe teil, für die ein Listenwahlvorschlag aufgestellt und zugelassen worden ist. Zur Berechnung der Stimmen für den Verhältnisausgleich werden für jeden Listenwahlvorschlag die Stimmen zusammengezählt, die die unmittelbaren Bewerberinnen und Bewerber der vorschlagenden politischen Partei oder Wählergruppe erhalten haben.

(2) Von der nach § 8 zu wählenden Gesamtzahl von Vertreterinnen und Vertretern wird die Anzahl der unmittelbar gewählten Vertreterinnen und Vertreter abgezogen, deren Stimmen nicht nach Absatz 1 für einen Listenwahlvorschlag mitgezählt worden sind. Die restlichen Sitze werden auf die Listenwahlvorschläge verteilt in der Reihenfolge der Höchstzahlen, die sich durch Teilung der für die Listenwahlvorschläge errechneten Gesamtstimmenzahlen durch 1, 2, 3, 4 usw. ergeben (verhältnismäßiger Sitzanteil). Über die Zuteilung des letzten Sitzes entscheidet bei gleicher Höchstzahl das von der Wahlleiterin oder vom Wahlleiter zu ziehende Los.

(3) Aus jedem Listenwahlvorschlag werden so viele Listenvertreterinnen und Listenvertreter berücksichtigt, wie verbleiben, nachdem die für die vorschlagenden politischen Parteien und Wählergruppen unmittelbar gewählten Bewerberinnen und Bewerber auf ihren verhältnismäßigen Sitzanteil angerechnet sind.

(4) Ist die Anzahl der in den Wahlkreisen für eine politische Partei oder Wählergruppe gewählten Bewerberinnen und Bewerber größer als ihr verhältnismäßiger Sitzanteil, so verbleiben ihr die darüber hinausgehenden Sitze (Mehrsitze). In diesem Fall sind auf die nach Absatz 2 Satz 2 und 3 noch nicht berücksichtigten nächstfolgenden Höchstzahlen so lange weitere Sitze zu verteilen und nach Absatz 3 zu besetzen, bis der letzte Mehrsitz durch den verhältnismäßigen Sitzanteil gedeckt ist. Die Anzahl der weiteren Sitze darf dabei jedoch das Doppelte der Anzahl der Mehrsitze nicht übersteigen.

(5) [...]

(6) [...]

von Martin Fehndrich (10.06.2008, letzte Aktualisierung am 17.06.2008)