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09.08.2007

Wir können alles, außer Hochdeutsch. (Teil 2)

Kriterium für Verfassungswidrigkeit im Wahlrechtsurteil des Staatsgerichtshofs für das Land Baden-Württemberg (GR 1/06)

Nachdem gezeigt werden konnte, daß Leitsatz 3 des Urteils auf einer mathematisch falschen Aussage basiert (vgl. Meldung vom 09.07.07), folgt nun eine Analyse des vierten Teils des Urteils. Hier folgert das Gericht aus einem praktisch unerfüllbaren Kriterium für Verfassungswidrigkeit, dass diese Vorschriften verfassungsgemäß waren. Im vierten Teil der Entscheidung steht:

4. Die Beschwerdeführer machen ferner geltend, dass die Vorschriften über die Verteilung der Sitze nach dem bei der angefochtenen Landtagswahl noch geltenden Berechnungssystem (§ 2 Abs. 1 Satz 1, § 2 Abs. 2 bis 5 und § 2 Abs. 6 Satz 2 LWG a.F.) gegen das verfassungsrechtliche Gebot des gleichen Erfolgswerts der Stimme verstoßen. Auch diese Rüge ist unbegründet, weil diese Vorschriften verfassungsgemäß waren.

Wenn man versucht die Verfassungsmäßigkeit eines Wahlrechtssystems zu prüfen, so sollte ein Wahlsystem um verfassungsgemäß zu sein bei allen Wahlergebnissen und für alle Parteien zu einer verfassungsmäßigen Sitzverteilung führen. Der Staatsgerichtshof in Baden-Württemberg verfolgt dagegen einen anderen Ansatz.

Er stellt ein Kriterium (*) für Verfassungswidrigkeit auf:

Verfassungswidrig ist ein vom Gesetzgeber gewähltes Verfahren der Ermittlung der Ausgleichsmandate nur dann, wenn es bei allen real in Betracht kommenden Fallgestaltungen und jeweils bei jeder Partei, mithin eindeutig, die schlechteren Ergebnisse bei der Sicherung des gleichen Erfolgswerts der Wählerstimmen liefert.

* (StGH BW, Urteil vom 14.06.2007, GR 1/06, Abs. 80 , das Kriterium wurde schon StGH BW, Urteil vom 12.12.1990, GR 1/90 (VBlBW 1991, 133) aufgestellt)

Das Verfahren muss für eine Verfassungswidrigkeit also

zu eindeutig schlechteren Ergebnissen führen.

Das Kriterium ist praktisch nicht zu füllen. Wie soll ein verfassungswidriges Verfahren aussehen, das diese Hürde nimmt? Da es sowohl für alle Wahlergebnisse und als auch für alle Parteien zu schlechteren Ergebnissen führen muss, kann man bei allen Wahlsystemen eine Verfassungswidrigkeit ausschließen, bei denen es für ein Beispiel und hier auch nur bei einer Partei zufälligerweise passt.

Test des Kriteriums am Beispiel der Gleichverteilung: Alle Parteien über der Sperrklausel erhalten unabhängig von der Stimmenzahl die selbe Anzahl von Sitzen. Ein simples Wahlsystem, ohne komplizierte Berechnungen von Höchstzahlen, Divisoren, Wahlkreisen etc., bei drei Parteien erhält jede Partei 40 Sitze, bei vier Parteien sind es 30.

Eindeutig verfassungswidrig, mag man meinen. Aber es ist immer noch denkbar, dass alle Parteien auch eine annähernd gleiche Stimmenzahl erhalten. Für den Nachweis der Verfassungsmäßigkeit reicht es aber, wenn es nur bei einer einzigen Partei bei einem real in Betracht kommenden Ergebnis passt. Eine Partei könnte beispielsweise genau ein Drittel oder Viertel der zu berücksichtigenden Stimmen erhalten und es würde passen. Da die SPD schon oft fast genau ein Drittel oder Viertel der Stimmen erhalten hat, ist dies durchaus eine reale Fallgestaltung, das konstruierte Wahlsystem wäre nach diesem Kriterium also nicht verfassungswidrig.

Und ähnlich läuft dann auch der Beweis des Gerichtshofs. Den zuvielen Sitze der CDU stehen die zuwenigen Sitze von Grünen und FDP entgegen, so dass es für die SPD unterm Strich wieder passt.

ParteiStimmenRelativer
Anteil in %
d’Hondt und AusgleichSainte-Laguë und Ausgleich
bezirksweiselandesweitbezirksweiselandesweit
CDU1.748.78148,18%6949,64%1,46%6948,59%0,41%6948,94%0,76%6948,25%0,07%
SPD996.09527,44%3827,34%-0,11%3927,46%0,02%3927,66%0,22%3927,27%-0,17%
GRÜNE462.88912,75%1712,23%-0,52%1812,68%-0,08%1712,06%-0,70%1812,59%-0,17%
FDP421.88511,62%1510,79%-0,83%1611,27%-0,36%1611,35%-0,28%1711,89%0,26%
Gesamt3.629.650100,00%1391142114111431

In der Tabelle werden die im Urteil beschriebenen „Berechnungen“ nachvollzogen (z. T. mit Rundungsabweichungen in der letzten Dezimalstelle). Verglichen werden die Ergebnisse des Wahlsystems zur Landtagswahl 2006 (D'Hondt und Ausgleich bezirksweise), des geltenden Wahlsystems für die kommende Landtagswahl (Sainte-Laguë und Ausgleich bezirksweise) sowie daneben jeweils die Ergebnisse bei landesweitem Ausgleich der Überhangmandate. In der Entscheidung wird ausschließlich das Ergebnis einer der im Landtag vertretenen Parteien (SPD) betrachtet.

Dabei ignoriert das Gericht:

Fazit: Das Gericht hat massive Probleme bei der Aufstellung und Unterscheidung von notwendigen und hinreichenden Bedingungen für Verfassungsmäßigkeit. Das bisherige und auch das derzeitige Wahlsystem erfüllen wohl das aufgestellte Kriterium, dies gilt aber auch für fast jeden Unsinn, den man sich als Wahlsystem ausdenken kann. Die Verzerrung in der Sitzverteilung bei CDU, Grüne, FDP sind nach der Logik des Gerichtes dadurch gerechtfertigt, dass es bei der SPD im Verhältnis zum Rest passt. Die Frage, warum die CDU zuviele Sitze und FDP und Grüne zuwenige Sitze erhalten dürfen, bleibt somit unbeantwortet.

Das Für und Wider beim bezirksweisen Ausgleich (also das Wider, es gibt kein Für), die Auswirkung des große Parteien/Bezirke begünstigenden Divisorverfahrens mit Abrunden (d’Hondt) bei der Unterverteilung auf die Bezirke, der mehrfach parallelen Anwendung bei der Verteilung der Ausgleichsmandate, und die Regelungslücke bei Verteilung der Ausgleichsmandate werden dagegen gar nicht erst diskutiert.

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von Martin Fehndrich (09.08.2007, letzte Aktualisierung am 09.08.2007)