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06.02.2006

Schottische Wahlrechtskommission legt Bericht vor

Kommissionsbericht „Putting Citizens First“

Die schottische Kommission für Wahlkreisgrenzen und Wahlsysteme (nach dem Vorsitzenden – Professor Sir John Arbuthnott – Arbuthnott-Kommission) legte am 19.01.2005 einen Bericht „Putting Citizens First“ mit Empfehlungen zu den Wahlen in Schottland vor.

Die wesentlichen Empfehlungen

Dabei versucht die Kommission das Denken in Strukturen des relativen Mehrheitswahlsystems zu überwinden und verurteilt dabei auch das teilweise geforderte Verbot für Kandidaten, gleichzeitig im Wahlkreis und auf der Regionalliste zu kandidieren. Für Wales wurde eine entsprechende Kandidaturbeschränkung inzwischen eingeführt, eine Reihe von Labour-Abgeordneten in Westminster versucht dies auf die schottischen Parlamentswahlen auszudehnen.

Mehr Klarheit soll auch durch begriffliche Änderungen erreicht werden, die personalisierte Verhältniswahl (analog dem Bundestagswahlsystem - siehe Vergleich) soll nicht mehr als „Additional Member System“ sondern als „Mixed Member System“ bezeichnet werden, um die Eigenständigkeit des Wahlsystems hervorzuheben, auch sollte statt von Erst- und Zweitstimme von Wahlkreisstimme und Regional(listen)stimme gesprochen werden.

Darüberhinaus wird gefordert, vor einer Wahl genau über die Funktionsweise des Wahlrechts und nach der Wahl über das Wahlergebnis zu informieren sowie die jeweils Gewählten als Ansprechpartner für die Wähler vorzustellen.

Dies erscheint auch notwendig, denn Umfragen belegen, daß unter den Wählern deutliche Fehlvorstellungen über das Wahlsystem herrschen. So wird die Zweitstimme als weniger wichtige Stimme für die zweitliebste Partei angesehen, die auch nicht an dieselbe Partei wie die Partei des gewählten Wahlkreiskandidaten gehen dürfe. Um die Konfusion durch unterschiedliche Wahlsysteme bei unterschiedlichen Wahlen zu reduzieren, sollen die Termine der Parlamentswahl (personalisierte Verhältniswahl) und der Kommunalwahlen (STV) zeitlich getrennt werden.

Das Zweistimmenwahlsystem soll auch deshalb nicht zu einem Einstimmenwahlsystem (mit Stimme sowohl für Wahlkreis als auch für Regionalliste) umgestaltet werden, damit die Regionallistenabgeordneten als eigenständig gewählt und nicht als durch Auffüllliste bestimmt, angesehen werden. Darüberhinaus schmälere es die Chancen unabhängiger Kandidaten und zwinge kleine Parteien Ressourcen in Wahlkreisen zu verschwenden, in denen sie gar nicht kandidieren wollten.

Es wird auch auf eine rasche Einführung von E-Voting gedrängt, allerdings ohne im Report näher auf Vor- oder Nachteile einzugehen.

Die Kommisson, die vor 18 Monaten zur Begutachtung der Auswirkungen der vier in Schottland verwendeten Wahlsysteme eingesetzt wurde, sieht ihre Empfehlungen nicht als endgültige Lösung, sondern empfiehlt nach den Erfahrungen mit zwei weiteren Wahlen einen erneuten Review. Dabei soll dann auch eine Einführung von STV geprüft werden, das von einem Teil der Kommission auch jetzt schon für die Parlamentswahl empfohlen wurde.

Kommentar

(mf) Auch wenn die Kommission das Wahlsystem als eigenständiges System und nicht als Fortentwicklung des relativen Mehrheitswahlsystem darstellen möchte, bleibt auch die Kommission teilweise im Denken alten Kategorien verhaftet.

So sollen die Wahlkreisabgeordneten vorwiegend für ihren Wahlkreis, die Regionallistenabgeordneten vorwiegend für regionsweite Angelegenheiten als Ansprechpartner zur Verfügung stehen – die kritisierte Zweiklassengesellschaft der Abgeordneten von Wahlkreis vs. Liste lebt weiter fort.

Das Prinzip der Wahl als vorwiegende Verhältniswahl wird auch von der Kommission nicht in allen Konsequenzen erkannt. Die eigentliche Wertigkeit der Stimmen, nämlich der Wahlkreisstimme als für die parteipolitische Zusammensetzung weitgehend bedeutungslose und der Listenstimme als für die Verteilung aller (und nicht nur der Hälfte der) Sitze relevanten Stimme, wird anscheinend nicht erkannt.

So bleibt hier auch das Auftreten und die Auswirkung von Überhangmandaten – als gewisse Abweichung von dieser Regel – in einigen Regionen völlig unerkannt.

Auch das Problem der Nachwahl wurde nur in Hinblick auf die Regionallistenabgeordneten thematisiert (und festgestellt, daß man schon früher gemerkt hat, daß hier eine Nachwahl – ebensowenig wie bei STV – nicht sinnvoll geregelt werden könne).

Auch dies belegt, daß das Prinzip Verhältniswahl von der Kommission noch nicht völlig verinnerlicht wurde. Denn eine Nachwahl macht auch für Wahlkreisabgeordnete, die nach der Logik der personalisierten Verhältniswahl doppelt, nämlich im Wahlkreis und über die Liste gewählt werden, keinen Sinn. Sie führt zu dem paradoxen Effekt, daß es für eine Partei besser sein kann, bestimmte Wahlkreise nicht gewonnen zu haben (um sie später durch eine Nachwahl gewinnen zu können, bzw. nicht verlieren zu können Paradoxon: Nachwahl bei personalisierter Verhältniswahl), eine Erkenntnis, die sich im Ersten Deutschen Bundestag 1952 nach 14 Nachwahlen (davon drei mit proporzwidrigen Änderungen der Fraktionsstärken) durchgesetzt hatte.

Die Kommission empfiehlt eine offene Liste, ohne sich über Details auszulassen und über deren Einbindung in ein personalisiertes Verhältniswahlsystem mit (mehr als) hälftigem Wahlkreisabgeordnetenanteil nachzudenken.

Der Wert einer Personenstimme auf der Liste steigt nämlich mit dem Mißerfolg der Wahlkreiskandidaten dieser Partei. Im Gegenschluß sind die Personenstimmen für eine Partei, die in der entsprechenden Region nur Wahlkreisabgeordnete ins Parlament schickt wertlos.

Letztlich bedeutet ein Zweistimmenwahlrecht, daß die Wähler von LibDems und Tories entscheiden, welche Labour-Abgeordneten im Parlament sitzen und welche nicht.

Insgesamt bietet der Report einige gute Analysen, zeigt Verbesserungspotentiale auf und warnt vor Fehlentwicklungen.


von Martin Fehndrich (letzte Aktualisierung: 06.02.2006)