Ausgleichsmandate NRW |
[Nordrhein-Westfalen] |
Das Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen hat mit Schreiben vom 24. September 2009 gegenüber dem Landtag Stellung zur umstrittenen Berechnung von Ausgleichsmandaten bei den Kommunalwahlen vom 30. August genommen (Ausschussvorlage 14/2852, PDF 2,2 MB).
Die Argumentation zur Sitzberechnung findet sich auf den Seiten 2 bis 4 des Briefes (Abschnitt 1: „Nichtberücksichtigung von ...“).
Im ersten Teil (1.1) wird die gesetzliche Lage dargestellt. Hier fällt die wiederholte Verwendung des Ausdruckes „Aufstockung“ auf, der im Gesetzestext nicht vorhanden ist.
Interessanter wird es in Teil 1.2 („Konkretisierung in der Kommunalwahlordnung“). Der Begriff „Konkretisierung“ in der Überschrift vermittelt den Eindruck, die Wahlordnung würde sich im Rahmen des Wahlgesetzes bewegen. Ein Widerspruch von KWahlG („Gesamtstimmenzahl“) zu KWahlO („reduzierte Gesamtstimmenzahl“) wird hier noch nicht erkannt, auch wenn später eine Regelungslücke und Wertungswidersprüche gesehen werden. Stattdessen wird durch Einschub eines in der Wahlordnung nicht vorhandenen „(noch)“ das Gesetz neuinterpretiert zu „der (noch) am Verhältnisausgleich teilnehmenden Parteien und Wählergruppen“.
Die Knackpunkte finden sich dann in Teil 1.3 („Zulässigkeit des Abzugs der Stimmen von ...“):
Hier wird behauptet, § 33 Abs. 3 KWahlG regele nicht explizit die Gesamtstimmenzahl für den neuen Verhältnisausgleich. Es wird also – ohne das Wort ausdrücklich zu verwenden – eine Regelungslücke behauptet. Die Notwendigkeit einer solch expliziten Regelung lässt das Gesetz aber nicht erkennen. Nichts im Gesetz spricht dagegen, dass die „Gesamtstimmenzahl nach Absatz 1“ nach wie vor dieselbe wie beim ersten Rechenschritt ist und nur die Gesamtsitzzahl geänderter Parameter der Neuberechnung ist.
Der Brieftext sieht dann Bedarf für eine verfassungsgemäße Auslegung der Zielsetzung des Gesetzes (also nicht einer Auslegung des Gesetzestextes selbst). Bei der angeblichen Zielsetzung bezieht man sich kurioserweise auf die aufgehobene (da verfassungswidrige) Einsitz-Sperrklausel (vgl. Urteil vom 16. Dezember 2008). Ob der Zielsetzung einer für verfassungswidrig erklärten Regelung Relevanz zukommt, darf wohl mit Fug und Recht bezweifelt werden.
Im Folgenden scheint der Autor des Briefes zu einer nur ihm vorliegenden Version des Gesetzes gegriffen zu haben, bei der in Satz 1 des § 33 Absatz 3 steht, dass die Verteilung nur „unter den Parteien und Wählergruppen stattzufinden hat, denen nach § 33 Abs. 2 KWahlG rechnerisch Sitze ‚zustehen‘“. Bei der Berechnung in § 33 Abs. 3 KWahlG gehe es um eine „Aufstockung“ von Sitzzahlen und eine Sitzzahl Null könne nicht aufgestockt werden. Eine abwegige Interpretation, die sich keinesfalls aus § 33 Abs. 3 KWahlG ergibt. Sie widerspricht im Übrigen auch der Anwendung der ähnlichen Regelung zur Wahl 1999 und 2004, bei der es beispielweise 2004 in Ratingen einen Ausgleichssitz als ersten Sitz gegeben hat.
Inwieweit dann § 61 Abs. 5 KWahlO das Gesetz konkretisiert (oder ihm widerspricht), kann dahingestellt bleiben, aber auch die KWahlO regelt nicht explizit, dass Kleinstparteien an der folgenden Regelung nicht teilnehmen dürfen. Streng genommen unterscheiden sich das Gesetz und die Verordnung nur bei der Bestimmung der Gesamtstimmenzahl. Die „Gesamtstimmenzahl“ ist aber nur ein vernachlässigbarer Formelwert, bei dem es durchaus sinnvoll sein kann, diesen anfangs etwas kleiner zu wählen, um am Ende ein vernünftiges Endergebnis zu bekommen. Gemäß § 33 Absatz 3 Satz 5 KWahlG ist das Ergebnis nämlich ohnehin so lange um zwei zu erhöhen, bis es passt.
Im Weiteren wird dann § 33 Abs. 2 KWahlG (zur Vermeidung der „Wertungswidersprüche“) so interpretiert, wie es aus der Wahlordnung folge. Die Widersprüche sollen also zu Lasten des Gesetzes und nicht der eigentlich nachrangigen Wahlordnung gehen. Bezeichnenderweise wird mit keinem Wort § 51 KWahlG erwähnt, der in einer langen Aufzählung vom Auflagenersatz für Wahlhelfer bis hin zur Wahlstatistik auflistet, was in der Kommunalwahlordnung geregelt werden darf; eine „Konkretisierung“ der Ausgleichsmandatsregelung gehört nicht dazu.
Abschließend (Seite 4 unten) folgert das Innenministerium aus einer mathematisch falschen Aussage eine verfassungsrechtliche Notwendigkeit. Gewinne eine Gruppierung durch die Aufstockung einen ersten Sitz, verliere als unmittelbare Folge eine andere Gruppierung einen Sitz. Und zwar einen Sitz aus der Ausgangsberechnung. Das ist mathematisch falsch: Nicht nur in den betrachteten vier Fällen, in denen jeweils nur ein Ausgleichsmandat (und kein Sitz der Ausgangsverteilung) anders verteilt würde, sondern ein solcher Fall ist beim geltenden Sitzzuteilungsverfahren überhaupt mathematisch unmöglich. Denn gäbe es eine solche Partei, die durch die Aufstockung einen Sitz verlieren würde, wäre dieser Sitz schon in der Ausgangsverteilung an eine andere Gruppierung gefallen.
Würde noch das Quotenverfahren mit Restausgleich nach größten Bruchteilen (Hare/Niemeyer) wie bei den Kommunalwahlen bis 2004 gelten, ließe sich so ein Beispiel unter Ausnutzung des Alabama-Paradoxons konstruieren. Seit den Kommunalwahlen 2009 gilt aber – wenn auch in einer grotesk umständlichen Beschreibung – das Divisorverfahren mit Standardrundung (Sainte-Laguë), bei dem die Sitze im Prinzip Sitz für Sitz vergeben werden. Hier kann ein zusätzlich zu vergebender Sitz niemals vorher vergebene Sitze verdrängen.
Gerade dieser Abschnitt verdeutlicht in besonderem Maße die Unkenntnis im Innenministerium über die Eigenschaften des Wahlverfahrens. Das erklärt nicht nur die Widersprüche zwischen Wahlgesetz, Wahlordnung und Berechnungsvorschrift, sondern auch die vielen Ungereimtheiten in den anderen Wahlrechtsparagraphen. Ausgerechnet im größten Bundesland sind die zuständigen „Fachleute“ im Innenministerium anscheinend weder in der Lage, eine halbwegs sinnvolle und verständliche Formulierung des Sitzzuteilungsverfahrens in Gesetz und Verordnung zu schreiben, noch schaffen sie es, die selbst verzapften Formulierungen dann korrekt anzuwenden.
Darüberhinaus bedeuten die vom Innenministerium verwendeten Begriffe „Konkretisierung“, „verfassungsgemäße Auslegung“ und „Wertungswidersprüche“ letztlich auch, dass im Gesetz nicht das drinsteht, was man regeln wollte – ein indirektes Eingeständnis handwerklicher Mängel.