Kritik am kommunalen Wahlsystem in NRW

[Nordrhein-Westfalen]

Diese Mängelliste bezieht sich auf das neue nordrhein-westfälische Kommunalwahlsystem von September 2007 plus Änderungen 2009.

Mängel

  1. Unsaubere Formulierung des Divisorverfahrens mit Standardrundung (Sainte-Laguë)
    1. Es fehlt eine konkrete Vorschrift zur Ermittlung des richtigen Divisors (die für den kommunalen Wahlleiter nachvollziehbar ist)
    2. Nicht durchführbare Handlungsanweisung: Durch die Rundungsvorschrift ab 0,5 ... aufzurunden ist der nächstfolgende Divisor nicht definiert. Hier müßte nämlich abgerundet werden. (Beispiel mit Schritt für Schrittrechnung)
    3. Die Regelung versagt, bei gleichen Ansprüchen auf den letzten Sitz.
    4. Die Berechnung von vier Stellen nach dem Komma ist für die Entscheidung größer oder kleiner 0,5 sinnlos, soweit mit den vier Stellen eine Standardrundung gemeint sein sollte, kann dies zu falschen Ergebnissen führen.
  2. Bezug der 1,0-Einsitz-Sperrklausel auf den beweglichen Zuteilungsdivisor. Dies kann im Gegensatz zur vermutlichen Intention des Gesetzgebers dazu führen, daß die Hürde auf fast 2,0-Sitz steigen kann, bzw. daß eine Partei mit 5% oder mehr Stimmen nicht in den Gemeinderat einzieht. Eine Sperrklausel oberhalb von 5%, aber auch oberhalb eines ganzen rechnerischen Sitzes ist verfassungsrechtlich bedenklich, insb. ohne verfassungsrechtliche Begründung.
    Darüberhinaus fordert nach einem Gutachten des Innenministeriums [14/0069 S. 21] das VerfGH NRW auch für eine Einsitzsperrklausel eine gründliche und umfassende verfassungsrechtliche Prüfung.

    Der Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen hat am 16.12.2008 die Verfassungswidrigkeit der Einsitzsperrklausel festgestellt (VerfGH 12/08).
  3. Die Mehrheitsklausel scheint für das alte Quotenverfahren mit Restausgleich nach größten Bruchteilen (Hare/Niemeyer) zugeschnitten zu sein und nicht auf das des neueingeführten Divisorverfahren mit Standardrundung (Sainte-Laguë), da hier gegen das Prinzip des neuen Verfahrens wieder nach größten Resten verteilt wird. Ein Beispiel eine Verteilung entgegen Sainte-Laguë ist der Kreistag Coesfeld. (Und nebenbei ist die Bezeichnung Zusatzmandat irreführend, da das Mandat nicht zusätzlich zugeteilt wird, sondern anderen Parteien weggenommen wird.)
  4. Die Berechnung der Ausgleichsmandate enthält einen Regelungswiderspruch. Entgegen der Norm in §33 Abs. 4 Satz 1 kann das Verfahren (Formelfehler in §33 Abs. 4 Satz 2-4) zuviele Mandate zuteilen (Überausgleich). Ein möglicher Unterausgleich durch die fehlerhafte Formulierung wird nur durch eine nachträglich eingefügte Regelung abgefangen.
    Negatives Stimmgewicht, da durch den Überausgleich Ausgleichsmandate an die überhängende Partei selbst gehen können.
  5. Zahl der Ausgleichsmandate kann beliebig hoch gehen (wenn kleine Partei ein Direktmandat bekommt).
  6. Einmalige Regelung einer nur relativen Mehrheitswahl der Bürgermeister, durch Abschaffung der Stichwahl. Auch der manchmal gehörte Vergleich mit Wahlkreisabgeordneten ist schief, da diese auch per Proporz und damit doppelt gewählt sind.
  7. halbe Ersatzbewerberregelung, nur für den Todesfall vor der Wahl.
  8. Unklare Anwendungsreihenfolge von Mehrheitsklausel und Ausgleichsmandateregelung. Dies kann möglicherweise dazu führen, daß die Anwendung der Mehrheitsklausel zu Überhangmandaten führt (wird dann ausgeglichen?) oder ein Ausgleich eine Mehrheit verändert.
  9. Nach den Änderungen 2009 aufgrund des Streichens der verfassungswidrigen Einsitzsperrklausel:
    Soll eine Partei als ersten Sitz ein Ausgleichsmandat bekommen können? Die unklare Regelung führte 2009 zu einer Reihe von Wahlprüfungen (siehe Meldung 01.09.2009 von).

Verbesserungsmöglichkeiten

  1. Saubere Formulierung des Divisorverfahrens mit Standardrundung, wie z.B. beim Gutachter Pukelsheim
    1. Trennung von Norm und Verfahrensbeschreibung (Norm ins Gesetz und Handlungsanweisung in die Wahlordnung), wie z.B. Gutachter vorgeschlagen
    2. Der Paragraph 33 Abs. 2 endet mit Satz 3. (Das ist die Norm, für eine eindeutige Verteilung völlig ausreichend)
    3. Bei einem gleichen Anspruch auf den letzten Sitz, ist der Divisor so zu wählen, daß mehrere Parteien einen Nachkommaanspruch von glatt 0,5 haben. Auf oder Abrundung wird hier per Los entschieden.
  2. Eine 1,0-Einsitzhürde darf sich nicht auf den beweglichen Divisor beziehen, sondern muß sich auf den festen Divisor= Gesamtstimmen/Gesamtsitzzahl beziehen. Auch für die ursprünglich vorgesehene 0,75-Sitzhürde macht ein Bezug auf den beweglichen Divisor keinen Sinn. Allerdings kann man mit dem Wert 0,75 das Divisorverfahren modifizieren (ähnlich wie in Dänemark oder Polen, vgl. Dänische Methode) und so in das Divisorverfahren integrieren. Dies bedeutet, daß Zahlenbruchteile einer Partei mit höchstens einem (aufgerundeten) Sitz erst ab 0,75 aufgerundet werden. In der Divisorfolge wäre der erste Wert von 0,5 durch 0,75 zu ersetzen (weiterhin gefolgt von 1,5; 2,5 ....). Während auch eine echte 1,0-Sitzhürde weiterhin verfassungsrechtlich begründet werden muß, ist fÜr eine integrierte 0,75-Sitzhürde auch eine technische Begründung denkbar.
    Eine Partei kann dann nicht mehr dieselbe Anzahl von Sitzen wie eine weniger als halb so große Partei erhalten. Damit entfiele auch ein Aufspaltungsanreiz (Für eine Gruppierung mit einem rechnerischen Anspruch von 1,2 besteht ein Anreiz, sich in zwei Gruppierungen mit einem jeweils aufzurundenen Anspruch von 0,6 aufzuteilen).
  3. Saubere Mehrheitsklausel nach dem Prinzip itio in partes. Die Mehrheitspartei erhält die für eine Mehrheit nötige Zahl an Sitzen, die anderen Parteien erhalten nach dem Divisorverfahren mit Standardrundung (Sainte-Laguë) die verbleibenden Sitze zugeteilt. Eine Formulierung findet sich beispielsweise in der Wahlrechtsstellungnahme Pukelsheim/Maier (Stellungnahme 14/1261 S. 10 Punkt 7A)
  4. Es sollten nur soviele Ausgleichsmandate wie nötig verteilt werden, mehr nicht. Also Aufstockung auf die kleinste gerade Mandatszahl ohne Überhang.
  5. Beschränkung der Zahl der Ausgleichsmandate. Dies könnte durch eine beschränkte Ausgleichsmandateverteilung erreicht werden, bei der man (nur) für die Ausgleichsmandate-Berechnung annimmt, die Miniüberhangpartei hätte 5 % der Stimmen bekommen. Über den dadurch ermittelten Divisor berechnet man die neue Sitzzahl der anderen Parteien (vgl. Punkt 5, die beschränkte Ausgleichsmandateverteilung).
  6. Alternativstimme statt Stichwahl (San Francisco, London). Damit hat man auch das Beteiligungsproblem eines zweiten Wahlgangs im Griff.
  7. ganzer Ersatzbewerber. Der Ersatzbewerber ist nicht nur Ersatzmann für den Tod vor dem Wahltag, sondern auch Nachrücker für den Wahlkreis-Abgeordneten in der gesamten Wahlperiode. Dadurch wird es auch unwahrscheinlicher, daß ein Wahlkreis in der Legislaturperiode verwaist.

Die ersten fünf Vorschläge stellen nur rein technische Verbesserungen ohne Eingriff in die Struktur des Wahlsystems selber dar. Punkte wie die Einführung von Kumulieren und Panaschieren – wie vom Verein Mehr Demokratie gefordert, sind daher hier nicht aufgeführt.


von Martin Fehndrich (10.10.2007, letzte Aktualisierung: 30.12.2009)