16. Deutscher Bundestag

[Wahlprüfung]

Beschluss vom 30. März 2006

WP 180/05

BT-Drucks. 16/900, 31 (Anlage 13)

„Erfolgswertgleichheit“


Informationen Informationen zur Entscheidung, Entscheidungen 2000–heute

Beschluss

[BT-Drucks. 16/900, 31 (31)] Zum Wahleinspruch
des Herrn M. C., ...
– WP 180/05 –
gegen
die Gültigkeit der Wahl zum 16. Deutschen Bundestag am 18. September 2005
hat der Wahlprüfungsausschuss in seiner Sitzung vom 9. März 2006 beschlossen,
dem Bundestag folgenden Beschluss zu empfehlen:

Entscheidungsformel:

Der Wahleinspruch wird zurückgewiesen.

Tatbestand:

Mit einem am selben Tag eingegangenen Schreiben vom 18. November 2005 hat der Einspruchsführer gegen die Gültigkeit der Wahl zum 16. Deutschen Bundestag Einspruch eingelegt. Zum einen wird durch die insgesamt sechzehn Überhangmandate (sieben für die CDU, neun für die SPD), die nicht vom Proporz der Zweitstimmen getragen seien, eine Verletzung der Erfolgswertgleichheit i. S. d. Grundsatzes der Wahlrechtsgleichheit gerügt. Zum anderen genüge, ohne dies näher auszuführen, das Zuteilungsverfahren Hare/Niemeyer nicht den Anforderungen der Erfolgswertgleichheit. Dabei geht der Einspruchsführer selbst davon aus, dass eine Mandatsrelevanz ohne Einbeziehung anderer Wahlfehler bei dieser Wahl nicht gegeben sei. Beide Einwände hatte der Einspruchsführer bereits gegen die Bundestagswahl 2002 erhoben (vgl. Bundestagsdrucksache 15/1850, S. 29 ff.; eine Wahlprüfungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht ist noch anhängig). 1
Der Wahlprüfungsausschuss hat nach Prüfung der Sach- und Rechtslage beschlossen, gemäß § 6 Abs. 1a Nr. 3 des Wahlprüfungsgesetzes von der Anberaumung einer mündlichen Verhandlung abzusehen. 2

Entscheidungsgründe

Der Einspruch ist zulässig, jedoch offensichtlich unbegründet. 3
Soweit der Einspruchsführer eine Verfassungswidrigkeit der das Entstehen von Überhangmandaten ermöglichenden § 6 Abs. 4 und 5 des Bundeswahlgesetzes (BWG) sowie der gesetzlichen Festlegung des Berechnungsverfahrens Hare/ Niemeyer geltend macht, lässt sich hieraus kein Wahlfehler ableiten. Die Verteilung der Sitze nach der Bundestagswahl 2005 beruht auf einer korrekten Anwendung des geltenden Rechts. 4
Wie auch dem Einspruchsführer bekannt, lehnt es der Deutsche Bundestag im Verhältnis zum Bundesverfassungsgericht ab, die Verfassungswidrigkeit von Wahlrechtsnormen festzustellen. Davon abgesehen werden die erhobenen verfassungsrechtlichen Bedenken nicht geteilt. 5
Die den Überhangmandaten zugrunde liegenden Vorschriften hat das Bundesverfassungsgericht 1997 als mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar festgestellt und ausdrücklich ausgeführt, dass die Ermöglichung von Überhangmandaten ohne Ausgleich für andere Parteien den Anforderungen der Wahlgleichheit nach Artikel 38 Abs. 1 Satz 1 GG genügt und die Chancengleichheit der Parteien wahrt (BVerfGE 95, 335 <357>). 6
Der Deutsche Bundestag hat sich wiederholt mit den durch Überhangmandate aufgeworfenen Fragen befasst, aber keinen Änderungsbedarf ermittelt. Bereits vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts hatte sich der Deutsche Bundestag intensiv mit den Regelungen beschäftigt und sie unter Hinzuziehung von Sachverständigen auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft. So war in der 13. Wahlperiode die Reformkommission zur Größe des Deutschen Bundestages zu dem Ergebnis gekommen, dass die betreffenden wahlrechtlichen Regelungen verfassungsgemäß seien und keine verfassungsrechtliche Notwendigkeit bestehe, Überhangmandate z. B. durch Ausgleichsmandate oder eine Verrechnung bei den verbundenen Landeslisten auszugleichen (vgl. Bundestagsdrucksache 13/4560). In dem nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vorgelegten Schlussbericht ist einvernehmlich keine Änderung des BWG vorgeschlagen worden (Bundestagsdrucksache 13/7950). Auch in der Folge hat sich der Deutsche Bundestag wiederholt mit Überhangmandaten beschäftigt. Zum einen sind Wahleinsprüche gegen die Bundestagswahl 1998 mit 13 Überhangmandaten und – mehrheitlich – gegen die Bundestagswahl 2002 mit fünf Überhangmandaten zurückgewiesen worden (vgl. Bundestagsdrucksache 14/1560, z. B. Anlagen 29, 31 und 32 sowie Bundestagsdrucksache 15/1850 – z. B. Anlagen 3 bis 5, 7). Zum anderen fanden Gesetzentwürfe der 13. Wahlperiode, die die Kompensation von Überhangmandaten vorsahen (vgl. Bundestagsdrucksache 13/5750; Plenarprotokoll 13/129 vom 11. Oktober 1996, S. 11631 ff.) ebenso wenig eine Mehrheit wie eine Initiative in der 14. Wahlperiode (vgl. Bundestagsdrucksache 14/2150; Plenarprotokoll 14/134 vom 23. November 1999, S. 12992 ff.). 7
Für den Gesetzgeber bestand angesichts der Entwicklungen seit dem Urteil von 1997 kein Anlass, die wahlrechtlichen [BT-Drucks. 16/900, 31 (32)] Bedingungen für Überhangmandate zu ändern. Soweit laut Bundesverfassungsgericht der Gesetzgeber darauf zu achten hat, dass sich die Zahl der Überhangmandate in Grenzen hält, hat das Gericht bezüglich eines gesetzgeberischen Handlungsbedarfs auf das 5-Prozent-Quorum zurückgegriffen (BVerfGE 95, 366). Fünf Überhangmandate bei der Bundestagswahl 2002 blieben jedoch ebenso unter dieser Grenze wie 13 bei der Wahl 1998. Das Gleiche gilt für die nunmehr 16 Überhangmandate. Bezüglich der Wahlkreisgrößen enthält § 3 BWG Maßgaben für die Einteilung der Wahlkreise. So soll die Bevölkerungszahl eines Wahlkreises von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl der Wahlkreise nicht um mehr als 15 Prozent nach oben oder unten abweichen; beträgt die Abweichung mehr als 25 Prozent, ist neu abzugrenzen. Diese Regelung in § 3 BWG hat auch der Neuabgrenzung der Wahlkreise für die Wahl zum 16. Deutschen Bundestag zugrunde gelegen (so im Siebzehnten Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 11. März 2005 – BGBl. I S. 674). 8
Ob künftig die Regelungen verändert werden sollen, ist nicht im Wahlprüfungsverfahren, sondern nach Einbringung entsprechender Initiativen im Gesetzgebungsverfahren zu beraten. 9
Auch mit der Frage des verfassungsrechtlich richtigen Berechnungsverfahrens hat sich der Deutsche Bundestag im Rahmen der Wahlprüfung zu den Bundestagswahlen 1998 und 2002 befasst (vgl. Bundestagsdrucksachen 14/1560, S. 178, 15/1850, S. 31). Zu bekräftigen ist die seinerzeitige Bewertung, dass sich mit keinem der drei üblichen Verfahren mathematisch absolut exakt die Stimmenverhältnisse auf die Verteilung der Sitze im Deutschen Bundestag übertragen lassen. Gewisse Abstriche sind bei der Erfolgswertgleichheit aller Stimmen hinzunehmen. Dies liegt daran, dass die jeweiligen Ansprüche zwar bruchteilsmäßig genau berechnet werden können, dass aber auch auf bruchteilsmäßig berechnete Ansprüche nur ganze Sitze zugeteilt werden können. Jedes Verfahren erfordert daher Rundungen, deren Methode sich je nach Verfahren unterscheidet. Sind aber Ungenauigkeiten nach jedem Verfahren unvermeidbar, liegt die Auswahl des Verfahrens im Ermessen des Gesetzgebers. Das Bundesverfassungsgericht hat 1988 gerade mit Blick auf das Verfahren Hare/Niemeyer festgestellt, dass die Verteilung von Resten ganzer Zahlen auf zu vergebende ganze Sitze zwangsläufig zu einem real unterschiedlichen Erfolgswert der für die einzelnen Parteien abgegebenen Stimmen führt und im Ergebnis die Entscheidung für ein bestimmtes System der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers überlassen bleibt (BVerfGE 79, 169 <171>). 10
Hiervon zu trennen – und nicht Gegenstand des Wahlprüfungsverfahrens – ist die Frage, ob zum Verfahren Sainte Laguë/Schepers gewechselt werden sollte. 11

 


Matthias Cantow