Überhangmandat und negatives Stimmgewicht

[Überhangmandate]

Bundesverfassungsgericht: Negatives Stimmgewicht verfassungswidrig (Urteil im Volltext)

Ein massiver Fehler des Bundeswahlgesetzes:

Überhangmandate können durch Stimmenverluste einer Partei entstehen und diese dann dafür belohnen.

Beispiele:

Kritik, Probleme

Negatives Stimmengewicht

Gerade in der Kombination mit Ober/Unterverteilungssystemen wie bei der Bundestagswahl führt die jetzige Regelung dazu, dass die Wähler eine möglicherweise überhängenden Landesliste nicht wählen dürfen, da diese dadurch sonst Sitze verlieren würde (siehe konkrete Beispielrechnungen). Dies geschieht regelmäßig seit 1957 (Liste) und betrifft insbesondere die Wähler in Bremen, die denken sie hätten SPD gewählt (oder nicht gewählt). Negative Stimmen treten immer dann auf, wenn interne Überhangmandate auftreten (bzw. knapp verfehlt werden).

Auf diesen Missstand wurde der Deutsche Bundestag wiederholt hingewiesen, ohne dass sich der Bundestag damit bisher auseinander gesetzt hat.

Die verletzten Wahlgrundsätze sind:

  1. die Gleichheit der Wahl (vgl. Juristenzeitung 1997, S. 761: „Inverser Erfolgswert“), da spätestens durch eine Stimme die weniger wert ist, als eine nicht abgegebene Stimme, eine Wahlungleichheit nicht mehr gerechtfertigt kann,
  2. die Freiheit der Wahl, da ein Wähler, der diese Möglichkeiten des Wahlsystems bei seiner Wahlentscheidung berücksichtigt, gezwungen wird, auf den ersten Blick absurde Überlegungen anzustellen, z. B. eine Partei zu wählen, um ihr damit zu schaden. (Die Überlegung an sich ist dabei überhaupt nicht absurd, sondern das Wahlsystem, welches zu irrationalen Überlegungen zwingt.)
  3. die Unmittelbarkeit der Wahl, denn wenn eine Stimme für eine Partei durch den mathematischen Prozess der Sitzberechnung in eine Stimme gegen die gewählte Partei umgewandelt wird, wird der Wählerwille nicht mehr unmittelbar in eine Sitzverteilung umgesetzt, sondern der Wählerwille wird derart verfälscht, dass die Stimmabgabe das totale Gegenteil des vom Wähler Gewollten bewirkt.

Eine Rechtfertigung negativer Stimmen, d. h., der Zusatzmandate, die eine Partei als Belohnung für besonders wenige Zweitstimmen erhält, erscheint praktisch ausgeschlossen. Es ist fraglich, inwieweit solch ein Wahlsystem im mathematischen Sinne als Wahl bezeichnet werden kann. Unvermeidlich oder gar notwendig ist dieser Wahlrechtsfehler keinesfalls, da eine relativ einfache und mathematisch saubere Lösungsmöglichkeit (interne Kompensation) besteht.


Parteien erhalten deshalb mehr Mandate, weil sie Stimmen verloren haben. Dies gilt besonders regelmäßig für die SPD in Bremen und immer dann, wenn Überhangmandate auftreten.

Wenn unumstößliches Kriterium einer Wahl ist, dass mehr Stimmen nur mehr (und nicht weniger) Parlamentssitze bedeuten können, dann widersprechen die Regelungen der Bundestagswahl dem Prinzip der freien und unmittelbaren Wahl.

Der Einwand, Überhangmandate seien Folge des Mehrheitswahlrechts und daher demokratisch legitimiert, stimmt so nicht. Vielmehr ist das System von Direktmandaten einerseits und Landeslisten andererseits einfach nur stümperhaft miteinander verknüpft worden. (Weder Mehrheits- noch Verhältniswahl produzieren so einen Unfug.)

Der Vorwurf, durch eine Verbindung der Landeslisten – wie von den Bündnisgrünen vorgeschlagen (BT-Drucks. 13/5575) – entstehe eine Bundesliste, trifft auch nicht zu. Bei der Berechnung der Mandate werden jetzt schon alle Zweitstimmen einer Partei zu einem Bundesergebnis zusammen gezählt und die Mandate dieser „Bundesliste“ auf die Landeslisten verteilt (§ 7 Abs. 2 BWahlG).

Der Versuch die Überhangmandate zu personifizieren führt zum Ergebnis, dass es sich um Listenmandate und nicht um Direktmandate einer Partei handelt.

Die Einteilung der Wahlkreise beeinflusst das mögliche Auftreten der Überhangmandate. Besonders die ungleichmässige Verteilung der Wahlkreise auf die Bundesländer begünstigt dies. Der immer wieder betonte Einfluss des Zuschnitts der Wahlkreise ist dagegen vernachlässigbar klein.

Das vielzitierte bewährte Wahlrecht hat diesen Fall der massiv gehäuften Überhangmandate noch gar nicht eintreten lassen, solange es ein Quasi-Zweiparteiensystem mit CDU und SPD gab.

Vielmehr zeigt sich, dass die Gültigkeit der Wahl stark vom Wahlergebniss abhängt. Da selbst die vier Verfassungsrichter, die die Überhangmandate von 1994 als zu Recht erworben ansehen, eine Obergrenze der Überhangmandatszahl in der Größe von fünf Prozent der reguläre Gesamtzahl der Parlamentssitze sehen, droht bei unverändertem Wahlrecht ein verfassungswidriges Wahlergebnis.

Dabei wäre es doch so einfach, das Wahlrecht ohne große Änderungen zu verbessern (Verbesserungsvorschläge).

Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 10.04.1997 – 2 BvF 1/95 – (BVerfGE 95, 335)

Auszüge:

Begründung des die Entscheidung tragenden Teils des 2. Senats, hervorgehoben sind die Ansprüche an das Wahlsystem, die meiner Meinung nach zur Zeit nicht erfüllt werden (C.I.1.a. – BVerfGE 95, 335 <350>):

„cc) Die Vorgabe der Verfassung, dass die Abgeordneten in unmittelbarer, freier und gleicher Wahl zu wählen seien, verlangt allerdings vom Gesetzgeber ein Wahlverfahren, das eine selbstbestimmte und rationale Entscheidung des Wählers ermöglicht. Das Verfahren muss mit hinreichender Zuverlässigkeit zu Wahlergebnissen führen, in denen die Gewichtung der gesetzlichen Vorgaben deutlich zum Ausdruck kommt. Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl verbietet nicht nur die indirekte Wahl; er fordert auch ein Wahlverfahren, in dem der Wähler vor dem Wahlakt erkennen kann, welche Personen sich um ein Abgeordnetenmandat bewerben und wie sich die eigene Stimmabgabe auf Erfolg oder Misserfolg der Wahlbewerber auswirken kann (vgl. dazu auch BVerfGE 47, 253 <279 ff.>). In diesem Gewährleistungsinhalt berührt sich die Unmittelbarkeit der Wahl mit dem Grundsatz der Wahlfreiheit, der nicht nur eine Ausübung des Wahlrechts ohne Zwang oder sonstige unzulässige Beeinflussung von außen sichert (vgl. BVerfGE 7, 63 <69>; 47, 253 <282>), sondern auch eine Gestaltung des Wahlverfahrens verbietet, das die Entschließungsfreiheit des Wählers in einer innerhalb des gewählten Wahlsystems vermeidbaren Weise verengt (vgl. BVerfGE 47, 253 <283>).“

und weiter unten (C.I.4. – BVerfGE 95, 335 <354>):

„4. Die Entscheidung für ein bestimmtes Wahlsystem, entweder für die Verhältnis- oder für die Mehrheitswahl oder für eine Kombination beider Systeme, bedeutet zugleich, dass der Gesetzgeber die im Rahmen des jeweiligen Systems geltenden Maßstäbe der Wahlgleichheit zu beachten hat. Der Gesetzgeber gibt dem Wähler jeweils die Wege vor, auf denen sich für sie die Wahlgleichheit verwirklicht (vgl. BVerfGE 1, 208 <246>). Wie bereits dargelegt, ist es verfassungsrechtlich nicht geboten, alle Sitze im Deutschen Bundestag letztlich nach dem Verhältnis der für die Parteien abgegebenen Stimmen zu verteilen (vgl. oben 1. a). Vielmehr eröffnet Art. 38 Abs. 3 GG dem Gesetzgeber einen breiten Entscheidungsspielraum, der etwa eine Wahl des Deutschen Bundestages hälftig nach dem Mehrheits- und hälftig nach dem Verhältniswahlprinzip zuließe (Grabensystem), eine Erstreckung des Verhältniswahlprinzips auf die gesamte Sitzverteilung unter Vorbehalt angemessener Gewichtung der Direktmandate gestattete (wie das geltende Wahlrecht dies vorsieht), aber auch andere Kombinationen erlaubte, wenn dabei die Gleichheit der Wahl im jeweiligen Teilwahlsystem gewahrt wird, die Systeme sachgerecht zusammenwirken und Unmittelbarkeit und Freiheit der Wahl nicht gefährdet werden. Es ist nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts zu prüfen, ob der Gesetzgeber innerhalb seines ihm verfassungsrechtlich vorgegebenen Spielraums für die Gestaltung des Wahlsystems eine zweckmäßige oder rechtspolitisch vorzugswürdige Lösung gefunden hat (vgl. BVerfGE 3, 19 <24 f.>; 3, 383 <394>).“


von Martin Fehndrich (18.04.2000, letzte Aktualisierung: 02.07.2008)