Die Bundestagswahl ist keine Wahl

[Überhangmandate]

Das Bundesverfassungsgericht hat im Urteil vom 3. Juli 2008 (2 BvC 1/07, 2 BvC 7/07) die hier kritisierte Regelung für verfassungswidrig erklärt.

Das Sitzverteilungssystem des Bundeswahlgesetzes ist so kompliziert und von so wenigen verstanden, daß es nicht aufzufallen scheint, daß es gar keine Wahl beschreibt.

Vielleicht erscheint die Aussage, die Bundestagswahl sei keine Wahl, auf dem ersten Blick etwas übertrieben, die Bundestagswahl ist vielleicht nicht gerecht oder demokratisch genug, aber das Sitzberechnungsverfahren führt zu so absurden Ergebnissen, daß man die Bundestagswahl kaum eine Wahl nennen kann.

Durch das Sitzverteilungsverfahren des Bundeswahlgesetzes können die abgegebenen Stimmen der gewählten Parteien schaden. Die Kreuze auf dem Wahlzettel können für die gewählte Partei so wirken, als würden sie von der Zahl der Stimmen dieser Partei abgezogen statt dazugezählt.

Ein Beispiel für die Wähler im Bundesland Bremen: Hätten im Jahr 1994 bei der Bundestagswahl 2000 zusätzliche Bremer Wähler ihr Kreuz bei der SPD gemacht, die SPD hätte ein Mandat weniger.

Wahl oder Abwahl?

Wenn das Bundeswahlgesetzes wirklich eine Wahl ist, stellt sich die Frage ob die SPD-Wähler in Bremen mit ihrem Kreuz ihr Vertrauen oder eher ihr Mißtrauen aussprechen.

Dieses Beispiel ist noch nicht einmal ein besonderer Einzelfall, gerade in Bremen hat sich die SPD seit 1957 über schlechte Wahlergebnisse freuen können oder über gute Wahlergebnisse ärgern müssen.

Die Wähler oder Nichtwähler der CDU sind aber genauso betroffen, 30.000 Stimmen weniger in einem beliebigen Bundesland bei der letzten Bundestagswahl [im Jahr 1994], hätten der CDU ein um ein oder zwei Sitze besseres Wahlergebnis und dem Bundeskanzler eine breitere Mehrheit verschafft (siehe auch Beispiel von H. Meyer, KritV 1994).

Zusatzmandate für Stimmenverluste

Im 13. Bundestag sitzen also Abgeordnete, weil ihre Partei vergleichsweise wenige Stimmen bekommen hat, andererseits sitzen andere Kandidaten nicht im Bundestag, weil ihre Partei zu viele Stimmen bekommen hat.

Betroffen von den absurden Berechnungsverfahren sind alle Wahlberechtigten, denn

Die Ursache dieser Wahlwidersprüche sind die Regelungen, die interne Überhangmandate ermöglichen (es gibt keine Ausgleichsmandate). Dabei sind die Systemwidrigkeiten bei der Sitzverteilung auch nicht die Proporzverzerrungen, die das Bundesverfassungsgericht im April 1997 in gewissen Grenzen gebilligt hat, sondern die Tatsache, daß eine Landesliste um so mehr Überhangmandate bekommt, je weniger Zweitstimmen sie erhält und der Partei insgesamt diese erhaltenen Zweitstimmen schaden. Dazu hat sich bedauerlicherweise weder der Deutsche Bundestag (trotz Wahleinspruch – WP 51/94 BT-Drs. 13/2800 – noch das Bundesverfassungsgericht geäußert.

Noch viel erstaunlicher ist, daß sich seit inzwischen mehr als 40 Jahren anscheinend kaum ein Wähler über das faktisch nicht vorhandene Wahlrecht beklagt hat und auch die Presse scheint diesen Wahlrechtsfehler nicht zu bemerken oder sich nicht dafür zu interessieren.

Wahl oder Lotterie?

Vielleicht ist die Bundestagswahl schon als eine Art Lotterie allgemein akzeptiert (wie beim Lotto darf man frei seine Kreuzchen machen, ohne damit das Ergebnis zu beeinflussen – im Gegensatz zur sogenannten Bundestagswahl, muß man Lotto aber nicht befürchten, daß Zahlen nicht gezogen werden, weil man sie angekreuzt hat) oder aber es hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß Wahlen, würden sie etwas ändern, schon längst verboten wären und das System der Sitzverteilung damit völlig belanglos ist.

CDU wählen = SPD ankreuzen

Es wäre schon ein merkwürdiges Ergebnis der nächsten Bundestags„wahl“, wenn ein Kandidat deshalb nicht zum Kanzler gewählt werden kann, weil seine Partei zu viele Stimmen bekommen hat.

Auch wenn man das Bundeswahlgesetz trotz dieser massiven Macken noch als „Wahl“ ansieht, ist solch eine Wahl

Eine Bundestags„wahl“ bei solch einem Wahlgesetz ist eine Farce.


von Martin Fehndrich (Frühjahr 1998, letzte Aktualisierung der Links: 11.02.2009)