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31.10.2005

Update (05.11.2006): Die Meldung auf dieser Seite wird in der Begründung des Gesetzentwurfs der Bürgerschaft vom 28. August (Drucksache 18/4889) irreführenderweise als Beleg für die angebliche Wirkungsgleichheit im Vergleich zum vom Volk entschiedenen Wahlgesetz angegeben. Die Begründung ist an dieser Stelle sachlich falsch. Das am 11. Oktober beschlossene neue Wahlgesetz führt – angewandt auf das untenstehende Beispiel – zu keiner einzigen personellen Änderung gegenüber einer festen Listenwahl. Mehr dazu in:

Zurück zur starren Listenwahl: Hamburgs CDU macht ernst

Sondersitzung heute abend – Gesetzentwurf liegt vor

Am Montag vergangener Woche hätte eigentlich schon die Entscheidung in der CDU-Fraktion der hamburgischen Bürgerschaft zugunsten einer Änderung des neuen Hamburger Wahlrechts fallen sollen. Doch das Thema wurde nach kurzer Debatte aus Zeitgründen auf eine Sondersitzung am heutigen Abend vertagt. Trotzdem ist am Wochenende bereits ein interner ausformulierter Gesetzentwurf der CDU an die Öffentlichkeit gelangt. Der Vorentwurf gießt die vom CDU-Landesausschuß am 27. September beschlossenen Änderungen um (siehe Wahlrecht.de-Meldung vom 01.10.05: „CDU will neues Hamburger Wahlrecht wieder kippen“) in Gesetzesform.

Darüber hinaus gehende nennenswerte Änderungen sind im Vorentwurf nicht enthalten. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang allenfalls die offensichtlich nicht zu Ende gedachte Erweiterung der Ausgleichsmandats-Regelung: Auch falls ein parteiloser Einzelbewerber einen Wahlkreissitz erringt, sollen den Landeslisten nach dem Willen der CDU Ausgleichsmandate zugeteilt werden, „bis das errechnete Verhältnis wieder erreicht ist“. Da ein Einzelbewerber im Verhältnis zu den Landeslisten einen Sitzanspruch von Null hat (weil er nur im Wahlkreis antritt und somit gar keine Parteistimmen erhalten kann), müßte die Sitzzahl also gegen unendlich gehen. Dies bedeutete letztlich wohl, daß alle aufgestellten Kandidaten der Parteien, die die Fünfprozenthürde überspringen konnten, gewählt wären. Bei der Bürgerschaftswahl 2004 hätte dies der CDU die absolute Mehrheit gekostet, da sie „nur“ 100 Kandidaten aufgestellt hatte, SPD und GRÜNE/GAL zusammen jedoch 149.

Update vom 15.11.2005: Ein Beschluß der CDU-Bürgerschaftsfraktion über den Gesetzentwurf steht nach wie vor aus. Wann die Entscheidung fallen soll, ist derzeit nicht bekannt.

Unüberwindliches Quorum

Ihre Ankündigung wahr macht die CDU insbesondere hinsichtlich des Quorums, das ein Kandidat erreichen muß, um aufgrund seines persönlichen Stimmenergebnisses einen Sitz erhalten zu können. Diese Schwelle wird auf Wahlkreisebene berechnet, indem man die Stimmen, die auf die Partei und ihre Kandidaten insgesamt im Wahlkreis entfallen sind, durch die Zahl der (dadurch) gewonnenen Wahlkreissitze teilt (§ 4 Abs. 2 Satz 8 des Vorentwurfs).

Auf der Landesliste wird im Prinzip analog verfahren. Da hier jedoch die Stimmenzahl durch die Zahl der der Partei insgesamt zustehenden Wahlkreis- und Landeslistensitze geteilt wird, liegt die Schwelle hier effektiv etwas niedriger als auf den Wahlkreislisten.

Eine derartige Hürde ist bisher einzigartig im bundesdeutschen Wahlrecht, wenngleich man auch schon in anderen Bundesländern erhebliche Kreativität beim Einbau diverser Hintertürchen bewiesen hat, durch die man trotz eines Wahlsystems mit Kumulieren und Panaschieren die von der Partei festgelegte Listenreihenfolge zum Durchbruch verhelfen kann.

Eine kurze Übersicht der diesbezüglichen Regelungen in anderen Bundesländern findet sich in der Wahlrecht.de-Meldung vom 01.10.05: „CDU will neues Hamburger Wahlrecht wieder kippen“.

Wie schon in unserer vorherigen Meldung erwähnt, hat sich ein vergleichbar hohes Quorum in Österreich als fast unüberwindbar herausgestellt, so daß es bei der letzten Nationalratswahl nur durch den Bundeskanzler (knapp) erreicht werden konnte. Der Fraktionsvorsitzende der Hamburger CDU schrieb mittlerweile hierzu auf dem Internet-Portal Abgeordnetenwatch.de:

„Bei der letzten Nationalratswahl in Österreich errang der ÖVP-Spitzenkandidat Wolfgang Schüssel so viele Persönlichkeitsstimmen, dass dies die Listenreihenfolge verändert hätte, wenn er nicht sowieso auf Platz 1 nominiert gewesen wäre. Bei der Nationalratswahl in Österreich hat der Wähler aber nur eine Präferenzstimme, in Hamburg hat er zweimal fünf. Also ist die Wahrscheinlichkeit von Listenveränderungen hier in Hamburg um ein Mehrfaches höher.“

Diese Behauptung ist nicht korrekt. Denn nach dem vorliegenden CDU-Entwurf soll das Quorum nicht anhand der Zahl der Wähler berechnet werden, sondern anhand der Zahl der Stimmen. Somit wäre in Hamburg also nicht nur die Stimmenzahl, sondern auch die Hürde fünfmal höher als in Österreich.

Das Beispiel Hannover

Zwecks einer realistischen Abschätzung, inwieweit auf Wahlkreisebene das Quorum überwindbar wäre, haben wir uns das Ergebnis der letzten Stadtratswahl in der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover angeschaut. Denn das dortige Wahlverfahren entspricht in vielerlei Hinsicht der Situation in den Hamburger Mehrmandatswahlkreisen nach dem neuen Wahlrecht: In Hannover sind in 14 Wahlbereichen insgesamt 65 Sitze zu vergeben (Hamburg: in 17 Wahlkreisen 71 Sitze). Jeder Wähler hat drei Stimmen (Hamburg: fünf), die er beliebig auf die Kandidaten der Parteien und Wählervereinigungen verteilen kann, wobei er wie in Hamburg auch alle Stimmen oder einen Teil davon ohne Personenwahl an eine Liste vergeben kann. Hannover und Hamburg sind insofern also hinsichtlich der Zahl der Wahlbereiche, der Zahl der Sitze pro Wahlkreis und der Zahl der Stimmen pro Wähler recht gut vergleichbar. Nur die Zahl der Wähler pro Wahlkreis ist natürlich in Hannover geringer, weil Hamburgs Einwohnerzahl über dreimal höher ist als die von Hannover.

Im Gegensatz zum neuen Hamburger Wahlrecht werden die Sitze in Hannover jedoch nicht nach Wahlbereichen getrennt aufgrund einer vorher feststehenden Zahl von Sitzen pro Wahlbereich verteilt. Statt dessen werden die Sitze zunächst stadtweit auf die Parteien verteilt. Im zweiten Schritt werden die Sitze einer Partei dann parteiintern auf die Wahlbereichslisten dieser Partei unterverteilt (ähnlich der Ober- und Unterverteilung im Bundestagswahlrecht). Zu besseren Vergleichbarkeit beruhen die folgenden Berechnungen auf der Annahme, daß auch in Hannover die Sitzverteilung getrennt nach Wahlbereichen erfolgt.

In der folgenden Tabelle sind die bei der Stadtratswahl erreichten Stimmenzahlen der drei Parteien aufgeführt, die mehr als fünf Prozent der Stimmen erhalten haben. Außerdem wird (in Prozent) angegeben, wie viele dieser Stimmen nicht als Listenstimme vergeben wurden, sondern direkt als Personenstimme an einen auf der Liste aufgeführten Kandidaten. Aus der Gesamtstimmenzahl und der Zahl der Sitze, die der Partei im jeweiligen Wahlbereich zustehen, errechnet sich das von der CDU geplante Quorum. In der Zeile darunter ist die Stimmenzahl angegeben, die der stimmenstärkste Kandidat dieser Partei im Wahlbereich erhalten hat. Zum Vergleich wird schließlich die Stimmenzahl genannt, die ein Einzelbewerber erringen müßte, um im jeweiligen Wahlbereich einen Sitz zu erhalten.

Wahlbereich 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
SPD Stimmen insgesamt 12.739 21.069 17.824 17.596 17.502 11.260 20.850 14.560 21.942 16.159 16.662 16.861 10.964 13.924
Anteil Personenstimmen 31 % 32 % 37 % 37 % 57 % 32 % 33 % 37 % 43 % 37 % 41 % 38 % 35 % 35 %
Sitze im Wahlbereich 2 3 3 3 2 2 3 2 3 3 2 3 1 2
Quorum gem. CDU-Entwurf 6.370 7.023 5.942 5.866 8.751 5.630 6.950 7.280 7.314 5.387 8.331 5.621 10.964 6.962
Höchste Kandidatenstimmenzahl 1.170 2.727 2.360 1.893 6.761 1.178 1.688 1.775 3.971 1.334 3.533 1.593 1.431 1.896
CDU Stimmen insgesamt 11.400 12.659 18.097 15.376 12.171 18.367 17.782 12.993 16.149 6.401 11.963 9.966 7.684 7.365
Anteil Personenstimmen 46 % 41 % 42 % 43 % 46 % 47 % 46 % 48 % 48 % 43 % 51 % 43 % 44 % 44 %
Sitze im Wahlbereich 1 2 3 2 2 3 2 2 2 1 2 1 1 1
Quorum gem. CDU-Entwurf 11.400 6.330 6.033 7.688 6.086 6.123 8.891 6.497 8.075 6.401 5.982 9.966 7.684 7.365
Höchste Kandidatenstimmenzahl 2.744 2.504 2.280 2.882 1.585 2.912 3.216 1.346 2.505 810 3.278 1.426 1.403 1.123
GRÜNE Stimmen insgesamt 6.678 7.835 3.432 3.263 2.074 3.124 8.163 3.435 2.923 9.532 2.325 1.981 4.270 2.429
Anteil Personenstimmen 36 % 30 % 39 % 43 % 47 % 34 % 38 % 41 % 35 % 40 % 45 % 38 % 43 % 35 %
Sitze im Wahlbereich 1 1 0 0 0 0 1 0 1 1 0 0 1 0
Quorum gem. CDU-Entwurf 6.678 7.835 8.163 2.923 9.532 4.270
Höchste Kandidatenstimmenzahl 506 731 402 530 450 470 752 377 285 828 411 242 518 198

Ein parteiloser Einzelbewerber wäre gewählt ab ... Stimmen

4.247 4.214 3.565 3.520 4.058 3.674 4.171 4.332 4.389 3.232 3.988 3.373 4.271 4.642

Wie unschwer zu erkennen ist, konnte kein einziger Kandidat das Quorum erreichen. Am dichtesten dran lag der Bürgermeister und Ratsvorsitzende Bernd Strauch (SPD) im Wahlbereich 5, der als einziger zumindest drei Viertel der nötigen Stimmenzahl erreichen konnte. In fast allen anderen Fällen konnte der stimmenstärkste Kandidat nicht einmal halb so viel Stimmen auf sich vereinigen, wie zum Erreichen des von der CDU geplanten Quorums nötig gewesen wären. Außerdem wird deutlich, daß in dem Fall, wenn einer Partei im Wahlkreis nur ein Sitz zusteht, das Quorum genauso hoch ist wie die erreichte Stimmenzahl. Um als Kandidat von einem Listenplatz ab Rang 2 abwärts ins Parlament gewählt werden zu können, müßte man also von ausnahmslos allen Wähler dieser Partei alle Stimmen erhalten. Kein einzige Stimme dürfte an einen anderen Kandidaten gehen oder als Listenstimme vergeben werden. Für Parteien wie die GAL, die pro Wahlkreis wohl höchstens einen Sitz erhoffen können, wäre dieses absurde Szenario Standard. Unter diesen Umständen wären die Kandidaten, die bei der Listenaufstellung nicht Platz 1 ergattern konnten, besser beraten, ihr Glück als parteilose Einzelkandidaten zu versuchen.

Zur Veranschaulichung werfen wir einen genaueren Blick auf das Wahlergebnis im größten Wahlbereich 7, das durchaus als repräsentativ für die anderen Wahlbereiche gelten kann:

Partei Listen-
platz
Platz nach
Stimmen
Veränderung Kandidat Stimmen
SPD
(3 Sitze)
Listenstimmen 14.034
1 1 ± 0 Schmidt, Detlef 1.688
2 3 – 1 Bittner-Wolff, Ulrike 1.104
3 5 – 2 Hermann, Thomas 634
4 2 + 2 Dr. Schirrmacher, Gesa 1.194
5 7 – 2 Schatz, Malte 534
6 6 ± 0 Starke, Petra 629
7 8 – 1 Knüppel, Peter-Claas 208
8 4 + 4 Schröter, Gabriele 825
CDU
(2 Sitze)
Listenstimmen 9.573
1 2 – 1 Ike, Brigitte 1.603
2 1 + 1 Küßner, Dieter 3.216
3 6 – 3 Pohl, Lars 398
4 3 + 1 Kuchenbuch, Klaus 1.245
5 4 + 1 Stichternath, Peter 695
6 8 – 2 Behr, Solveig 144
7 5 + 2 Hoffmeister, Gerhard 510
8 6 + 2 Omiridis, Theodoros 398
GRÜNE
(1 Sitz)
Listenstimmen 5.028
1 4 – 3 Dette, Michael 397
2 1 + 1 Mourmouri, Eleni 752
3 3 ± 0 Austin, Sabrina 420
4 4 ± 0 Meese, Ekkehard 397
5 6 – 1 Köster, Carolin 300
6 8 – 2 Beimes, Petra 143
7 7 ± 0 Allerheiligen, Jens 203
8 2 + 6 Hagenah, Enno 523

Nach dem per Volksentscheid beschlossenen neuen Hamburger Wahlrecht wären von den sechs im Wahlkreis zu vergebenden Sitzen zwei anders verteilt worden als es sich nach der Listenreihenfolge ergeben hätte: Bei der SPD wäre statt Thomas Hermann (Platz 3, 634 Stimmen) Gesa Schirrmacher (Platz 4, 1.194 Stimmen) in den Stadtrat eingezogen, bei den GRÜNEN Eleni Mourmouri (Platz 2, 752 Stimmen) statt Michael Dette (Platz 1, 397 Stimmen).

In allen Wahlbereichen zusammen wären 14 der 65 Sitze (22 %) nach dem geltenden Hamburger Wahlrecht anders besetzt worden, als es der von den Parteien festgelegten Listenreihenfolge entsprochen hätte. Es drängt sich die Frage auf, ob angesichts dessen aus Sicht der Parteien überhaupt ein Bedarf besteht, die Listenreihenfolge noch stärker zu gewichten. Den Autoren des CDU-Entwurfs geht es aber ohnehin ersichtlich darum, dem neuen Wahlrecht zumindest auf Wahlkreisebene (und wohl auch bei den Landeslisten) jegliche Mandatsrelevanz zu nehmen. Mit seinen fünf Stimmen dürfte der Wähler dann quasi nur noch unverbindliche Benotungen für die Kandidaten abgeben, ohne aber mitbestimmen zu können, wer in die Bürgerschaft ziehen darf oder nicht.

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von Wilko Zicht (letzte Aktualisierung: 15.11.2005)