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28.10.2006

Hamburg schafft großen Wählereinfluss auf Personenwahl wieder ab

Mit den heute in Kraft getretenen Änderungen ist das politische Ringen um die teilweise Rücknahme des per Volksentscheid eingeführten neuen Hamburger Wahlrechts vorerst abgeschlossen. Das letzte Wort wird nun möglicherweise das Hamburgische Verfassungsgericht haben.

Bürgerschaft beruft sich zu Unrecht auf Wahlrecht.de

Nach einer heftigen Debatte in der Hamburgischen Bürgerschaft wurden am 11. Oktober mit den Stimmen von 62 der 63 CDU-Abgeordneten die bereits in früheren Meldungen von uns beschriebenen Änderungen in zweiter Lesung beschlossen. In der Begründung des Gesetzentwurfs vom 28. August (Drucksache 18/4889, S. 12) wird auf unsere Meldung vom 31. Oktober 2005 Bezug genommen:

„Eine Relevanzschwelle in Höhe von 30 % lässt Veränderungen der Listenreihenfolge in beachtlichem Umfang zu: nach einem unter www.wahlrecht.de/news/2005/36.htm veröffentlichten Artikel hätte es bei der letzten Kommunalwahl in Hannover (nach dem niedersächsischen Kommunalwahlgesetz) 14 Veränderungen der Listenreihenfolge gegeben. Wendet man auf die dort wiedergegebenen Ergebnisse die Relevanzschwelle von 30 % an, wie sie hier eingeführt wird, so ergäben sich 12 Veränderungen der Listenreihenfolge. Die neue Regelung ist also nahezu wirkungsgleich.“

Diese Aussage ist grob verzerrend und irreführend.

Bei Anwendung des von der CDU eingeführten Verfahrens (30-Prozent-Relevanzschwelle) auf das zitierte Wahlrecht.de-Beispiel (Kommunalwahl 2001 in Hannover) hätte es nicht zwölf, sondern keine einzige mandatsrelevante Änderung der Listenreihenfolge gegeben. Zwar hätten in der Tat zwölf (bzw. sogar 13) Kandidaten die Relevanzschwelle überschritten, doch wären sie aufgrund ihres guten Listenplatzes auch bei einer starren Listenwahl gewählt gewesen. Bei den in der Bürgerschaftsdrucksache erwähnten „14 Veränderungen der Listenreihenfolge“ handelt es sich dagegen um die Zahl der Kandidaten, die aufgrund ihres Listenplatzes den Parlamentseinzug verpasst, nach dem Volksentscheids-Wahlrecht aber aufgrund der Wählerstimmen einen Sitz errungen hätten. Was die Mandatsrelevanz angeht, ergibt sich also zwischen dem „alten“ und dem neuen Hamburger Wahlrecht kein Verhältnis von vierzehn zu zwölf, sondern von vierzehn zu null. Im Gegensatz zur Regelung des bisher gültigen Volksabstimmungsgesetzes dürfte die neue Regelung damit praktisch wirkungslos sein, was den Einfluss der Wähler auf die personelle Zusammensetzung des Parlaments angeht. Dies wurde auf Wahlrecht.de mehrfach hervorgehoben, so zuletzt in der Meldung vom 12. Juli 2006. Trotzdem wurde noch danach der aufgeführte Absatz in die Gesetzesbegründung eingefügt.

Im Gegensatz zu den Aussagen von CDU-Fraktionschef Bernd Reinert sind die Änderungen am Wahlrecht nicht moderat, sondern so massiv, dass die Personenwahl praktisch abgeschafft wurde.

Einführung und Abschaffung einmalig

Genauso einmalig, wie das erstmals in Deutschland durch Volksgesetzgebung beschlossene Bürgerschaftswahlrecht zustande kam, ist es damit auch wieder abgeschafft worden. Vor zwei Jahren hatten sich die Hamburger mit klarer Mehrheit von 66,7 % der Abstimmenden für das Wahlrecht der Initiative „Mehr Bürgerrechte – Ein neues Wahlrecht für Hamburg“ ausgesprochen. Damit gelang der Sprung von einem Einstimmen-Wahlrecht ohne jeglichen Einfluss der Wähler auf die Personenauswahl zu einem Landtagswahlrecht mit – im Vergleich zu anderen Bundesländern – größten Einfluss auf die Personalisierung eines Landesparlaments.

Der Wählereinfluss nach dem neuen Wahlrecht ist nun vermutlich sogar geringer einzuschätzen, als beim klassischen deutschen Zweistimmenwahlrecht mit Einmandatswahlkreisen und starrer Liste. Ein Gegenentwurf der Bürgerschaft, der ein eben solches Wahlrecht vorsah, war beim Volksentscheid im Jahre 2004 gegen den Entwurf der Volksinitiative klar gescheitert und hatte „nur“ 53,7 % Zustimmung erhalten.

Verfassungsrechtlich fragwürdig

GAL und SPD haben angekündigt, nach einer rechtlichen Prüfung möglicherweise vor das Hamburgische Verfassungsgericht zu ziehen. Auch die Vertrauenspersonen der Volksinitative „Mehr Bürgerrechte – Ein neues Wahlrecht für Hamburg“ erwägen diesen Schritt. Im Gegensatz zu den Oppositionsfraktionen könnten sie jedoch keine vollständige Normenkontrolle des beschlossenen Änderungsgesetzes veranlassen, sondern lediglich ein Organstreitverfahren anstrengen, um eine Verletzung des verfassungsrechtlichen Gebots der Organtreue geltend zu machen. Diese hat die Bürgerschaft möglicherweise verletzt, indem sie das per Volksentscheid beschlossene Gesetz in wesentlichen Teilen geändert hat, ohne dass das Gesetzgebungsorgan „Volk“ die Chance hätte, diese Änderungen rechtzeitig vor der nächsten Bürgerschaftswahl wieder zurückzunehmen. Würde man in Hamburg eine neue Volksinitiative zum Wahlrecht starten, könnte ein entsprechender Volksentscheid nämlich aufgrund der vorgesehenen Fristen erst nach der Bürgerschaftswahl 2008 stattfinden.

Wie das Hamburgische Verfassungsgericht bereits entschieden hat, verbietet es die Hamburgische Verfassung der Bürgerschaft grundsätzlich nicht, einen Volksentscheid nachträglich aufzuheben bzw. zu korrigieren. Wie das Verfassungsgericht ggf. die Frage entscheidet, ob dies auch beim nur alle vier Jahre Anwendung findenden Wahlgesetz gilt, wenn die „Korrektur“ so kurzfristig erfolgt, dass der Volksgesetzgeber nicht mehr bis zur nächsten Wahl reagieren kann, gilt als offen.

Meldungen


von Matthias Cantow, Martin Fehndrich und Wilko Zicht (letzte Aktualisierung: 29.10.2006, letzte Aktualisierung der Links: 05.11.2006)