Staatsgerichtshof für das Land
Baden-Württemberg

[Wahlprüfung]

Urteil vom 14. Juni 2007

GR 1/06

„Landeswahlgesetz Baden-Württemberg“


Entscheidungen 2000–heute, Pressemitteilung des Staatsgerichtshofes vom 14.06.2007

Leitsätze:

1. Aus Art. 26 Abs. 4 und Art. 28 Abs. 1 LV folgt nicht das verfassungsrechtliche Gebot, dass die Zahl der Wahlkreise, in denen Erstmandate errungen werden können, die Hälfte der Gesamtmandate des Landtags nicht übersteigen darf. LS 1
2. Bei der Einteilung der Wahlkreise sind Abweichungen von der durchschnittlichen Größe eines Wahlkreises verfassungsrechtlich zulässig. Orientiert sich der Gesetzgeber bei der Wahlkreiseinteilung hinsichtlich der Abweichungen grundsätzlich an einer Toleranzgrenze von 25 v. H., kann dies verfassungsrechtlich nicht beanstandet werden. Es bleibt offen, ob künftig daran festgehalten werden kann, bei der Frage der Evidenz der Überschreitung dieser Toleranzgrenze ausschließlich auf die Zahl der Wahlberechtigten bei den vorangegangenen Landtagswahlen abzustellen. LS 2
3. Die in Art. 26 Abs. 4 LV gewährleistete Wahlrechtsgleichheit wird nicht verletzt, wenn die durchschnittliche Größe der Wahlkreise in den vier Regierungsbezirken des Landes voneinander abweicht. Für die Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Abweichungen von der Durchschnittsgröße der Wahlkreise kommt es auf die Verhältnisse im gesamten Land an. LS 3
4. Das bei der Landtagswahl vom März 2006 noch geltende Berechnungsverfahren verletzt nicht das Gebot des gleichen Erfolgswerts der Stimmen. Die Zuteilung der Mandate nach dem d´Hondtschen Höchstzahlverfahren führte im Verhältnis zum Höchstzahlverfahren nach Sainte-Laguë/Schepers nicht zu eindeutig schlechteren Ergebnissen bei der Sicherung des gleichen Erfolgswerts der Wählerstimmen. LS 4

[Umdruck, S. 1] Urteil

In der Wahlprüfungsbeschwerde

1. ...

[...] [Umdruck, S. 2]

26. ...
– Beschwerdeführer –
Verfahrensbevollmächtigter: Rechtsanwalt ...
beteiligt:
1. Landtag von Baden-Württemberg,
vertreten durch seinen Präsidenten,
Haus des Landtags,
Konrad-Adenauer-Straße 3,
70173 Stuttgart
2. Innenministerium Baden-Württemberg,
Dorotheenstraße 6,
70173 Stuttgart
Verfahrensbevollmächtigte für Ziff. 2:
Rechtsanwälte ...
hat der Staatsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 14. Juni 2007
unter Mitwirkung
[Umdruck, S. 3] des Präsidenten Stilz,
der Richter Dr. Mattes
Strauß
Prof. Dr. von Bargen
Dr. Maus
Prof. Dr. Kirchhof
der Richterin Prechtl
des Richters Seimetz
und der Richterin Stamm
für Recht erkannt:

Entscheidungsformeln

 
Die Wahlprüfungsbeschwerde wird zurückgewiesen.
Das Verfahren ist kostenfrei. Auslagen werden nicht erstattet.

Gründe:

A.

1. Am 26.03.2006 wurde der 14. Landtag von Baden-Württemberg gewählt. Das amtliche Endergebnis der Wahl wurde am 18.04.2006 im Staatsanzeiger bekannt gegeben. Die Beschwerdeführer Nr. 1 bis 8 bewarben sich bei dieser Wahl für die SPD um ein Direktmandat, die Beschwerdeführer Nr. 9 bis 26 waren Wahlberechtigte. Mit dem am 17.05.2006 beim Landtag von Baden-Württemberg eingegangenen Schreiben fochten sämtliche Beschwerdeführer die Landtagswahl vom 26.03.2006 mittels eines Einspruchs an. Am 09.11.2006 beschloss der Landtag von Baden-Württemberg, den gemeinsamen Einspruch der Beschwerdeführer gegen die Landtagswahl vom 26.03.2006 zurückzuweisen, und stellte fest, dass die Wahl, soweit angefochten, gültig ist (14. Landtag von Baden-Württemberg, Plenarprotokoll 14/12, S. 616; Punkt 8 der Tagesordnung zu LT-Drucks. 14/456). Dieser Beschluss wurde den Beschwerdeführern am 14.11.2006 zugestellt. 1
[Umdruck, S. 4]2. Am 11.12.2006 haben die Beschwerdeführer den Beschluss des Landtags vom 09.11.2006 unter Beifügung von 226 Beitrittserklärungen anderer Wahlberechtigter beim Staatsgerichtshof angefochten. 2
Die Beschwerdeführer beantragen, 3
den Beschluss des Landtags von Baden-Württemberg vom 9. November 2006 aufzuheben und die Wahlen vom 26. März 2006 ganz oder teilweise in Wahlkreisen für ungültig zu erklären,
4
hilfsweise der SPD ein, der FDP/DVP zwei und den Grünen ein zusätzliches Mandat zuzusprechen.
5
Zur Begründung ihres Antrags tragen die Beschwerdeführer vor: 6
Aus Art. 26 Abs. 4 LV ergebe sich, dass jede abgegebene Stimme grundsätzlich den gleichen Einfluss auf die parteipolitische Zusammensetzung des Landtags haben müsse. Die Vorschriften über die Zahl der Wahlkreise und ihre Abgrenzung (§ 1 Abs. 1 und § 5 Abs. 1 LWG) und die Bestimmungen über die Verteilung der Sitze nach dem bei der angefochtenen Landtagswahl noch geltenden Berechnungssystem (§ 2 Abs. 1 Satz 1, § 2 Abs. 2 bis 5 und § 2 Abs. 6 Satz 2 LWG a. F.) genügten nicht den verfassungsrechtlichen Vorgaben hinsichtlich des Gebots des gleichen Erfolgswerts der Stimme. 7
Zwar könne der Gesetzgeber bei der Verteilung der Sitze im Landtag auf die in den Regierungsbezirken erzielten Stimmen abstellen und die einer Partei zustehenden Zweitmandate auf der Ebene der Regierungsbezirke nach den absoluten Stimmenzahlen zuteilen. Um dem Gebot des gleichen Erfolgswerts zu genügen, müsse die Zahl der Wahlkreise in den Regierungsbezirken besser der Zahl der Stimmberechtigten entsprechen und die Wahlkreise müssten in ihrer Größe weitaus näher angeglichen werden als dies derzeit der Fall sei. 12 Wahlkreise wichen um mehr als 20 v. H. nach oben oder nach unten von der durchschnittlichen Größe eines Wahlkreises ab; bei weiteren 9 Wahlkreisen ergebe sich eine Abweichung von mehr als 15 v. H.. Nach dem Bundeswahlgesetz solle die Bevölkerungszahl in einem Wahlkreis um [Umdruck, S. 5] nicht mehr als 15 v. H. vom Durchschnittswert abweichen; bei einer Abweichung von 25 v. H. sei eine Neuabgrenzung vorzunehmen. Die Regierungsfraktionen hätten es aber abgelehnt, diejenigen Wahlkreise, die um 15 v. H. oder mehr nach oben oder unten von der Durchschnittsgröße abwichen, in eine Überprüfung des Zuschnitts der Wahlkreise einzubeziehen. Dabei sei es ihnen aber nicht um eine möglichst gerechte Abgrenzung der Wahlkreise, sondern ausschließlich um die Sicherung der Mandate ihrer Abgeordneten gegangen. 8
Der Wahlkreis Nr. 62 (Tübingen) habe bei der Wahl 1996 eine Abweichung von plus 21,8 v. H. und bei der Wahl 2001 von plus 24,1 v. H. aufgewiesen. Deshalb sei die bei der angefochtenen Wahl festgestellte Abweichung von 27,03 v. H. bei einer ex ante-Betrachtung auch angesichts der Daten der Bundestagswahl 2002 und der Kommunalwahl 2004 voraussehbar gewesen. 9
Die Regierungsfraktionen seien bei der Änderung des Landtagswahlgesetzes im März 2006 selbst davon ausgegangen, dass die Verteilung der Sitze nach dem Verfahren Sainte-Laguë/Schepers eher dem Gebot der Erfolgswertgleichheit der Stimmen entspreche als das d´Hondtsche Höchstzahlverfahren. Ohne sachlichen Grund und ausschließlich wegen parteipolitischer Vorteile hätten die Regierungsfraktionen das gerechtere Berechnungsverfahren aber erst für die nächste Landtagswahl 2011 vorgesehen. 10
Die Regierungsfraktionen hätten es auch abgelehnt, die Zahl der Wahlkreise zu reduzieren und somit ein paritätisches Verhältnis von Erst- und Zweitmandaten herzustellen. Die derzeitige Verteilung von 70 Erst- und 50 Zweitmandaten führe zu zahlreichen Überhangmandaten, wenn die stärkste Partei, wie in der Vergangenheit, einen Stimmenanteil zwischen 39 und 45 v. H. erziele und 63 bis 69 Direktmandate erringe. Das Ergebnis sei ebenfalls nicht mit dem Gebot des gleichen Erfolgswerts der Stimmen vereinbar. 11
Bei einer Berechnung nach dem Verfahren Sainte-Laguë/Schepers hätte die Sitzverteilung bei den Wahlen zum 11., 12. und 13. Landtag von Baden-Württemberg dem tatsächlichen Wahlergebnis wesentlich eher entsprochen als die Verteilung nach dem d´Hondtschen Höchstzahlverfahren. Da die CDU bei der angefochtenen Wahl [Umdruck, S. 6] lediglich 48,17 v. H. der für die Verteilung der Mandate relevanten Stimmen erreicht habe, hätten angesichts der von der CDU errungenen 11 Überhangmandate nicht lediglich 8 Ausgleichsmandate anfallen dürfen. 12
Das derzeitige System verfälsche das Wahlergebnis auch dadurch, dass die CDU zur absoluten Mehrheit der Sitze im Landtag nur noch einen weiteren Sitz benötige, während ihr ohne Überhangmandate 3 Sitze gefehlt hätten. Die Bevorzugung der CDU durch das Wahlrecht zeige sich auch daran, dass diese für eines der ihr zugeteilten Mandate lediglich 25.344 Stimmen benötigt habe, während bei der FDP/DVP 28.133 Stimmen je Mandat erforderlich gewesen seien. Lediglich im Regierungsbezirk Tübingen, in dem keine Überhang- und Ausgleichsmandate angefallen seien, habe die CDU nicht die wenigsten Stimmen für ein Mandat benötigt. 13
Wegen des verfassungsrechtlichen Gebots des gleichen Erfolgswerts sei die Zahl der Wahlkreise auf 60 zu reduzieren. Dies hätte zur Folge, dass die Zahl der Überhangmandate geringer wäre. Auch wären die Abweichungen zwischen dem Anteil einer Partei an der Gesamtmandatszahl und ihrem Anteil an den abgegebenen Stimmen minimiert. Zusätzlich werde bei der Berechnung von Überhang- und Ausgleichsmandaten die stärkste Partei durch das d´Hondtsche Höchstzahlverfahren bevorzugt. 14
Auch entspreche die Aufteilung der 70 Wahlkreise auf die vier Regierungsbezirke nicht dem Verhältnis der Zahl der dort jeweils lebenden Wahlberechtigten. Der Landesdurchschnitt belaufe sich auf 107.385 Wahlberechtigte je Wahlkreis. Im Regierungsbezirk Karlsruhe errechne sich ein Durchschnitt von 101.163 und im Regierungsbezirk Tübingen von 116.063. Innerhalb der Regierungsbezirke hätten nicht direkt gewählte Bewerber aus einem größeren Wahlkreis erhebliche Vorteile gegenüber nicht direkt gewählten Bewerbern aus einem kleineren Wahlkreis. 15
Die genannten Bestimmungen des Landtagswahlgesetzes seien auch im Hinblick auf die passive Wahlrechtsgleichheit verfassungswidrig. Die Chancengleichheit der Bewerber erfordere, dass bei der Verteilung der Zweitmandate nach absoluten Stimmenzahlen innerhalb eines Regierungsbezirks die Wahlkreisgrößen sehr viel stärker angenähert seien. Ferner sollte im Regelfall eine Abweichung von 10 bis 15 v. H. [Umdruck, S. 7] nicht überschritten werden. Im Verhältnis zur Wahl des Bundestags habe bei der Landtagswahl die Größe des Wahlkreises eine wesentlich größere Bedeutung. Dementsprechend müssten die Anforderungen an die zulässigen Größenabweichungen sehr viel enger gefasst werden als beim Bundestagswahlrecht, das Abweichungen um bis zu 15 v. H. toleriere. 16
3. Der Staatsgerichtshof hat dem Landtag und der Landesregierung Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Der Landtag hat von einer solchen abgesehen. 17
Für die Landesregierung hat sich das Innenministerium geäußert. Es beantragt, 18
die Wahlprüfungsbeschwerde zurückzuweisen.
19
Es trägt zur Begründung vor: 20
Mit der in § 1 Abs. 1 LWG geregelten Aufteilung der 120 Landtagssitze in 70 Erstmandate und 50 Zweitmandate verfolge der Landesgesetzgeber das in Art. 28 Abs. 1 LV vorgegebene Ziel. § 1 Abs. 1 LWG berühre demgegenüber nicht den Schutzbereich des Art. 26 Abs. 4 LV, weil die Vorschrift keine Unterschiede in der Wahlrechtsgleichheit der Stimmen begründe. 21
Auch in Bezug auf die Entstehung von Überhangmandaten bestünden keine Bedenken. Denn § 1 Abs. 1 LWG regele nicht das Entstehen und die Bildung von Überhangmandaten; diese ergäben sich vielmehr aus § 2 Abs. 1 bis 3 LWG a. F.. Zudem seien Überhangmandate anders als im Bundestagswahlrecht nach § 2 Abs. 4 LWG a. F. auszugleichen. Damit werde die durch die Überhangmandate bedingte Beeinträchtigung der Erfolgswertgleichheit kompensiert. Die für die Wahl vom 26.03.2006 geltende Einteilung der Wahlkreise verstoße nicht gegen das aus Art. 26 Abs. 4 LV folgende Gebot der Wahlrechtsgleichheit. Vor der Landtagswahl 2006 habe der Landesgesetzgeber durch das Gesetz vom 20. Dezember 2004 eine Korrektur bei denjenigen Wahlkreisen vorgenommen, bei denen bezogen auf die Zahl der Wahlberechtigten bei der vorangegangenen Landtagswahl 2001 eine größere Abweichung von der durchschnittlichen Wahlkreisgröße als 25 v. H. gedroht habe. 22
[Umdruck, S. 8] Ohnehin stehe dem Gesetzgeber hinsichtlich der Größe der Wahlkreise auch im Hinblick auf den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit ein Gestaltungsspielraum zu. Bisher sei der Staatsgerichtshof davon ausgegangen, dass eine Abweichung von bis zu plus/minus 1/3 zulässig sei. Diese Grenze sei bei der angefochtenen Wahl eingehalten worden, weil die größte Abweichung lediglich plus 27,03 v. H. betragen habe. Die vom Bundesverfassungsgericht für die Bundestagswahl entwickelte Obergrenze für eine zulässige Abweichung von der durchschnittlichen Wahlkreisgröße von 25 v. H. könne nicht auf die Landtagswahl übertragen werden. Bei der Bundestagswahl werde auf die Zahlen der deutschen Bevölkerung in den Wahlkreisen abgestellt; diese Angaben umfassten aber auch deutsche Staatsangehörige, die nicht wahlberechtigt oder vom Wahlrecht ausgeschlossen seien. Die bisher vom Staatsgerichtshof zugrunde gelegte Toleranzgrenze von plus/minus 1/3 beruhe demgegenüber auf der wesentlich genaueren Zahl der Wahlberechtigten. 23
Auch aus diesen Gründen sei für die Landtagswahl von einer gegenüber der Bundestagswahl höheren Toleranzgrenze auszugehen. Zudem sei die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts von der Erwägung getragen, dass im Bereich des Bundes Überhangmandate möglichst vermieden werden sollten, weil diese nicht auszugleichen seien. Demgegenüber werde im Bereich des Landes die durch die Zulassung von Überhangmandaten bedingte Beeinträchtigung der Erfolgswertgleichheit durch den auf der Ebene der Regierungsbezirke vorzunehmenden Verhältnisausgleich kompensiert. Demgemäß bestehe kein Anlass, der Entstehung von Überhangmandaten durch die Einteilung des Wahlgebiets in möglichst gleich große Wahlkreise entgegenzuwirken. Auch deshalb sei die bisherige Toleranzgrenze von 1/3 weiterhin zugrunde zu legen. 24
Selbst bei einer Abweichungsgrenze von 25 v. H. entsprechend § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BWG stelle die bei der Wahl für den Wahlkreis Nr. 62 festgestellte Abweichung von plus 27,03 v. H. mangels Evidenz keinen Verstoß gegen die Wahlrechtsgleichheit dar. Der Staatsgerichtshof stelle hinsichtlich der Evidenz auf die Ergebnisse der vorhergehenden Landtagswahlen ab. Ausgehend hiervon sei die tatsächliche Abweichung von 27,03 v. H. nicht erkennbar gewesen. Hinsichtlich des Wahlkreises Nr. 62 (Tübingen) habe die Abweichung bei der Landtagswahl 1992 21,8 v. H., bei der Wahl 1996 21,7 v. H. und bei der Wahl 2001 24,1 v. H. betragen. Auch die Daten der [Umdruck, S. 9] Europawahl vom 13.06.2004 oder der Bundestagswahl vom 18.09.2005 hätten hinsichtlich des Wahlkreises Nr. 62 die Überschreitung der durchschnittlichen Wahlkreisgröße von 25 v. H. nicht als evident erscheinen lassen. Bei der Europawahl 2004 habe die Überschreitung 26,52 v. H. betragen; hierbei sei aber zu berücksichtigen, dass der Kreis der Wahlberechtigten u. a. auch bestimmte Unionsbürger umfasse und damit größer sei als bei der Landtagswahl. Deshalb könne aus der geringfügigen Überschreitung von 1,52 v. H. nicht auf eine evidente Überschreitung der Abweichungsgrenze bei der Landtagswahl 2006 geschlossen werden. Dies gelte auch für die Bundestagswahl 2005, bei der sich für den Wahlkreis Nr. 62 eine Abweichung von 26,83 v. H. ergeben habe; auch hier weiche der Kreis der Wahlberechtigten von dem bei der Landtagswahl ab. Zudem hätte dieses Ergebnis vom 18.09.2005 bei der Einteilung der Wahlkreise für die angefochtene Landtagswahl vom 26.03.2006 nicht mehr berücksichtigt werden können. Denn die gesetzlichen Grundlagen der Landtagswahl müssten bereits bei der Einleitung des vorbereitenden Verfahrens feststehen. Maßgeblich sei danach gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 LWG der 01.12.2004 gewesen. 25
Die Motivation der nach Art. 27 Abs. 3 LV nur ihrem Gewissen unterworfenen Abgeordneten bei der Abstimmung über die Einteilung der Wahlkreise sei ohne Bedeutung. Im Rahmen der dem Gesetzgeber bei der Wahlkreiseinteilung eingeräumten Gestaltungsfreiheit könne auch berücksichtigt werden, die Bindung zwischen den Wählern und „ihrem“ Abgeordneten zu fördern. 26
Entgegen der Darstellung der Beschwerdeführer hätten SPD-Bewerber außerhalb des Regierungsbezirks Stuttgart auch in mehreren Wahlkreisen mit über 100.000 Wahlberechtigten im Rahmen der Zuteilung der Zweitmandate kein Mandat erlangt. Auch sei zu berücksichtigen, dass die FDP/DVP und die Grünen in den 17 kleinsten Wahlkreisen sechs Zweitmandate gewonnen hätten. 27
Der von den Beschwerdeführern behauptete Vorteil von Bewerbern in großen Wahlkreisen bei der Zweitausteilung durch die Zuteilung der Sitze nach der absoluten Stimmenzahl stelle keinen Verstoß gegen die Erfolgswertgleichheit dar. Den Bewerbern stehe es frei, in welchem Wahlkreis sie sich um ihre Aufstellung als Kandidaten ihrer Partei bemühten. Auch hänge die Chance eines Kandidaten, bei der [Umdruck, S. 10] Zweitausteilung ein Mandat zu erringen, nicht in erster Linie von der Größe des Wahlkreises, sondern von anderen Faktoren ab, wie etwa von der politischen Struktur der Wahlkreise oder der in den Wahlkreisen unterschiedlichen Präferenz der Bevölkerung für bestimmte Parteien. Ferner sei zu berücksichtigen, dass dem durch die überdurchschnittliche Größe eines Wahlkreises bedingten Vorteil eines Bewerbers bei der Zweitausteilung ein entsprechender Nachteil bei der Zuteilung der Erstmandate gegenüberstehe. Die mit der Wahlkreisgröße zunehmende Chance für die Zuteilung eines Mandats an einen Wahlkreisbewerber im Rahmen der Vergabe der Zweitmandate führe auch dazu, dass die in den großen Wahlkreisen lebende Bevölkerung im Parlament angemessen repräsentiert sei. 28
Die Rüge der Beschwerdeführer, die Zahl der Wahlkreise in den Regierungsbezirken entspreche nicht hinreichend der Zahl der Wahlberechtigten in den Regierungsbezirken und führe daher zu einer Verletzung der Erfolgswertgleichheit der Stimmen, sei unbegründet. Für die Wahrung der Erfolgswertgleichheit im Hinblick auf die parteipolitische Zusammensetzung des Landtags sei die Verteilung der Wahlkreise auf die Regierungsbezirke nicht von Bedeutung. Denn die parteipolitische Zusammensetzung richte sich auf Grund der Oberverteilung gemäß § 2 Abs. 1 LWG a. F. nach dem Verhältnis der Gesamtstimmenzahlen im Land. Auch für die Verteilung der Erstmandate sei die Frage der gleichmäßigen Verteilung der Wahlkreise auf die Regierungsbezirke nicht relevant. Diese Verteilung betreffe nicht die parteipolitische Zusammensetzung des Landtags, sondern nur den Regionalproporz. 29
Dass die Verteilung der Zweitmandate jeweils nach dem d´Hondtschen Höchstzahlverfahren und nicht nach dem Verfahren Sainte-Laguë/Schepers erfolgt sei, verletze nicht das aus Art. 26 Abs. 4 LV folgende Gebot der Wahlrechtsgleichheit. Der Gesetzgeber müsse unter Berücksichtigung weiterer verfassungsrechtlich zulässiger Gesichtspunkte und der Zweckmäßigkeit das bestmögliche Verfahren auswählen. Folge der Gesetzgeber der Vorgabe des Art. 28 Abs. 1 LV und sehe eine kombinierte Persönlichkeits- und Verhältniswahl vor, so komme bereits deswegen dem Gebot der Erfolgswertgleichheit aller Stimmen nur eine begrenzte Tragweite zu. 30
Ungeachtet dessen sei die Anwendung des d´Hondtschen Höchstzahlverfahrens im Hinblick auf die Wahrung der Erfolgswertgleichheit nicht zu beanstanden. Da Sitze [Umdruck, S. 11] nicht bruchteilsmäßig zugewiesen werden könnten, erfordere jedes der bekannten Berechnungsverfahren Rundungen und berücksichtige deshalb bestimmte Reststimmen nicht. Dass das d´Hondtsche Höchstzahlverfahren tendenziell die stärkste Partei bevorzuge, sei allgemein bekannt und werde als verfassungsrechtlich unbedenklich bewertet. 31
Berechnungen belegten, dass das von den Beschwerdeführern bevorzugte Berechnungsverfahren nach Sainte-Laguë/Schepers nicht in jedem Falle besser geeignet sei, die Stimmenverhältnisse auf die Sitzverteilung im Landtag zu übertragen, als das d´Hondtsche Höchstzahlverfahren. Eine Vergleichsberechnung zeige auf, dass sich bei den Landtagswahlen 1988 bis 2001 unter Zugrundelegung des Berechnungsverfahrens Sainte-Laguë/Schepers für die SPD und die Grünen größere Abweichungen ergeben hätten als dies bei der tatsächlichen Berechnung nach dem d´Hondtschen Höchstzahlverfahren der Fall gewesen sei. Dies gelte auch für die angefochtene Wahl vom März 2006. Die Einführung des Verfahrens Sainte-Laguë/Schepers durch das Gesetz vom 07.03.2006 für den Zeitraum ab dem 16.06.2006 sei allein aus verfassungspolitischen Gründen erfolgt. Auch hätte diese Regelung aus Zeitgründen nicht mehr auf die Wahl vom 26.03.2006 angewendet werden können. 32
In Bezug auf die von den Beschwerdeführern beanstandete Anwendung des d´Hondtschen Höchstzahlverfahrens auf die Ermittlung der Ausgleichsmandate auf der Ebene der Regierungsbezirke (§ 2 Abs. 4 LWG a. F.) sei das Normenkontrollurteil des Staatsgerichtshofs vom 12.12.1990 von Bedeutung, in dem die Verfassungsmäßigkeit von § 2 Abs. 4 Satz 1 und 2 LWG a. F. festgestellt worden sei. In seinem Urteil vom 24.03.2003 habe der Staatsgerichtshof entschieden, dass sich nach dem Urteil vom 12.12.1990 keine abweichende allgemeine Rechtsauffassung hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit des d´Hondtschen Höchstzahlverfahrens ergeben habe, die zur Durchbrechung der Rechtskraft dieses Urteils hätte führen können. Auch für den Zeitraum ab diesem Urteil vom 24.03.2003 sei keine solche Änderung der allgemeinen Rechtsauffassung dahingehend festzustellen, dass allein das Berechnungsverfahren nach Sainte-Laguë/Schepers den Anforderungen der Wahlrechtsgleichheit genüge. Ungeachtet der Rechtskraft des Urteils vom 12.12.1990 sei die Anwendung des d´Hondtschen Höchstzahlverfahrens auf die Berechnung der Ausgleichsmandate auf der Ebene der Regierungsbezirke nicht zu beanstanden. Auch hier genüge [Umdruck, S. 12] dieses Verfahren den im Bereich der Verhältniswahl geltenden Anforderungen der Erfolgswertgleichheit. 33
Schließlich sei auch die Rüge der Beschwerdeführer unbegründet, die Bestimmung der Überhang- und Ausgleichsmandate dürfe nicht auf der Ebene der Regierungsbezirke, sondern müsse auf Landesebene mit nachfolgender Verteilung dieser Mandate auf Landesebene erfolgen. Gegenstand dieser Rüge sei insoweit allein § 2 Abs. 4 LWG a. F.. Hinsichtlich dieser Vorschrift sei aber das Urteil des Staatsgerichtshofs vom 12.12.1990 maßgeblich, in dem die Verfassungsmäßigkeit der Norm mit Gesetzeskraft festgestellt worden sei. 34
Unabhängig hiervon sei die Rüge auch deshalb unbegründet, weil die Ermittlung der Überhangmandate und ihr Ausgleich auf Landesebene verfassungsrechtlich nicht geboten seien. Die Entscheidung des Gesetzgebers, die Ebene der Regierungsbezirke zwischenzuschalten, sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Der Ausgleich der Überhangmandate auf der Ebene der Regierungsbezirke sei, selbst wenn er zu möglichen Abweichungen von der Erfolgswertgleichheit führe, als systemgerechte und folgerichtige Ausgestaltung des Wahlsystems gerechtfertigt. 35
Der Hilfsantrag sei schon deshalb unbegründet, weil die Bestimmungen des Wahlrechts verfassungsgemäß seien. Selbst bei Annahme der Verfassungswidrigkeit wäre der Staatsgerichtshof wegen der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei der Regelung des Landtagswahlrechts gehindert, eine bestimmte Regelung vorzuschreiben oder gar selbst aufgrund dieser Bestimmung eine Neuverteilung der Abgeordnetensitze vorzunehmen. Ohnehin erforderten die Grundsätze des Vertrauensschutzes, der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens, die erfolgte Sitzverteilung unverändert zu lassen und eine Neuregelung erst für die nächste Landtagswahl vorzusehen. 36
4. Entsprechend den Anregungen der Beschwerdeführer hat das Innenministerium auf Anforderung des Staatsgerichtshofs Berechnungen des Statistischen Landesamtes zur Mandatsverteilung bei den Landtagswahlen 1988, 1992, 1996, 2001 und 2006 bei verschiedenen Zuteilungsmethoden und Berechnungsverfahren vorgelegt. 37

[Umdruck, S. 13] B.

I.
Die Wahlprüfungsbeschwerde ist zulässig. 38
1. Die Wahlprüfungsbeschwerde ist mit den gestellten Anträgen statthaft. Die Beschwerdeführer haben ihren Antrag darauf beschränkt, den Beschluss des Landtags von Baden-Württemberg vom 09.11.2006 aufzuheben und die Landtagswahl vom 26.03.2006 ganz oder teilweise in Wahlkreisen für ungültig zu erklären (§ 1 Abs. 1 LWPrG). Der Hauptantrag kann nach der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs grundsätzlich mit dem hilfsweisen Begehren verbunden werden, bestimmten Parteien zusätzliche Mandate zuzusprechen (StGH, Urt. v. 24.03.2003 – GR 3/01 –, ESVGH 54, 4, 5). 39
2. Die Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer Wahlprüfungsbeschwerde sind erfüllt. Die Beschwerdeführer sind jeweils als Wahlberechtigte antragsbefugt, nachdem sie die Landtagswahl vom 26.03.2006 gemäß § 1 LWPrG rechtzeitig mittels eines Einspruchs angefochten hatten und dieser Einspruch vom Landtag für unbegründet erklärt worden ist. Die Wahlprüfungsbeschwerde wurde am 11.12.2006 und damit innerhalb eines Monats nach der am 14.11.2006 erfolgten Zustellung des Beschlusses des Landtags eingereicht (§ 52 Abs. 1 Satz 1 StGHG). Ihr sind auch mehr als einhundert Wahlberechtigte beigetreten (§ 52 Abs. 1 Satz 2 Buchst. b StGHG). 40
3. Auf die Wahlprüfungsbeschwerde hin hat der Staatsgerichtshof die angefochtene Landtagswahl nicht in jeder Hinsicht, sondern nur hinsichtlich derjenigen Einwendungen zu überprüfen, die die Beschwerdeführer bereits mit ihrem Einspruch beim Landtag zulässigerweise vorgebracht hatten und die sie mit der Wahlprüfungsbeschwerde wiederholen (StGH, Urt. v. 01.07.1990 – GR 1/84 –, ESVGH 35, 244, 246; Urt. v. 24.03.2003 – GR 3/01 –, ESVGH 54, 4, 5). Mit ihrem Einspruch und ihrer Wahlprüfungsbeschwerde haben die Beschwerdeführer die Gültigkeit der Landtagswahl vom 26.03.2006 wegen der behaupteten Verfassungswidrigkeit der Bestimmungen über die Zahl der Wahlkreise und ihre Abgrenzung (§ 1 Abs. 1 und § 5 Abs. 1 LWG) sowie der Vorschriften über die Verteilung der Sitze nach dem bei der angefochtenen Landtagswahl [Umdruck, S. 14] noch geltenden Berechnungssystem (§ 2 Abs. 1 Satz 1, § 2 Abs. 2 bis 5 und § 2 Abs. 6 Satz 2 LWG a. F.) angezweifelt. Der Staatsgerichthof ist bei seiner Entscheidung über die Wahlprüfungsbeschwerde auf die Überprüfung dieser von den Beschwerdeführern im Wahlprüfungsverfahren gerügten Vorschriften beschränkt. Anders als der Landtag (§ 1 Abs. 3 LWPrG) ist der Staatsgerichtshof aber im Rahmen einer Wahlprüfungsbeschwerde nicht an der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit des Wahlgesetzes als Vorfrage gehindert (st. Rspr. StGH, Urt. v. 23.02.1990 – GR 2/88 –, ESVGH 40, 161, 163 m. w. Nachw.). 41
II.
Die Wahlprüfungsbeschwerde ist nicht begründet. 42
1. Die Beschwerdeführer wenden sich gegen die Verteilung der nach § 1 Abs. 1 LWG vorgesehenen 120 Abgeordnetensitze im „Verhältnis von 70 Erstmandaten zu 50 Zweitmandaten“. Entgegen dem Vorbringen der Beschwerdeführer ist es verfassungsrechtlich aber nicht geboten, dass die Zahl der Wahlkreise, in denen Erstmandate errungen werden können, die Hälfte der Gesamtmandate des Parlaments nicht übersteigt. 43
a) Art. 26 Abs. 4 LV bestimmt entsprechend der bindenden Vorgabe des Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG, dass alle nach der Verfassung durch das Volk vorzunehmenden Wahlen und Abstimmungen allgemein, frei und gleich, unmittelbar und geheim sind. Aus dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit folgt, dass die Stimme eines jeden Wahlberechtigten bei der gebotenen ex ante-Betrachtung grundsätzlich den gleichen Zählwert und die gleiche rechtliche Erfolgschance haben muss. Bezugspunkt hierfür ist die Verteilung der Mandate als dem eigentlichen Zweck der Wahl. Bei der Vorgabe des Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG für die Länder handelt es sich nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts um eine spezialgesetzlich normierte Ausprägung der vom Grundgesetz in Art. 3 Abs. 1 GG allgemein gewährleisteten Gleichheit der Bürger, die aber den Rückgriff auf diesen allgemeinen Gleichheitssatz ausschließt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 16.07.1998 – 2 BvR 1953/95 –, BVerfGE 99, 1, 9). Wegen des Zusammenhangs mit dem Demokratieprinzip ist der Grundsatz der [Umdruck, S. 15] Gleichheit der Wahl im Sinne einer strengen und formalen Gleichheit zu verstehen (BVerfG, Urt. v. 10.04.1997 – 2 BvF 1/95 –, BVerfGE 95, 335, 353; BVerfG, Urt. v. 10.04.1997 – 2 BvC 3/96 –, BVerfGE 95, 408, 417 jeweils m. w. Nachw.). 44
Trotz des formalen Verständnisses der Wahlrechtsgleichheit gilt das Gebot des grundsätzlich gleichen Erfolgswerts jeder Wählerstimme nicht unbegrenzt. Ausnahmen bedürfen eines besonderen rechtfertigenden Grundes und sind nur zulässig, soweit der rechtfertigende Grund die Abweichung erfordert und in seinem Gewicht der Intensität der Abweichung von der zugrunde gelegten Ordnung entspricht (BVerfG, Urt. v. 10.04.1997 – 2 BvC 3/96 –, BVerfGE 95, 408, 417 f.; StGH, Urt. v. 23.02.1990 – GR 2/88 –, ESVGH 40, 161, 165, 170; Urt. v. 12.12.1990 – GR 1/90 –, VBlBW 1991, 133, 137). Nicht erforderlich ist indes, dass sich die Differenzierungen von Verfassungs wegen als zwangsläufig oder notwendig darstellen. Es werden vielmehr auch Gründe zugelassen, die durch die Verfassung „nur“ legitimiert und von einigem Gewicht sind, das der Wahlrechtsgleichheit die Waage halten kann (vgl. BVerfG, Urt. v. 10.04.1997 – 2 BvC 3/96 –, BVerfGE 95, 408, 418). Den gleichen Anforderungen hat das Wahlrecht auch im Hinblick auf die ebenfalls in Art. 26 Abs. 4 LV verbürgte Chancengleichheit der Parteien zu genügen (BVerfG, Urt. v. 10.04.1997 – 2 BvC 3/96 –, BVerfGE 95, 408, 417; StGH, Urt. v. 01.07.1985 – GR 1/84 –, ESVGH 35, 244, 248). 45
Für die verfassungsrechtliche Prüfung ist ferner die Regelung des Art. 28 Abs. 1 LV zu berücksichtigen, wonach die Abgeordneten nach einem Verfahren gewählt werden, das die Persönlichkeitswahl mit den Grundsätzen der Verhältniswahl verbindet. Das Gebot der Wahlrechtsgleichheit wirkt sich im Bereich dieser beiden Prinzipien unterschiedlich aus. Bei der Mehrheitswahl führen nur die für den Mehrheitskandidaten abgegebenen Stimmen mit gleichem Zählwert zur Mandatszuteilung. Die auf die unterlegenen Kandidaten entfallenden Stimmen bleiben bei der Vergabe der Sitze im Parlament unberücksichtigt. Die Wahlrechtsgleichheit fordert hier, dass bei der Wahl in Ein-Personen-Wahlkreisen (Personenwahl) alle Wähler auf der Grundlage möglichst gleich großer Wahlkreise und damit mit annähernd gleichem Stimmengewicht am Wahlvorgang teilnehmen können (gleicher Zählwert). Dagegen bedeutet Wahlgleichheit bei der Verhältniswahl, dass jeder Wähler mit seiner Stimme den gleichen Einfluss auf die parteipolitische Zusammensetzung des Parlaments (Erfolgswertgleichheit) [Umdruck, S. 16] haben kann (vgl. BVerfG, Urt. v. 10.04.1997 – 2 BvF 1/95 –, BVerfGE 95, 335, 353 m. w. Nachw.). Bei der Verhältniswahl in strikter Ausprägung ist das Parlament ein getreues Spiegelbild der parteipolitischen Gruppierung der Wählerschaft, in dem jede politische Richtung in der Stärke vertreten ist, die dem Gesamtanteil der für sie im Wahlgebiet abgegebenen Stimmen entspricht (vgl. BVerfG, Urt. v. 05.04.1952 – 2 BvH 1/52 –, BVerfGE 1, 208, 244; Urt. v. 10.04.1997 – 2 BvC 3/96 –, BVerfGE 95, 408, 419). 46
b) Die Landesverfassung eröffnet dem Gesetzgeber bei der ihm obliegenden Ausgestaltung des Wahlrechts in Bezug auf die beiden in Art. 28 Abs. 1 LV bindend vorgegebenen Elemente einen Gestaltungsspielraum. Auch bei der im Rahmen der Wahlprüfungsbeschwerde gebotenen Inzidentkontrolle ist es nicht Aufgabe des Staatsgerichtshofs zu prüfen, ob der Gesetzgeber innerhalb seines ihm verfassungsrechtlich eingeräumten Spielraums für die Gestaltung des Wahlsystems eine zweckmäßige oder rechtspolitisch vorzugswürdige Lösung gefunden hat (vgl. BVerfG, Urt. v. 10.04.1997 – 2 BvF 1/95 –, BVerfGE 95, 335, 354 m. w. Nachw.). Geht es um Normgebung, sind auch die individuellen Motive der hieran beteiligten Personen nicht von Bedeutung. Maßgeblich ist allein das Ergebnis des Gesetzgebungsverfahrens und die Frage, ob sich für die vom Gesetzgeber getroffene Regelung ein verfassungsrechtlich anzuerkennender Grund findet und ob der Gesetzgeber die verfassungsrechtlichen Grenzen seiner Gestaltungsbefugnis beachtet hat. 47
c) Eine Überschreitung des dem Gesetzgeber danach zustehenden Spielraums kann hinsichtlich des § 1 Abs. 1 LWG nicht festgestellt werden. 48
aa) Weder aus dem Wortlaut noch aus Sinn und Zweck von Art. 28 Abs. 1 LV ergibt sich, dass die Zahl der Wahlkreise, in denen eine Persönlichkeitswahl (Mehrheitswahl) erfolgt, die Hälfte der Gesamtmandatszahl nicht übersteigen darf. Ein solches verfassungsrechtliches Gebot lässt sich auch nicht aus Art. 26 Abs. 4 LV ableiten. Die Regelungen über die Zahl der Abgeordneten und der Wahlkreise werden den verfassungsrechtlichen Vorgaben gerecht; sie berücksichtigen insbesondere ausreichend die Grundsätze der Verhältniswahl. 49
[Umdruck, S. 17] Bei der Zuteilung der Sitze steht an erster Stelle die in § 2 Abs. 1 LWG geregelte und unabhängig von der Zahl der von einer Partei errungenen Erstmandate erfolgende Verteilung der 120 Abgeordnetensitze des Landtags auf die nach § 2 Abs. 1 Satz 2 LWG („5 Prozent-Klausel“) zuteilungsberechtigten Parteien nach ihrem landesweiten Stimmenverhältnis unter Anwendung des d'Hondtschen Höchstzahlverfahrens (sog. Grund- oder Oberverteilung). Sodann bestimmt § 2 Abs. 2 LWG a. F., dass die jeder Partei im Land zustehenden Sitze auf die vier Regierungsbezirke im Verhältnis der von ihr dort erreichten Stimmenzahlen verteilt werden, wobei wiederum das d'Hondtsche Höchstzahlverfahren zur Anwendung gelangt (sog. Unterverteilung). Erst im Anschluss an diese beiden Schritte werden die von den Bewerbern einer Partei in den Wahlkreisen errungenen Erstmandate relevant. Denn von den einer Partei in einem Regierungsbezirk nach § 2 Abs. 2 LWG a. F. zustehenden Sitzen werden die von den Bewerbern dieser Partei dort errungenen Direktmandate abgezogen. Ist die Zahl der im Regierungsbezirk errungenen Erstmandate größer als die Zahl der der Partei dort nach Absatz 2 zustehenden Sitze, so bleiben diese Mandate dennoch erhalten, sind aber nach § 2 Abs. 4 LWG a. F. als Überhangmandate auszugleichen. Dieser Ausgleich erfolgt auf der Ebene des betreffenden Regierungsbezirks. Bleibt dagegen die Zahl der Erstmandate einer Partei hinter der nach Absatz 2 für den Regierungsbezirk ermittelten Sitzzahl zurück, stehen dieser Partei reguläre Zweitmandate nach § 2 Abs. 3 Satz 2 LWG zu. Die Zuteilung der im Wege der Zweitausteilung verfügbaren regulären Mandate (§ 2 Abs. 3 Satz 2 LWG) wie auch etwaiger Ausgleichsmandate (§ 2 Abs. 4 Satz 1 und 2 LWG a. F.) auf konkrete Personen weist wiederum Elemente einer Persönlichkeitswahl auf. Denn maßgeblich ist nicht eine von einer Partei aufgestellte Liste, sondern allein die absolute Zahl der auf einen Bewerber im Wahlkreis entfallenen Stimmen im Vergleich mit den absoluten Stimmenzahlen seiner parteigleichen Mitbewerber in diesem Regierungsbezirk (§ 2 Abs. 3 Satz 2 und Abs. 4 Satz 3 sowie Abs. 5 LWG). 50
bb) Nach dem System des § 2 LWG ist danach allerdings die Zahl der Erstmandate in erster Linie für die Entstehung der nach dem Landesrecht ausgleichspflichtigen Überhangmandate relevant. Je größer die Zahl der Wahlkreise ist, in denen Direktmandate errungen werden können, desto größer können die Zahl und die Auswirkungen der auszugleichenden Überhangmandate werden. Die Möglichkeit der Entstehung von Überhangmandaten als solche ist aber die notwendige Folge der [Umdruck, S. 18] Einführung eines Mischsystems aus Mehrheitswahl im Ein-Personen-Wahlkreis und einer Verhältniswahl, wie es Art. 28 Abs. 1 LV gerade vorschreibt. Denn Ausdruck der Persönlichkeitswahl ist es, dass jedem in seinem Wahlkreis obsiegenden Bewerber dieser Sitz im Parlament unabhängig davon zusteht, ob die Bewerber seiner Partei mehr Erstmandate errungen haben als der Partei nach der Stimmenzahl im Wahlgebiet tatsächlich zustehen. Wie sich bereits aus dem Wortlaut des § 2 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 4 Satz 1 LWG a. F. ergibt („...ist der Bewerber gewählt, der...“ und „Erlangt eine Partei in einem Regierungsbezirk nach Absatz 3 Satz 1 mehr Sitze,“), ist dieser Abgeordnete als solcher schon aufgrund der Auszählung der Stimmen als Mitglied des Landtags legitimiert (vgl. BVerfG, Urt. v. 10.04.1997 – 2 BvF 1/95 –, BVerfGE 95, 335, 356 f.). Erhält der im Wahlkreis Obsiegende stets einen Sitz im Parlament, ist bei einer Verbindung der Verhältniswahl mit Elementen der Mehrheitswahl systembedingt mit der Möglichkeit des Anfalls von Überhangmandaten zu rechnen, die die parteipolitische Zusammensetzung des Parlaments beeinflussen und letztlich über die Mehrheit im Parlament entscheiden können (vgl. BVerfG, Urt. v. 10.04.1997 – 2 BvF 1/95 –, BVerfGE 95, 335, 357 f.). 51
Das Gesetz sieht in § 2 Abs. 4 LWG a. F. – anders als das Bundestagswahlrecht – einen Ausgleich der einer Partei zufallenden Überhangmandate vor. Es erscheint aber durchaus zweifelhaft, ob die Regelung des § 2 Abs. 4 LWG a. F. in dem regelmäßig auftretenden Fall, dass die stärkste Partei in mehreren Regierungsbezirken Mehrsitze erringt, zu einem vollständigen Ausgleich der von einer Partei erlangten Überhangmandate führt. 52
cc) Die Entscheidung des Gesetzgebers, dem Bereich der Mehrheitswahl durch die Einteilung des Wahlgebiets in 70 Wahlkreise besonderes Gewicht beizumessen, ist auch im Hinblick auf die damit verbundene größere Wahrscheinlichkeit des Anfalls von Überhangmandaten durch einen verfassungsrechtlich anzuerkennenden Gesichtspunkt gerechtfertigt. 53
Die konkrete Ausgestaltung dient der Verwirklichung der mit der Parlamentswahl verfolgten Ziele, insbesondere der Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes und zugleich der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung (vgl. BVerfG, Urt. v. 10.04.1997 – [Umdruck, S. 19] 2 BvC 3/96 –, BVerfGE 95, 408, 418). Durch die Direktwahl eines Bewerbers im Wahlkreis wird eine engere persönliche Beziehung der Wahlkreisabgeordneten zu dem betreffenden Wahlkreis geknüpft, in dem sie gewählt worden sind (BVerfG, Beschl. v. 22.05.1963 – 2 BvC 3/62 –, BVerfGE 16, 130, 140; Urt. v. 10.04.1997 – 2 BvF 1/95 –, BVerfGE 95, 335, 352, 358; Braun, Kommentar zur Verfassung des Landes Baden-Württemberg, Art. 28, Rn. 8). Damit wird dem Vertrauen der Wähler zu ihrem Repräsentanten im Parlament eine persönlichkeitsbestimmte Grundlage gegeben. Zudem stärkt die Direktwahl als Person den repräsentativen Status der Abgeordneten als Vertreter des ganzen Volkes (Art. 27 Abs. 3 Satz 1 LV). Auch aus Sicht des Wahlvolkes führt die Direktwahl eines Wahlkreisbewerbers anstatt einer bloßen Listenwahl zu einer stärkeren Identifikation mit diesem Abgeordneten und damit zu einem gesteigerten Interesse an der Arbeit des gesamten Parlaments. Hierauf ist eine lebendige Demokratie dringend angewiesen. Je größer die Zahl der Wahlkreise ist, umso so größer ist der Anteil derjenigen Abgeordneten des Landtags, die als Sieger einer Direktwahl durch eine stärkere Verbindung zum Wahlkreis und der dortigen Bevölkerung geprägt sind. Dies gilt auch im Hinblick darauf, dass durch den Ausschluss von bloßen Parteilisten im Bereich des Verhältnisausgleichs nach § 2 LWG dem Landtag nur solche Personen (Zweit- und Ausgleichsmandate nach § 2 Abs. 3 Satz 2 und Abs. 4 Satz 3 LWG) angehören, die sich in einem Wahlkreis um ein Direktmandat beworben haben. 54
Auch zeigt der Blick auf andere – früher oder derzeit geltende – Wahlgesetze, dass ein Überwiegen der Zahl der Erstmandate ein anerkanntes Instrument darstellt, dessen verfassungsrechtliche Zulässigkeit bislang nicht in Frage gestellt worden ist. So sah z. B. das vom Parlamentarischen Rat ausgearbeitete Wahlgesetz zum ersten Bundestag und zur ersten Bundesversammlung der Bundesrepublik Deutschland vom 15. Juni 1949 (BGBl. S. 21) vor, dass 60 v. H. der Abgeordneten in 242 Wahlkreisen nach dem Grundsatz relativer Mehrheit gewählt und 40 v. H. aufgrund der gleichen – einzigen – Stimme zum Zwecke des Verhältnisausgleichs nach Landeslisten bestimmt wurden, wobei dem Parlamentarischen Rat die Gefahr der Entstehung von Überhangmandaten bewusst war (vgl. die Darstellung in BVerfGE 95, 335, 351; Schreiber, Handbuch des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag, 7. Aufl., S. 66 ff.). Heute noch sehen die Wahlgesetze der Länder Berlin, Hamburg, Niedersachsen, [Umdruck, S. 20] Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein vor, dass die Zahl der Direktmandate die Hälfte der Gesamtzahl der Mandate übersteigt. 55
dd) Die Beschwerdeführer haben ferner auf die Ergebnisse der zurückliegenden Landtagswahlen verwiesen und geltend gemacht, dass die Verteilung der Gesamtzahl der Abgeordnetensitze auf Erst- und Zweitmandate stets die stärkste Partei begünstigt habe. Dass die stärkste Partei auch die ganz überwiegende Zahl der Erstmandate gewinnt, war aber jeweils Ausdruck des Wählerwillens und keine Folge des Wahlsystems. Denn in diesem ist es nicht angelegt, dass die stärkste Partei auch die überwiegende Zahl der Erstmandate erringt. Ebenso ist es möglich, dass die Bewerber der stärksten Partei gemessen am Anteil ihrer Partei an der Gesamtstimmenzahl im Land weniger Erstmandate gewinnen. Der Gesetzgeber ist jedenfalls nicht gehalten, durch die Ausgestaltung des Wahlsystems zu verhindern, dass die Bewerber der stärksten Partei im Land auch die überwiegende Zahl der Erstmandate erringen. Denn sämtliche Bewerber um ein Erstmandat haben rechtlich die gleiche Chance, dieses zu erringen. 56
2. Die Beschwerdeführer haben ferner geltend gemacht, die Abgrenzung der Wahlkreise (§ 5 Abs. 1 LWG) entspreche nicht dem aus Art. 26 Abs. 4 LV abgeleiteten Gebot der Wahlrechtsgleichheit, der Erfolgswertgleichheit der Stimmen der Wahlberechtigten und der Chancengleichheit der Bewerber. Bei der Landtagswahl 2006 habe in verfassungswidriger Weise die Abweichung von der rechnerischen Durchschnittsgröße bei 12 Wahlkreisen 20 v. H., bei weiteren 9 Wahlkreisen mehr als 15 v. H. und beim Wahlkreis Nr. 62 (Tübingen) sogar 27 v. H. betragen. Diese Rüge ist ebenfalls unbegründet. 57
a) Mit Blick auf das aktive Wahlrecht gebietet der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit (Art. 26 Abs. 4 LV) in Bezug auf die Verteilung der Mandate im Landtag grundsätzlich, dass die Stimme eines jeden Wahlberechtigten den gleichen Zählwert und die gleiche rechtliche Möglichkeit haben muss, auf das Wahlergebnis Einfluss zu nehmen (BVerfG, Urt. v. 10.04.1997 – 2 BvF 1/95 –, BVerfGE 95, 335, 353, 369 f.; BVerfG, Urt. v. 10.04.1997 – 2 BvC 3/96 –, BVerfGE 95, 408, 417). Abweichungen von diesem streng und formal geltenden Grundsatz sind, wie bereits dargelegt (II 1 a), nur ausnahmsweise zulässig. 58
[Umdruck, S. 21] Die aus dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit abzuleitenden konkreten Anforderungen hängen aber von dem vom Gesetzgeber vorgesehenen Wahlsystem ab. Entsprechend der Vorgabe des Art. 28 Abs. 1 LV hat der Gesetzgeber eine Kombination von Mehrheits- und Verhältniswahl vorgesehen. Deshalb kommen nicht allein die für die Mehrheitswahl geltenden Grundsätze zur Anwendung, wonach bei einer reinen Mehrheitswahl im Ein-Personen-Wahlkreis erhebliche Größenunterschiede der Wahlkreise mit dem Gebot der Wahlrechtsgleichheit schlechthin nicht vereinbar sind (BVerfG, Beschl. v. 26.08.1961 – 2 BvR 322/61 –, BVerfGE 13, 127, 128; Beschl. v. 22.05.1963 – 2 BvC 3/62 –, BVerfGE 16, 130, 136). Andererseits kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass, wie bei einer Verhältniswahl mit überregionaler Reststimmenverwertung (BVerfG, Beschl. v. 26.08.1961 – 2 BvR 322/61 –, BVerfGE 13, 127, 128), der Größe der Wahlkreise keine entscheidende Rolle zukommt. Wegen der das geltende Wahlsystem mitbestimmenden Persönlichkeitswahl (Mehrheitswahl) ist der Gesetzgeber gehalten, bei der Bestimmung der Größe der Wahlkreise übermäßige Unterschiede in der Größe der Wahlkreise zu vermeiden, die nicht aus wahlsystembezogenen Anknüpfungen legitimiert sind (vgl. dazu insgesamt StGH, Urt. v. 23.02.1990 – GR 2/88 –, ESVGH 40, 161, 164 ff.). Bei der Einteilung der Wahlkreise kommt dem Gesetzgeber aber gerade wegen des Elements der Persönlichkeitswahl ein gewisser Beurteilungsspielraum zu. Jeder Wahlkreis soll nach dem Gedanken einer territorialen Verankerung des im Wahlkreis gewählten Abgeordneten zugleich ein zusammengehörendes und abgerundetes Ganzes bilden. Durch die Anknüpfung auch an wirtschaftliche und kulturelle Gegebenheiten soll betont werden, dass der Wahlkreisabgeordnete eine in sich geschlossene und unter vielen Gesichtspunkten miteinander verbundene Bevölkerungsgruppe repräsentieren soll. Auch aus diesem Grund sollen sich historisch verwurzelte Verwaltungsgrenzen nach Möglichkeit mit den Wahlkreisgrenzen decken und der Wahlkreis soll ein zusammenhängendes Gebiet bilden. Auch bedarf die durch die Erringung des Erstmandats im jeweiligen Wahlkreis geknüpfte engere persönliche Beziehung des betreffenden Abgeordneten zu diesem Wahlkreis einer gewissen Kontinuität der räumlichen Gestalt des Wahlkreises. Es liefe deshalb den Prinzipien der demokratischen Repräsentation zuwider, wenn Wahlkreise unter Berufung auf die Angleichung ihrer Größe ständig einer Änderung unterzogen würden (StGH, Urt. v. 12.12.1990 – GR 1/90 –, VBlBW 1991, 133, 141; BVerfG, Urt. v. 10.04.1997 – 2 BvF 1/95 –, BVerfGE 95, 335, 364; [Umdruck, S. 22] Beschl. v. 18.07.2001 – 2 BvR 1252/99 u. a. –, NVwZ 2002, 71). Ferner ergeben sich Größenunterschiede aus der sich ständig verändernden Bevölkerungsverteilung innerhalb des Landes. 59
b) Die Grenze der aus diesen Gründen im Hinblick auf den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit noch hinzunehmenden Abweichung der Wahlkreisgröße vom Durchschnittswert hatte das Bundesverfassungsgericht ursprünglich bei einem Wert von plus/minus 1/3 als erreicht angesehen (§ 3 Abs. 2 Satz 2 BWG a. F.; BVerfG, Beschl. v. 22.05.1963 – 2 BvC 3/62 –, BVerfGE 16, 130, 141). Von dieser „Toleranzgrenze“ ist auch der Staatsgerichtshof in seinen Urteilen vom 01.07.1985 (– GR 1/84 –, ESVGH 35, 244, 249) und vom 23.02.1990 (– GR 2/88 –, ESVGH 40, 161, 169) ausgegangen. Aber bereits in dem letztgenannten Urteil hat der Staatsgerichtshof diese Grenze als sehr weitgehend beurteilt (ESVGH 40, 161, 169). In seinem Urteil vom 10.04.1997 hat dann auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG, Urt. v. 10.04.1997 – 2 BvF 1/95 –, BVerfGE 95, 335, 365) die bis dahin noch akzeptierte Abweichungstoleranz von 1/3 im Hinblick auf den Gesichtspunkt der Wahlgleichheit aufgegeben, ohne zugleich eine niedrigere Grenze verbindlich vorzugeben. Noch vor diesem Urteil des Bundesverfassungsgerichts hatte bereits der Bundestag § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BWG dahingehend geändert, dass die Bevölkerungszahl eines Wahlkreises von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl der Wahlkreise nicht um mehr als 15 v. H. nach oben oder unten abweichen soll und eine neue Abgrenzung vorzunehmen ist, wenn die Abweichung mehr als 25 v. H. beträgt (Dreizehntes Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 15. November 1996, BGBl. I S. 1712). 60
c) Bei der Neueinteilung der Wahlkreise im Vorfeld der angefochtenen Landtagswahl durch das Gesetz zur Änderung des Landtagswahlgesetzes vom 20. Dezember 2004 (GBl. 2005, S. 76) hat sich der Landesgesetzgeber ebenfalls an der Obergrenze für eine zulässige Abweichung von der Durchschnittsgröße der Wahlkreise von plus/minus 25 v. H. orientiert (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Ständigen Ausschusses, LT-Drucks. 13/3825, S. 4 ff.). Auch im Hinblick darauf, dass die Wähler bei der Landtagswahl nur eine Stimme haben und die Größe der Wahlkreise für die Zuteilung der Zweitmandate von Bedeutung ist, weil es nach der von den Beschwerdeführern nicht angegriffenen Bestimmung des § 2 Abs. 3 Satz 2 LWG auf die absoluten Stimmenzahlen ankommt und diese auch von der Größe der Wahlkreise [Umdruck, S. 23] abhängen, kann das Abstellen auf eine „Toleranzgrenze“ von 25 v. H. wegen der genannten Erwägungen, von denen sich der Gesetzgeber beim Zuschnitt der Wahlkreise leiten lassen kann, mit Blick auf die verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 26 Abs. 4 LV nicht beanstandet werden. 61
Rechtlich unerheblich ist ferner, dass der Landesgesetzgeber diese Vorgabe, anders als der Bundesgesetzgeber in § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BWG, nicht normativ festgeschrieben hat. Denn es kommt nur darauf an, ob die konkrete vom Gesetzgeber vorgenommene Einteilung den verfassungsrechtlichen Vorgaben tatsächlich entspricht. Der Staatsgerichtshof kann bei der im Rahmen der Wahlprüfungsbeschwerde gebotenen Inzidentprüfung der der angefochtenen Wahl zugrunde liegenden Bestimmungen des Landtagswahlgesetzes wegen des dem Gesetzgeber zustehenden Gestaltungsspielraums nur die Einhaltung der diesem gesetzten verfassungsrechtlichen Grenzen überprüfen, nicht dagegen, ob der Gesetzgeber zweckmäßige oder rechtspolitisch erwünschte Lösungen gefunden hat (vgl. BVerfG, Beschl. v. 22.05.1979 – 2 BvR 193/97 –, BVerfGE 51, 222, 236 f.; Urt. v. 10.04.1997 – 2 BvC 3/96 –, BVerfGE 95, 408, 420). 62
Hieraus folgt, dass es nicht Aufgabe des Staatsgerichtshofs ist, die inhaltliche Schlüssigkeit der Entscheidung des Gesetzgebers bei der Festlegung jedes einzelnen Wahlkreises zu überprüfen. Der Gerichtshof hat danach nicht nachzuprüfen, ob der konkrete, von der Durchschnittsgröße abweichende Zuschnitt eines einzelnen Wahlkreises im Hinblick auf die in der Rechtsprechung hierfür anerkannten Aspekte, wie etwa das Erfordernis eines abgeschlossenen und abgerundeten Wahlgebietes, den Gesichtspunkt der Übereinstimmung mit historisch verwurzelten Verwaltungsgrenzen oder den Grundsatz der Kontinuität der räumlichen Gestalt des Wahlkreises, gerechtfertigt ist. Unerheblich sind auch die persönlichen Motive der an der Normsetzung Beteiligten. Maßgeblich ist allein das Ergebnis des Rechtsetzungsverfahrens, hier das vom Landtag beschlossene Gesetz, und die Frage, ob dieses Ergebnis den rechtlichen Maßstäben entspricht (BVerfG, Beschl. v. 20.03.1979 – 1 BvR 111/74 und 283/78 –, BVerfGE 52, 1, 26 f.). 63
d) Entgegen dem Vorbringen der Beschwerdeführer kommt auch der Regelung in § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BWG, wonach die Bevölkerungszahl eines Wahlkreises von der [Umdruck, S. 24] durchschnittlichen Bevölkerungszahl nicht um mehr als 15 v. H. nach oben oder unten abweichen soll, für die vom Landtag zu treffende Entscheidung über den Zuschnitt der Wahlkreise für die Landtagswahl keine rechtliche Bedeutung zu. Denn dabei handelt es sich um eine Vorgabe, die sich der Bundestag für den ihm obliegenden Zuschnitt der Wahlkreise für die Wahl zum Deutschen Bundestag selbst gesetzt hat und nicht um den Ausfluss eines Rechtsgrundsatzes, der auch den Gestaltungsspielraum des Landesgesetzgebers einschränkt (vgl. BVerfG, Vorprüfungsausschuss, Beschl. v. 28.11.1979 – 2 BvR 870/79 –, S. 2 f. zur fehlenden Bindungswirkung des § 3 Abs. 2 BWG a. F. für den Landesgesetzgeber). Für die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des Landtags kommt es nur darauf an, ob dieser seine verfassungsrechtlichen Grenzen eingehalten hat. Dies ist hier gegeben, weil der Landtag von der verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden „Toleranzgrenze“ von plus/minus 25 v. H. ausgegangen ist. 64
e) Bei der Einteilung der 70 Wahlkreise hat sich der Landtag an der Zahl der Wahlberechtigten der letzten Landtagswahl (25.03.2001) orientiert (vgl. LT-Drucks. 13/3825, S. 6 f.). Insoweit konnte sich der Landtag auf die bisherige Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs zur Beachtlichkeit eines festgestellten Verstoßes gegen die aus der Wahlgleichheit abgeleiteten Grundsätze zur Abgrenzung der Wahlkreise stützen (Urt. v. 23.02.1990 – GR 2/88 –, ESVGH 40, 161, 169 f.). 65
Danach ist eine der Sache nach ungleiche und damit verfassungswidrige Wahlkreiseinteilung dann nicht als ungültig und damit als Grund zur verfassungsgerichtlichen Beanstandung der Wahlfeststellung anzusehen, wenn sie zum maßgeblichen Zeitpunkt noch nicht eindeutig erkennbar war. Eine Evidenz in diesem Sinne ist dann nicht gegeben, wenn bei den der angefochtenen Wahl vorangegangenen Wahlen kein Verstoß gegen die vom Gesetzgeber für die Einteilung der Wahlkreise angenommene „Toleranzgrenze“ festgestellt worden sei. Für den Wahlkreis 62 (Tübingen), dessen Zuschnitt durch das Gesetz zur Änderung des Landtagswahlgesetzes vom 20. Dezember 2004 (GBl. 2005, S. 76) nicht geändert wurde und der bei der angefochtenen Landtagswahl um plus 27 v. H. von der Durchschnittsgröße der Wahlkreise abwich, errechnet sich für die vorangegangene Landtagswahl 2001 eine Abweichung von plus 24,1 v. H.. Herangezogen werden könnten auch die Daten der Landtagswahlen 1992 und 1996, weil die 1990 beschlossene Wahlkreiseinteilung [Umdruck, S. 25] (Gesetz vom 15. Oktober 1990, GBl. S. 293) bis zum Dezember 2004 und damit auch für die Landtagswahlen von 1992 und 1996 galt. Für den Wahlkreis Nr. 62 ergab sich bei diesen Wahlen eine Abweichung von lediglich plus 21,7 v. H. und plus 21,8 v. H.. 66
Bei den sechs Wahlkreisen, bei denen nach den als maßgeblich angesehenen Daten der Landtagswahl 2001 bei der Wahl vom März 2006 eine Überschreitung der nunmehr als entscheidend bewerteten „Toleranzgrenze“ von plus/minus 25 v. H. drohte, hat der Landtag durch eine Neuzuweisung von Gemeinden eine solche vermieden (Gesetz zur Änderung des Landtagswahlgesetzes vom 20. Dezember 2004, GBl. 2005, S. 76). 67
f) Die Überschreitung der Toleranzgrenze von 25 v. H. im Wahlkreis Nummer 62 am Wahltag rechtfertigt es demgemäß nicht, die Wahlkreiseinteilung für die Landtagswahl am 26. März 2006 verfassungsrechtlich zu beanstanden. Der Staatsgerichtshof lässt indessen offen, ob künftig daran festgehalten werden kann, bei der Frage der Evidenz einer Überschreitung der Toleranzgrenze ausschließlich auf die Zahl der Wahlberechtigten bei den vorangegangenen Landtagswahlen abzustellen. 68
Die Einteilung der Wahlkreise muss sämtlichen Bewerbern die gleiche Chance einräumen, dem Landtag künftig anzugehören. Neben der Zahl der Wahlberechtigten bei den vorangegangenen Landtagswahlen könnten im Interesse der Aktualität des Datenbestandes, wie im Bereich des Bundestagswahlrechts, unterstützend die fortlaufend vom Statistischen Landesamt erhobenen „Zahlen der deutschen Bevölkerung“ herangezogen werden. So ließe sich die Bevölkerungsentwicklung, die Rückschlüsse auf die Zahl der Wahlberechtigten zulassen kann, kontinuierlich beobachten. Wenn dabei festzustellen ist, dass sich die Bevölkerungszahl eines Wahlkreises signifikant überproportional verändert und die Toleranzgrenze bei der vorangegangenen Landtagswahl nahezu erreicht wurde, wird der Gesetzgeber gehalten sein, durch eine rechtzeitige Umgestaltung der Wahlkreise eine Überschreitung der Toleranzgrenze am Wahltag zu verhindern. Der Bund prüft regelmäßig bereits dann eine Neueinteilung der Wahlkreise aufgrund von Vorschlägen der Wahlkreiskommission, wenn die Abweichung den Wert von 22 v. H. überschreitet und deshalb eine Überschreitung der Toleranzgrenze zum Wahltag nicht ausgeschlossen werden kann [Umdruck, S. 26] (vgl. Gesetz v. 27. April 2001, BGBl. I S. 701, und BT-Drucks. 14/4497, S. 31 ff.; Gesetz v. 11. März 2005, BGBl. I S. 674, und BT-Drucks. 15/4492, S. 55 ff.). Eine solche vorsorgliche Handhabung führt dazu, dass eine dennoch am Wahltag eintretende Überschreitung der Toleranzgrenze die Verfassungsmäßigkeit der Wahl nicht infrage stellen kann. 69
3. Die Unterschiede hinsichtlich der durchschnittlichen Größe der Wahlkreise in den vier Regierungsbezirken des Landes verletzen nicht die in Art. 26 Abs. 4 LV gewährleistete Wahlrechtsgleichheit. 70
Die unterschiedliche Durchschnittsgröße der Wahlkreise in den vier Regierungsbezirken des Landes hat auf die Zusammensetzung des Landtags keinen Einfluss. Die parteipolitische Zusammensetzung des Landtags, auf die sich das Gebot der Erfolgswertgleichheit bezieht, wird in der angefochtenen Landtagswahl durch die in § 2 Abs. 1 Satz 1 LWG a. F. geregelte sog. Grund- oder Oberverteilung bestimmt. Danach werden die 120 Abgeordnetensitze auf die Parteien im Verhältnis ihrer Gesamtstimmenzahl im Land nach dem d´Hondtschen Höchstzahlverfahren verteilt. Da das Ergebnis im Land entscheidend ist, kommt auf dieser ersten Zuteilungsstufe der Ebene der Regierungsbezirke keine Bedeutung zu. Anschließend werden die jeder Partei im Land zustehenden Sitze gemäß § 2 Abs. 2 LWG a. F. auf die Regierungsbezirke im Verhältnis der von ihr dort ereichten Stimmenzahlen nach dem d´Hondtschen Höchstzahlverfahren verteilt (sog. Unterverteilung). Auch auf diese Verteilung hat der Umstand, dass die durchschnittliche Größe der Wahlkreise in den vier Regierungsbezirken voneinander abweicht, keine Auswirkungen. Im Wahlsystem folgt weiter die Ermittlung des Siegers im jeweiligen Wahlkreis. Gewählt ist nach § 2 Abs. 3 Satz 1 LWG derjenige Bewerber, der die meisten Stimmen erreicht hat. Auch für diese Stufe sind die Unterschiede hinsichtlich des Durchschnitts der Größe der Wahlkreise in den Regierungsbezirken nicht relevant. 71
Bezugspunkt für die Beurteilung der Zulässigkeit der Abweichung der Größe eines Wahlkreises von einem Durchschnittswert ist nicht der betreffende Regierungsbezirk, sondern das gesamte Land. Der Gesetzgeber hat bei der landesweiten Einteilung der 70 Wahlkreise einen Gestaltungsspielraum, den er bislang nicht überschritten hat. Insbesondere darf er beim Zuschnitt auch etwa verwurzelte Verwaltungsgrenzen [Umdruck, S. 27] oder die Kontinuität der räumlichen Gestalt des Wahlkreises berücksichtigen. Wenn solche Umstände zu Unterschieden in der durchschnittlichen Größe der Wahlkreise in den Regierungsbezirken führen, ist dies verfassungsrechtlich unbedenklich. Die Regierungsbezirke sind im Übrigen für die Einteilung der Wahlkreise nur insoweit relevant, als diese nicht über die Grenzen eines Regierungsbezirks hinausreichen dürfen. Denn dies setzen die in § 2 Abs. 3 Satz 2 und Abs. 4 LWG a. F. geregelten Mechanismen voraus. Auch bei diesen und den weiteren Stufen des in § 2 LWG geregelten Zuteilungsverfahrens kommt dem Umstand, dass der Durchschnitt der Zahl der Wahlberechtigten je Wahlkreis in den vier Regierungsbezirken voneinander abweicht, keine Bedeutung zu. 72
4. Die Beschwerdeführer machen ferner geltend, dass die Vorschriften über die Verteilung der Sitze nach dem bei der angefochtenen Landtagswahl noch geltenden Berechnungssystem (§ 2 Abs. 1 Satz 1, § 2 Abs. 2 bis 5 und § 2 Abs. 6 Satz 2 LWG a. F.) gegen das verfassungsrechtliche Gebot des gleichen Erfolgswerts der Stimme verstoßen. Auch diese Rüge ist unbegründet, weil diese Vorschriften verfassungsgemäß waren. 73
a) § 2 Abs. 4 LWG a. F. regelte in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise den Ausgleich der von einer Partei in einem Regierungsbezirk erlangten Überhangmandate. 74
aa) Der Staatsgerichtshof hat die Vereinbarkeit von § 2 Abs. 4 Satz 1 und 2 LWG a. F. mit der Landesverfassung in seinem Urteil vom 12.12.1990 (– GR 1/90 –, VBlBW 1991, 133, 137) festgestellt. Dieses Urteil ist in einem Verfahren der abstrakten Normenkontrolle nach Art. 68 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 LV ergangen, so dass der Ausspruch des Staatsgerichtshofs ungeachtet der Frage, ob die Entscheidungsformel ordnungsgemäß im Gesetzblatt veröffentlicht worden ist (§ 23 Abs. 1 Satz 2 StGHG), in Gesetzeskraft erwachsen ist (vgl. StGH, Urt. v. 24.03.2003 – GR 3/01 –, ESVGH 54, 4, 8 f.). Die Gesetzeskraft einer Normenkontrollentscheidung bewirkt, dass die Gültigkeit eines Gesetzes nicht nur im Verhältnis zwischen den Beteiligten dieses Verfahrens, sondern verbindlich mit Wirkung für und gegen jedermann festgestellt wird (StGH, Urt. v. 08.02.2000 – GR 1/98 –, ESVGH 51, 1, 2). Die Gesetzeskraft des Urteils steht aber nicht nur als Prozesshindernis einer erneuten Entscheidung über [Umdruck, S. 28] denselben Streitgegenstand entgegen. Vielmehr muss jedermann, auch der Staatsgerichtshof, von der Gültigkeit der Norm ausgehen, wenn es in einem weiteren Verfahren mit einem anderen Streitgegenstand als der Frage der Verfassungsmäßigkeit dieser Norm (hier Wahlprüfungsbeschwerde) auf diese Bestimmung ankommt. 75
bb) Zwar bezieht sich auch eine mit Gesetzeskraft versehene gerichtliche Entscheidung immer nur auf den Zeitpunkt, in dem diese Entscheidung ergangen ist. Deshalb steht auch die Gesetzeskraft eines die Verfassungsmäßigkeit einer Norm bestätigenden Urteils der erneuten gerichtlichen Überprüfung dieser Bestimmung im Hinblick auf zwischenzeitlich neu eingetretene Umstände nicht entgegen (StGH, Urt. v. 10.05.1999 – GR 2/97 –, ESVGH 49, 241, 243; Urt. v. 08.02.2000 – GR 1/98 –, ESVGH 51, 1, 2). Die hierfür erforderliche Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse hat der StGH bereits in seinem Urteil vom 24.03.2003 (– GR 3/01 –, ESVGH 54, 4, 10) nicht feststellen können. Es ist nicht ersichtlich, dass seit Erlass dieses Urteils bis zum Tag der Wahl eine solche Veränderung eingetreten wäre. Im Übrigen sähe der Staatsgerichtshof weiterhin auch in der Sache keinen durchgreifenden Grund für eine Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Bestimmung, wie sich aus den nachfolgenden Ausführungen zu § 2 Abs. 1 Satz 1 LWG a. F. (unten b) bb) ) ergibt. 76
b) Ausdrückliche Bezugnahmen auf das von den Beschwerdeführern angegriffene Berechnungsverfahren nach d´Hondt finden sich außer in § 2 Abs. 4 LWG a. F. noch in dessen Absätzen 1 und 2. Die Vereinbarkeit dieser Absätze der Bestimmung mit der Landesverfassung hat der Staatsgerichtshof bislang nicht mit Gesetzeskraft in einem Normenkontrollverfahren festgestellt. Sie unterliegen deshalb der uneingeschränkten Prüfung in diesem Verfahren. 77
aa) Die in § 2 Abs. 2 LWG a. F. geregelte Verteilung der jeder Partei zustehenden Abgeordnetensitze auf die Regierungsbezirke im Verhältnis der von dieser Partei dort erreichten Stimmenzahlen berührt nicht den Parteienproporz, sondern nur den Regionalproporz innerhalb einer Partei (vgl. StGH, Urt. v. 24.03.2003 – GR 3/01 –, ESVGH 54, 4). Die Bestimmung des § 2 Abs. 2 LWG a. F. haben die Beschwerdeführer aber nicht angegriffen. 78
[Umdruck, S. 29] bb) Auch die Bezugnahme auf das d´Hondtsche Höchstzahlverfahren in § 2 Abs. 1 Satz 1 LWG a. F. kann im Ergebnis nicht verfassungsrechtlich beanstandet werden. 79
Bei der Ausgestaltung des Berechnungsverfahrens steht dem Gesetzgeber ein Spielraum zu. Verfassungswidrig ist ein vom Gesetzgeber gewähltes Verfahren der Ermittlung der Ausgleichsmandate nur dann, wenn es bei allen real in Betracht kommenden Fallgestaltungen und jeweils bei jeder Partei, mithin eindeutig, die schlechteren Ergebnisse bei der Sicherung des gleichen Erfolgswerts der Wählerstimmen liefert. Dies konnte der Staatsgerichtshof in seinem Urteil vom Dezember 1990 aufgrund der vom Innenministerium vorgelegten Vergleichsberechnungen für das auch damals geltende Berechnungsverfahren nach d´Hondt nicht feststellen. Aufgrund der im anhängigen Verfahren wiederum vom Innenministerium vorgelegten Berechnungen kann nicht konstatiert werden, dass die für die angefochtene Wahl noch geltende gesetzliche Regelung im genannten Sinne gegenüber einem oder mehreren anderen denkbaren und ansonsten verfassungsgemäßen Verfahren eindeutig im Nachteil ist. Denn bei einer der im Landtag vertretenen Parteien (SPD) führt dieses Berechnungsverfahren zur geringsten Abweichung ihres Anteils an der Gesamtmandatszahl von ihrem Anteil an den für die Verteilung der Mandate nach § 2 Abs. 1 LWG a. F. relevanten Gesamtstimmenzahlen im Land; dies ergibt sich aus im anhängigen Verfahren vorgelegten Vergleichsberechnungen. 80
Das Innenministerium hat nämlich das Ergebnis der bei der angefochtenen Wahl geltenden gesetzlichen Regelung („d´Hondt (bis 2006 geltendes Recht)“) verschiedenen Fallkonstellationen unter Heranziehung der von den Beschwerdeführern favorisierten Berechnungsmethode Sainte-Laguë/Schepers gegenübergestellt. Für die Beachtung des Grundsatzes der Wahlrechtsgleichheit im Bereich der Verhältniswahl ist im Hinblick auf das Belassen der Überhangmandate entscheidend, inwieweit die durch diese Mehrsitze begründete Verzerrung der Mandatszahlen durch die Ausgleichsregelung kompensiert wird. Ausschlaggebend ist die Abweichung der Prozentsätze der Gesamtmandatszahl von den jeweiligen Stimmprozentsätzen der Parteien. Für diese Gegenüberstellung kommt es wegen der Regelung des § 2 Abs. 1 Satz 2 und 3 LWG (5 %-Klausel) nicht auf den Anteil der Parteien an der Gesamtheit der abgegebenen Stimmen (z. B. CDU: 44,15 v. H.), sondern auf den jeweiligen Anteil der Partei an den für die Verteilung nach § 2 Abs. 1 LWG zu berücksichtigenden Stimmen an. 81
[Umdruck, S. 30] Für die verfassungsrechtliche Beurteilung entscheidend ist das Ausmaß der Abweichung des Anteils einer Partei an den Gesamtmandaten von ihrem Anteil an der Gesamtheit der relevanten Gesamtstimmenzahlen; ob es sich dabei um eine Über- oder Unterschreitung handelt, ist nicht von Bedeutung. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass sich die Zahl der Mandate (nach dem für die Wahl vom 26.03.2006 geltenden Recht 139 Mandate) bei der Variante „Sainte-Laguë/Schepers (Recht ab 2011)“ auf 141 und bei den Varianten „Sainte-Laguë/Schepers (Verhältnisausgleich Landesebene)“ sowie „Sainte-Laguë/Schepers (Verhältnisausgleich Landesebene mit Zweitmandatsverteilung auf Regierungsbezirksebene)“ auf jeweils 143 erhöht. 82
Bei den Parteien CDU und FDP ist die prozentuale Abweichung ihres Anteils an der Gesamtzahl der Sitze von ihrem jeweiligen Anteil an der Gesamtstimmenzahl bei der Heranziehung des für diese Wahl noch geltenden Rechts (Berechnung nach d`Hondt) am größten. Für die SPD führt die Berechnung nach dem für die angefochtene Wahl geltenden Recht (d´Hondt) indes zur kleinsten Abweichung mit −0,10 (Stimmenanteil 27,44 v. H. und Sitzanteil 27,34 v. H.). Die größte Abweichung mit +0,22 ergibt sich für diese Partei, wenn das für die Wahlen ab 2011 geltende Berechnungsverfahren (Sainte-Laguë/Schepers) zugrunde gelegt wird. Aber auch die weiteren Varianten „Sainte-Laguë/Schepers (Verhältnisausgleich Landesebene)“ und „Sainte-Laguë/Schepers (Verhältnisausgleich Landesebene mit Zweitmandatsverteilung auf Regierungsbezirksebene)“ führen mit jeweils −0,17 (Stimmenanteil 27,44 v. H. und Anteil an den Sitzen 27,27 v. H.) zu größeren Abweichungen als die für die angefochtene Wahl geltende Berechnung nach d´Hondt. 83
III.
Der Hilfsantrag der Beschwerdeführer ist ebenfalls unbegründet. Denn er setzt ebenso wie der Hauptantrag die Feststellung voraus, dass die für die angefochtene Landtagswahl geltenden Vorschriften nicht verfassungsgemäß sind. Die von den Beschwerdeführern gerügten Bestimmungen, auf deren Prüfung der Staatsgerichtshof im Verfahren der Wahlprüfungsbeschwerde beschränkt ist, entsprechen aber den verfassungsrechtlichen Anforderungen. 84
[Umdruck, S. 31] IV.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 55 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 StGHG. 85
Stilz, Dr. Mattes Strauß, Prof. Dr. von Bargen, Dr. Maus, Prof. Dr. Kirchhof, Prechtl, Seimetz, Stamm

 


Matthias Cantow