Verbesserungspotential des Wahlrechts in Baden-Württemberg

[Systemfehler]

Das Landeswahlgesetz wurde inzwischen überarbeitet. Die Kritik auf dieser Seite bezieht sich auf das System, mit dem der Landtag 2006 gewählt wurde. Ab 2011 gilt Sainte-Laguë statt D'Hondt und die prozentuale Mehrheit statt die absolute Zahl der Stimmen im Wahlkreis. Mängel 1-3 bestehen in der beschriebenen Form dann nicht mehr, an den schwerwiegenderen Systemfehlern ändert sich nichts.

Das Wahlrecht in Baden-Württemberg zeichnet sich durch einige Besonderheiten (und daher leider durch einige Systemfehler und Mängel) aus, die noch einiges an Verbesserungen ermöglichen:

Systemfehler

  1. Interne Überhangmandate (negative Stimmen)
    Lösung: nur externe Überhangmandate (statt interne)


  2. Bezirksweise Ausgleichsmandate (negative Stimmen)
    Lösung: nur landesweiter Ausgleich (statt bezirksinterner)

Mängel

  1. Starke Abhängigkeit der Erfolgschancen von der Wahlkreisgröße (Zweitmandate)
    Lösung: Liste statt Zweitmandate (oder relativer statt absoluter Wahlkreiserfolg oder gleiche Wahlkreisgrößen)


  2. D'Hondt parallel bei Ausgleichsmandaten verstärkt Benachteiligung kleiner Parteien
    Lösung: landesweiter Ausgleich (statt bezirksinterner)


  3. D'Hondt bei Unterverteilung benachteiligt kleine Regierungsbezirke
    Lösung: Sainte Laguë bei der Unterverteilung


  4. Regelungslücke bei Ausgleichsmandaten
    Lösung: Klarstellung des Gesetzestextes

Beschreibung und Lösungsmöglichkeit

Systemfehler

  1. Interne Überhangmandate
    Überhangmandate können in Baden-Württemberg (anders als in NRW) nicht nur extern sondern auch intern entstehen. Das heißt, es gibt Überhangmandate, obwohl der überhängenden Partei noch Sitze zur Verrechnung zustünden. Die kann dazu führen, daß eine Partei Sitze gewinnt, weil sie Stimmen verliert (analoges Beispiel Bundestag).

    Überhangmandate sollten nur extern entstehen können, interne Überhänge könnten intern verrechnet werden und entstehen damit gar nicht erst.

  2. Bezirksweiser Ausgleich von Überhangmandaten
    Im derzeitigen System werden Überhangmandate durch Ausgleichsmandate im selben Regierungsbezirk ausgeglichen. Damit wird einerseits der Proporz der Bezirke untereinander verzerrt. Es ist nicht unbedingt einleuchtend, warum z.B. ein schwäbisches Überhangmandat unbedingt durch ein schwäbisches Ausgleichsmandat ausgeglichen werden soll. Zudem erfolgt damit der Ausgleich unvollständig und verzerrt.
    Darüberhinaus können negative Stimmen auftreten: Stimmenverluste der überhängende Partei können dazu führen, daß die anderen Parteien Ausgleichsmandate verlieren, bzw. können Stimmenverluste einer Partei ihr zusätzliche Ausgleichsmandate bescheren. (Beispiel hier)

    Ausgleichsmandate sollten landesweit verteilt werden
    Da dann auch Überhänge einer Partei mit Überhängen einer anderen Partei verrechnet werden, reduziert sich auch die Zahl der notwendigen Ausgleichsmandate.

Weitere Mängel und Lösungsmöglichkeiten

  1. Sogenannte Zweitmandate. Starke Abhängigkeit der Erfolgschancen von der Wahlkreisgröße
    Es gibt nominell keine Landesliste (bzw. Bezirksliste)
    Durch die Zweitauszählung bilden die Wahlkreisbewerber allerdings eine De-Facto-Liste. Da die Wahlkreise stark unterschiedlich groß sind, bestimmt die Größe der Wahlkreise die Reihenfolge der Kandidaten auf der De-Facto-Liste. Ein FDP Kandidat im kleinsten Wahlkreis Heilbronn steht chancenlos hinten auf dieser Liste. Welche Kandidaten kleinerer Parteien am Schluß im Landtag sitzen, hängt damit von vielen willkürlichen Parametern und weniger bis gar nicht vom Wählerwillen ab.

    Statt der Zweitmandate wäre besser eine Parteiliste angebracht.

    Bei Beibehaltung der Zweitmandate-Regelung sollte die Größe der Wahlkreise angeglichen werden. Beim baden-württembergischen System bedeuten selbst 5%-Unterschied in der Wahlkreisgröße Welten!

    Alternativ könnten die Zweitmandate nach relativem Erfolg im Wahlkreis (d.h. nach Prozenten) und nicht nach absoluten Stimmen im Wahlkreis verteilt werden.

  2. D'Hondt Parallel bei der Verteilung der Ausgleichsmandate
    Bei der Verteilung der Ausgleichsmandate wird parallel in den Bezirken, jeweils das Divisorverfahren mit Abrundung (d'Hondt) benutzt. Da dieses kleine Parteien benachteiligt, verstärkt sich diese Benachteilung bei Anwendung in mehreren Bezirken.
    Nach dem Urteil des Bayerischen Verfassungsgerichtshof erscheint die derzeitige Benachteiligung kleiner Parteien als verfassungsmäßig bedenklich.

    Ausgleichsmandate sollten landesweit (und nicht bezirksweit) verteilt werden.

  3. D'Hondt bei der Unterverteilung auf die Bezirke
    Bei der Unterverteilung der Sitze auf die Regierungsbezirke wird das Divisorverfahren mit Abrundung (d'Hondt) benutzt. Dies führt dazu, daß kleinere Bezirke gegenüber großen systematisch benachteiligt werden. Die Benachteiligung verstärkt sich, da das Verfahren unabhängig für alle Parteien angewandt wird.

    Zur Unterverteilung sollte das Divisorverfahren mit Standardrundung Verfahren (Sainte Laguë), das auch vom Bundeswahlleiter als ein anderen Verfahren vorzuziehendes empfohlen wird, benutzt werden.

  4. Regelungslücke bei Verteilung der Ausgleichsmandate
    Der Gesetzestext zur Zuteilung von Ausgleichsmandaten kann unterschiedlich interpretiert werden. So wäre es nach dem Wortlaut denkbar daß
    • eine kleine Partei durch die Neuberechnung im Bezirk, Sitze verliert
    • eine kleine Partei in solch einem Fall keinen Sitze verliert (wie es derzeitig gehandhabt wird)
    • insgesamt soviele zusätzliche Sitze im Bezirk zugeteilt werden, daß die kleine Partei ihre Sitze verdient hat (und die Überhängende Partei Ausgleismandate erhält!).
    Dies kann ein Indiz sein, daß der Gesetzgeber sein eigenes System nicht verstanden hat. Dies könnte die Inkonsistenz des Systems erklären, bei dem zuerst der Proporz der Parteien, danach der Proporz der Bezirke (innerhalb einer Partei) gewahrt werden soll, aber bei Auftreten von Überhangmandaten nur noch der Bezirksweise Proporz der Parteien.
    Hier ist eine eindeutige Klarstellung im Gesetz notwendig (oder besser, eine Reform).
Inzwischen wurden einige der Mängel in einer Wahlbeschwerde gerügt. Landtag (Drucksache 13/413) und Staatsgerichtshof (GR 3/01) haben die Beschwerde zurückgewiesen, was von der FDP gerügt wurde.

von Martin Fehndrich (06.10.2001, letzte Aktualisierung: 25.03.2010)