14. Deutscher Bundestag

[Wahlprüfung]

Beschluss vom 30. September 1999

BT-Drucks. 14/1560, 183 (Anlage 69)

„Negatives Stimmgewicht“


Informationen Informationen zur Entscheidung, Entscheidungen 1990–1999

[BT-Drucks. 14/1560, 183 (183)] Beschluss

In der
Wahlanfechtungssache

– WP 86/98 –
des Herrn W. Z.,
gegen die Gültigkeit der Wahl zum 14. Deutschen Bundestag vom 27. September 1998
hat der Deutsche Bundestag in seiner 58. Sitzung am 30.09.1999 beschlossen:

Entscheidungsformel:

Der Wahleinspruch wird zurückgewiesen.

Tatbestand:

1. Mit Schreiben vom 13. November 1998, das beim Bundestag am 17. November 1998 eingegangen ist, hat der Einspruchsführer die Wahl zum 14. Deutschen Bundestag am 27. September 1998 angefochten. 1
Der Einspruchsführer hält die Möglichkeit, Landeslisten einer Partei zu verbinden (§ 7 des Bundeswahlgesetzes – BWG) in Verbindung mit den Regelungen für die kompensationslose Zuteilung „interner“ Überhangmandate (§ 7 Abs. 3 i. V. m. § 6 Abs. 5 BWG) für verfassungswidrig. Er fordert daher eine Wiederholung der Wahl zum 14. Deutschen Bundestag. 2
Zur Begründung trägt er vor, bei der Wahl zum 14. Deutschen Bundestag hätten sich Zweitstimmen, die in bestimmten Bundesländern für die SPD abgegeben worden seien, negativ ausgewirkt und zum Verlust von Mandaten für diese Partei geführt. In anderen Bundesländern hätten die Sozialdemokraten dagegen davon profitiert, daß nicht noch mehr Zweitstimmen auf sie entfallen seien. Dieser absurde Effekt beruhe auf einer systemwidrigen Kombination des Instituts der Listenverbindung mit der kompensationslosen Zuteilung von Überhangmandaten in § 7 BWG. Dieses Phänomen trete seit 1957 nahezu in jedem Bundesland auf, in dem Überhangmandaten entstanden wären, und sei darüber hinaus besonders regelmäßig in Bremen zu beobachten. 3
Der Einspruchsführer führt dazu weiter aus, wenn bei der Wahl zum 14. Deutschen Bundestag die SPD in Hamburg 20 000 sowie gleichzeitig in Mecklenburg-Vorpommern oder Brandenburg 10 000 Zweitstimmen mehr erhalten hätte, wären auf sie zwei Mandate weniger entfallen. Die Abgeordneten Birgit Roth und Hedi Wegener hätten dann kein Mandat erhalten und seien somit letztlich von Nichtwählern „gewählt“ worden. Wären für die SPD in den Bundesländern Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen, Saarland, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt oder Thüringen 70 000 und gleichzeitig in Brandenburg 1 000 Zweitstimmen weniger abgegeben worden, dann hätten die Sozialdemokraten ein Mandat mehr erhalten; der zusätzliche Sitz wäre auf die Kandidatin Kerstin Raschke entfallen. Dies hätte gleichzeitig, den Verlust eines Sitzes der PDS (Heinrich Fink) an die F.D.P (Christian Eberl) zur Folge gehabt. 4
Dieser unsinnige Effekt beruhe auf der Kombination der eingangs genannten Wahlrechtselemente. Es könne deswegen eigentlich nur im Interesse der Parteien liegen, in ihren „Überhangsländern“ besonders wenige Zweitstimmen zu erhalten. Ein Minus an Zweitstimmen in diesen Ländern könne nämlich dazu führen, daß die „überhängende Landesliste“ im Rahmen der Unterverteilung ein Mandat an eine andere Landesliste verliere, ohne daß dies Auswirkungen auf die Oberverteilung zwischen den Parteien habe. Da sich an der Mandatsstärke der überhängenden Landesliste effektiv nichts ändere (sie erhalte nach wie vor so viele Mandate, wie sie Wahlkreise direkt habe gewinnen können), eine andere Landesliste aber ein zusätzliches Mandat erhalte, ergebe sich für die Partei insgesamt ein Plus von einem Sitz. 5
Auf gleiche Weise könnten zusätzliche Zweitstimmen für eine überhängende Landesliste zur Folge haben, daß durch den daraus resultierenden innerparteilichen Mandatstransfer lediglich ein Überhangmandat aufgezehrt werde, so daß die Partei aufgrund des Stimmengewinns insgesamt ein Mandat verliere. Der unsinnige Effekt trete nur dann nicht auf, wenn die zweite durch den Mandatstransfer betroffene Landesliste ebenfalls „überhänge“ oder wenn ein Mehr bzw. Weniger an Zweitstimmen bereits bei der Oberverteilung zwischen den Parteien zu einem Sitzgewinn bzw. -verlust führe. Beide Situationen seien jedoch recht unwahrscheinlich. 6
Besonders prekär stelle sich die Situation in Bremen dar. Hier gewinne die SPD nämlich traditionell und unangefochten alle drei Wahlkreise, könne aber im Rahmen des Verhältnisausgleichs bei realistischer Betrachtung sogar unter überaus günstigen Umständen [BT-Drucks. 14/1560, 183 (184)] nicht mit mehr als drei Mandaten rechnen. Dies habe zur Folge, daß die SPD bei einem besonders schwachen Wahlergebnis in Bremen mit mehr Mandaten rechnen können als bei einem besonders guten. Ein negatives Stimmengewicht könne aber auch dann auftreten, wenn eine Partei gleichsam knapp einen Überhang verpaßt habe. 7
Der Einspruchsführer vertritt die Auffassung, soweit § 7 BWG diese Absurditäten hervorrufe, verstoße er gegen Unmittelbarkeit und Freiheit der Wahl (Artikel 38 Abs. 1 GG) und sei damit verfassungswidrig. Der einzelne Wähler könne beim Wahlakt nicht mit hinreichender Zuverlässigkeit abschätzen, ob sich seine Stimmabgabe für die gewählte Partei positiv oder negativ auswirke. Dem Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl sei die Forderung nach einer unverfälschten Umsetzung des Wählerwillens zu entnehmen. Es komme einer indirekten Wahl durch Wahlmänner gleich, wenn Wählerstimmen im Rahmen des mathematischen Prozesses der Sitzzuteilung willkürlich ihrer eigentlichen Intention beraubt würden und der Wählerwille ins genaue Gegenteil verkehrt werde. Dem Wesen einer Wahl entspreche es, daß eine abgegebene Stimme ausschließlich als Zustimmung zur gewählten Partei gewertet werde. Darüber hinaus sei dem Grundsatz der freien Wahl nur dann genügt, wenn dem Wähler eine rationale Entscheidung ermöglicht werde. Auch dies sei nicht der Fall. Der Wähler werde durch die Kenntnis der beschriebenen Effekte vielmehr veranlaßt, unsinnige taktische Überlegungen anzustellen, die einer rationalen Entscheidungsfindung beim Gebrauch des Wahlrechts widersprächen. Unter diesen Umständen sei die Sitzzuteilung im Bundestag willkürlich und nicht mehr demokratisch legitimiert. 8
Der Einspruchsführer macht verschiedene Vorschläge zur Behebung der beschriebenen Mißstände, wie die Einteilung der Republik in abgeschlossene Wahlgebiete mit festen Sitzkontingenten, die Abschaffung von Listenverbindungen bei gleichzeitiger Beibehaltung des einheitlichen Elektorats, die Einführung echter Bundeslisten, die Kompensation von „internen“ Überhangmandaten oder die Einführung eines gänzlich anderen Wahlsystems. In diesem Zusammenhang regt der Einspruchsführer auch an, das bislang benutze Berechnungsverfahren nach Hare-Niemeyer für die Sitzzuteilung durch das Verfahren St. Lague/Schepers zu ersetzen. Das Verfahren Hare-Niemeyer könne zu ähnlichen Effekten wie die systemwidrige Kombination von Listenverbindung und Überhangmandaten führen oder diese gar verstärken. Das Verfahren St. Lague/Schepers hingegen vermeide diese unsinnigen Effekte und bevorzuge ebenso wie Hare-Niemeyer weder kleine noch große Parteien bzw. Landeslisten. 9
Wegen der weiteren Einzelheiten im Vortrag des Einspruchsführers, insbesondere hinsichtlich der von ihm vorgelegten Berechnungsbeispiele, wird auf den Akteninhalt Bezug genommen. Der Einspruchsführer vertritt die Auffassung, wegen der dargestellten Systemwidrigkeiten müsse die Wahl zum 14. Deutschen Bundestag vom 27. September 1998 für ungültig erklärt werden. 10
Zu dem Einspruch liegt eine Stellungnahme des Bundeswahlleiters vor, die dem Einspruchsführer bekanntgegeben worden ist. Der Bundeswahlleiter hat darin zunächst die von dem Einspruchsführer vorgenommenen Berechnungen bestätigt. 11
Der Bundeswahlleiter führt weiterhin aus, eine Zunahme von Zweitstimmen für eine Partei könne in der Tat unter bestimmten Voraussetzungen zu einer Abnahme bei den Sitzen führen; in analoger Weise könne eine Abnahme von Zweitstimmen zu einer Zunahme bei den Sitzen führen. Dies habe seine Ursache in der vom Bundeswahlgesetz getroffenen Regelung zu Überhangmandaten. Der Effekt könne auftreten, wenn eine Partei im Land des Stimmenzuwachses Überhangmandate erziele. Bei gleicher Sitzzahl für die Partei insgesamt entfalle bei der Aufteilung auf die Länder auf das Land des Stimmenzuwachses ein Sitz mehr auf Kosten eines anderen Landes. Wegen der Verrechnung mit den Direktmandaten wirke sich der Gewinn eines Sitzes jedoch nicht aus, so daß im Saldo ein Sitz verloren gehe. Ein analoger Effekt könne bei einer Abnahme der Stimmen auftreten. 12
Die Stellungnahme des Bundeswahlleiters enthält außerdem Ausführungen zu den speziellen Nachteilen des Berechnungssystems nach Hare-Niemeyer, welches das sog. „Alabama-Paradoxon“ verursacht. Ein Stimmengewinn, der für eine Partei insgesamt einen Sitz mehr bringe, könne unter Umständen gerade in dem Land des Stimmengewinns zum Verlust eines Sitzes führen; außerdem könne ein Stimmenzuwachs bei einer Partei Verschiebungen in der Sitzzuteilung für andere – unbeteiligte – Parteien nach sich ziehen. Diese Effekte könnten bei dem Berechnungsverfahren St. Lague/Schepers nicht auftreten. Der Bundeswahlleiter kommt zu dem Schluß, da das Verfahren von St. Lague frei von den erwähnten Widersinnigkeiten sei und ebenso wie das Verfahren Hare-Niemeyer (im Gegensatz zum Verfahren von d’Hondt unverzerrt, sei es nach seinem Erachten vorzuziehen. 13
Der Bundeswahlleiter trägt dazu weiter vor, wenn bei der Bundestagswahl 1998 die Mandatszuteilung nach dem Verfahren St. Lague/Schepers erfolgt wäre, hätte sich keine Änderung an der Sitzzahl der Parteien bundesweit ergeben. Bei der Aufteilung auf die Länder hätten sich bei zwei Parteien Verschiebungen ergeben: Die CDU hätte in Mecklenburg-Vorpommern einen Sitz mehr und dafür in Thüringen einen weniger und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hätte im Saarland einen Sitz mehr und in Nordrhein-Westfalen einen weniger bekommen. An der Zahl und der Verteilung der Überhangmandate hätte sich nichts geändert. 14
2. Der Wahlprüfungsausschuß hat nach Prüfung der Sach- und Rechtslage beschlossen, gemäß § 6 Abs. 1a Nr. 3 des Wahlprüfungsgesetzes (WPrüfG) von der Anberaumung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung Abstand zu nehmen. 15

[BT-Drucks. 14/1560, 183 (185)] Entscheidungsgründe

Der Einspruch ist form- und fristgerecht beim Deutschen Bundestag eingegangen; er ist zulässig, jedoch offensichtlich unbegründet. 16
Der Einspruchsführer stützt seinen Einspruch ausschließlich auf verfassungsrechtliche Vorbehalte gegen die geltenden Regelungen des Bundeswahlgesetzes, insbesondere in § 7 i.V.m. § 6 Abs. 4 und 5. Hieraus läßt sich jedoch kein Wahlfehler ableiten, der seinem Einspruch zum Erfolg verhelfen könnte. Denn die Sitzverteilung im 14. Deutschen Bundestag beruht auf gültigen Wahlrechtsvorschriften, die korrekt angewendet wurden. Der Wahlprüfungsausschuß und der Deutsche Bundestag haben es stets abgelehnt, im Wahlprüfungsverfahren die Verfassungswidrigkeit von Wahlrechtsvorschriften festzustellen. Sie haben diese Kontrolle dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten. 17
Unbeschadet dessen teilt der Bundestag bereits die verfassungsrechtlichen Bedenken des Einspruchsführers nicht. Der von ihm gerügte Effekt eines negativen Erfolgswerts infolge der Überhangmandate ist notwendigerweise mit der Existenz solcher Mandate verbunden. Überhangmandate entstehen – vereinfacht ausgedrückt – durch ein Auseinanderfallen der Erst- und Zweitstimmenanteile einer Partei. Wenn nun durch das Anwachsen des Zweitstimmenanteils die Differenz an- bzw. ausgeglichen wird, liegt es zwingend in der Logik des Systems, daß das Überhangmandat wieder entfällt. An diesem grundsätzlichen Mechanismus ändert es auch nichts, daß sich der von dem Einspruchsführer gerügte Effekt in der Praxis erst bei der Unterverteilung der Stimmenanteile auf die einzelnen Landeslisten der Parteien auswirkt. 18
Die Regelungen des Bundeswahlgesetzes zu den Überhangmandaten waren erst kürzlich Gegenstand einer verfassungsgerichtlichen Prüfung. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 10. April 1997 (BVerfGE 95, 335 ff.) festgestellt, daß diese Vorschriften mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Das Gericht hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß der Verfassungsgesetzgeber bewußt darauf verzichtet habe, ein Wahlsystem und dessen Durchführung verfassungsrechtlich vorzuschreiben. Er habe damit ein Stück materiellen Verfassungsrechts offengelassen, das vom Wahlgesetzgeber auszufüllen sei. Diesem sei hierbei ein weiter Gestaltungsspielraum eingeräumt (BVerfGE 95, 335 <349>). Dieser Gestaltungsspielraum umfaßt auch die Regelungen zu den Überhangmandaten. Ausdrücklich hat das Gericht festgestellt, daß die Entstehung von Überhangmandaten ohne Ausgleich für die anderen Parteien den Anforderungen der Wahlgleichheit nach Artikel 38 Abs. 1 Satz 1 GG genügt und die Chancengleichheit der Parteien wahrt (BVerfGE 95, 335 <357>). Diese Entscheidung hat das Gericht in Kenntnis des auch vom Einspruchsführers beschriebenen Effekts eines negativen Stimmengewichts getroffen; die Niedersächsische Landesregierung hatte im Verfahren hierauf ausdrücklich hingewiesen (BVerfGE 95, 335 <343>). 19
Zuvor hatte sich auch der Bundestag intensiv mit den Regelungen im Bundeswahlgesetz zu den Überhangmandaten beschäftigt und sie unter Hinzuziehung von Sachverständigen auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft. Bereits die in der 13. Wahlperiode eingesetzte Reformkommission zur Größe des Bundestages war zu dem Ergebnis gekommen, die bestehenden Regelungen des Bundeswahlgesetzes, die zum Auftreten von Überhangmandaten führen können, seien verfassungsgemäß, und es bestehe auch keine verfassungsrechtliche Notwendigkeit, Überhangmandate durch ergänzende Regelungen auszugleichen, etwa durch Ausgleichsmandate oder eine Verrechnung bei den verbundenen Landeslisten. Die Kommission hat dem Bundestag keine Änderungen der §§ 6 und 7 BWG empfohlen (s. Drucksache 13/4560). Diesen Empfehlungen ist der Bundestag gefolgt; Gesetzentwürfe der 13. Wahlperiode, die die Kompensation von Überhangmandaten vorsahen, fanden keine Mehrheit (s. hierzu Drucksache 13/5750, StenProt 13/129 vom 11. Oktober 1996, S. 11631 ff.). 20
An dieser Einschätzung hält der Bundestag auch in Ansehung des vorliegenden Wahleinspruchs fest; die Argumente des Einspruchsführers berühren lediglich eine Facette der in der 13. Wahlperiode geführten Diskussion. 21
Allenfalls könnte für zukünftige Wahlen darüber nachgedacht werden, das Berechnungsverfahren Hare-Niemeyer durch das Verfahren St. Lague/Schepers zu ersetzen. Nach der Stellungnahme des Bundeswahlleiters ist davon auszugehen, daß das System St. Lague/Schepers die Mängel sowohl der Berechnungsverfahren nach d’Hondt als auch der nach Hare-Niemeyer vermeidet und dennoch zu – ihm Rahmen des Möglichen – exakten Ergebnissen führt. Dies ist aber nicht eine Frage der Verfassungsmäßigkeit der geltenden Regelung, sondern der Zweckmäßigkeit. Solche Überlegungen ändern deshalb auch nichts an der Gültigkeit der Wahlen zum 14. Deutschen Bundestag. Eine Auflösung des Bundestages, wie es der Einspruchsführer fordert, kommt nicht in Betracht. 22
Der Einspruch ist deshalb gemäß § 6 Abs. 1a Nr. 3 WPrüfG als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen. 23

 


Matthias Cantow