Bundesverfassungsgericht |
[Wahlprüfung] |
Entscheidung, Entscheidungen 2000–heute
Ihre Wahlprüfungsbeschwerde vom 2. Januar 2004 |
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Sehr geehrter Herr Dr. B..., | |
es bestehen Bedenken gegen die Erfolgsaussichten Ihrer o.a. Wahlprüfungsbeschwerde. | 1 |
1. Das auf Ihren Einspruch hin vom Deutschen Bundestag durchgeführte Wahlprüfungsverfahren ist nicht deshalb formell fehlerhaft, weil an ihm mit dem Abgeordneten Jerzy Montag als Berichterstatter des Wahlprüfungsausschusses ein Abgeordneter mitgewirkt hätte, der als „befangen“ angesehen werden müsste. Trotz der gerichtsförmigen Ausgestaltung des Wahlprüfungsverfahrens ist eine Ablehnung von Abgeordneten wegen „Befangenheit“ nicht vorgesehen. Dies ist verfassungsrechtlich unbedenklich (vgl. BVerfGE 37, 84 <90>; 46, 196 <198>), weil Art. 41 Abs. 1 Satz 1 GG die Aufgabe der Wahlprüfung ausdrücklich dem Bundestag zuweist. Damit nimmt die Verfassung bewusst in Kauf, dass der Bundestag „in eigener Sache“ tätig wird. | 2 |
Unbeschadet dessen ist gemäß § 17 Abs. 1 WPrüfG derjenige Abgeordnete, „dessen Wahl zur Prüfung steht“, von der Beratung und Beschlussfassung im Wahlprüfungsverfahren ausgeschlossen. Dies gilt nach § 17 Abs. 2 WPrüfG allerdings nur für den Fall, dass nicht die Wahl von mindestens zehn Abgeordneten angefochten wird. Die Wahl allein des Abgeordneten Jerzy Montag stand in dem auf Ihren Einspruch hin eingeleiteten Wahlprüfungsverfahren des Bundestages nicht zur Prüfung. Sie hatten vielmehr die Feststellung der Ungültigkeit der gesamten Bundestagswahl beantragt, sodass sämtliche Abgeordnete als von dem Verfahren betroffen anzusehen waren. Allein der Umstand, dass Sie dem Abgeordneten Montag vorwerfen, er habe durch die Art seiner Wahlwerbung in der Vergangenheit die verfassungswidrigen Mängel des Wahlsystems selbst ausgenutzt, stellt keinen Sachverhalt dar, der nach § 17 Abs. 1 WPrüfG zu seinem Ausschluss hätte führen müssen. | 3 |
2. Auch in materieller Hinsicht liegt kein Wahlfehler vor. Der Gesetzgeber war nicht verpflichtet, das in § 6 Abs. 6 Satz 1 Alt. 1 BWG vorgesehene Quorum von 5% der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Zweitstimmen, das eine Partei erreichen muss, um bei der Verteilung der Bundestagssitze auf die Landeslisten berücksichtigt zu werden, durch die Einführung der von Ihnen vorgeschlagenen „Stimmweitergabe-Option“ (so genannte „Alternativstimme“) oder eines vergleichbaren Wahlverfahrens zu ergänzen. | 4 |
a.) Das Bundesverfassungsgericht erachtet die in § 6 Abs. 6 Satz 1 BWG vorgesehene Sperrklausel in ständiger Rechtsprechung als verfassungskonform (vgl. nur BVerfGE 1, 208 <247 ff.>; 4, 31 <39 ff.>; 6, 84 <92 ff.>; 51, 222 <235 ff.>; 82, 322 <337 ff.>; 95, 336 <366>; 95, 408 <417 ff.>). Zwar lässt sich dem Grundsatz der gleichen Wahl aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG nicht nur das Gebot entnehmen, dass jede Stimme den gleichen Zählwert aufweisen muss. Unter den Bedingungen der vom Gesetzgeber getroffenen Entscheidung für ein Wahlsystem, das den Grundcharakter einer Verhältniswahl trägt (vgl. BVerfGE 95, 335 <358>), kommt vielmehr hinzu, dass auch der Erfolgswert der Wählerstimmen grundsätzlich gleich sein muss (vgl. etwa BVerfGE 1, 208 <245 f.>; 6, 84 <90>; 82, 322 <337>; 95, 335 <353 f.>; 95, 408 <417>). Auch ist der Grundsatz der gleichen Wahl wegen seines Zusammenhanges mit dem Demokratieprinzip im Sinne einer strengen und formalen Gleichheit zu verstehen (vgl. BVerfGE 11, 351 <361>; 51, 222 <234>; 78, 350 <357 f.>; 95, 408 <417>; stRspr). Dennoch ist dem Gesetzgeber hinsichtlich der Erfolgswertgleichheit der abgegebenen Stimmen nicht jede Differenzierung verwehrt, wenngleich sein diesbezüglicher Spielraum eng bemessen ist (vgl. BVerfGE 1, 208 <247>; 51, 222 <235>; 82, 322 <338>; 95, 408 <417 f.>; 99, 1 <9>; stRspr): Nur ein besonderer, „zwingender“ Grund vermag hier Differenzierungen zu rechtfertigen (vgl. z.B. BVerfGE 1, 208 <249 u. 255>; 51, 222 <235>; 82, 322 <338>). | 5 |
„Zwingend“ ist dabei allerdings nicht nur ein Differenzierungsgrund, der – wie etwa kollidierendes Verfassungsrecht – vom Grundgesetz selbst vorgegeben ist. Es werden auch Gründe zugelassen, die durch die Verfassung legitimiert und von einem solchen Gewicht sind, dass sie der Wahlrechtsgleichheit die Waage zu halten vermögen, ohne dass die Verfassung diese Zwecke zu verwirklichen geradezu gebietet. Insoweit genügen auch „zureichende“, „aus der Natur des Sachbereichs der Wahl der Volksvertretung sich ergebende Gründe“, zu denen insbesondere die Verwirklichung der mit der Parlamentswahl verfolgten Ziele zählt (vgl. BVerfGE 95, 408 <418>). Hierzu gehören, wie das Bundesverfassungsgericht bereits in seinem Urteil vom 10. April 1997 (Az. 2 BvC 3/96, BVerfGE 95, 408 <419>) weiter festgestellt hat, vor allem die Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes sowie die Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung: | 6 |
Das Ziel der Verhältniswahl, den politischen Willen der Wählerschaft in der zu wählenden Körperschaft möglichst wirklichkeitsnah abzubilden, kann dazu führen, daß im Parlament viele kleine Gruppen vertreten sind und hierdurch die Bildung einer stabilen Mehrheit erschwert oder verhindert wird. Soweit es zur Sicherung der Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des Parlaments geboten ist, darf der Gesetzgeber deshalb bei der Verhältniswahl den Erfolgswert der Stimmen durch eine Sperrklauselregelung unterschiedlich gewichten. Dabei muss der Gesetzgeber jedoch auch die Funktion der Wahl als eines Vorgangs der Integration politischer Kräfte sicherstellen und zu verhindern suchen, daß gewichtige Anliegen im Volke von der Volksvertretung ausgeschlossen bleiben (vgl. BVerfGE 6, 84 <92 f.>; 14, 121 <135 f.>; 24, 300 <341>; 41, 1 <13 f.>; 41, 399 <421>; 51, 222 <236>; 71, 81 <97>). Entschließt der Gesetzgeber sich zur Einführung einer Sperrklausel, darf er daher in aller Regel kein höheres als ein Fünfprozentquorum – bezogen auf das Wahlgebiet – begründen (stRspr, vgl. BVerfGE 51, 222 <237>; 71, 81 <97>; 82, 322 <338>). |
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b.) Innerhalb der durch das Fünfprozentquorum gezogenen Grenze obliegt es dem Gesetzgeber zu entscheiden, ob und wie weit er diese Differenzierungsmöglichkeit ausschöpfen (vgl. BVerfGE 6, 84 <94>; 51, 222 <237 f.>; 95, 408 <419>) oder sie durch ergänzende Maßnahmen, die allerdings vor dem Hintergrund der Grundsätze der gleichen Wahl und der Chancengleichheit der Parteien ihrerseits einer gesonderten Rechtfertigung im vorgenannten Sinne bedürfen, abmildern will. Diesbezüglich hat das Bundesverfassungsgericht in seiner soeben zitierten Entscheidung ausgeführt (vgl. BVerfGE 95, 408 <420>): | 8 |
Es ist grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, die Belange der Funktionsfähigkeit des Parlaments, das Anliegen weitgehender integrativer Repräsentanz und die Gebote der Wahlrechtsgleichheit sowie der Chancengleichheit der politischen Parteien zum Ausgleich zu bringen (vgl. BVerfGE 51, 222 <236>; 71, 81 <97>). Das Bundesverfassungsgericht achtet diesen Spielraum. Es prüft lediglich, ob dessen Grenzen überschritten sind, nicht aber, ob der Gesetzgeber zweckmäßige oder rechtspolitisch erwünschte Lösungen gefunden hat (vgl. BVerfGE 6, 84 <94>; 51, 222 <237 f.>). Das Gericht kann daher einen Verstoß gegen die Wahlgleichheit nur feststellen, wenn die differenzierende Regelung nicht an einem Ziel orientiert ist, das der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wahlrechts verfolgen darf [...], wenn sie zur Erreichung dieses Zieles nicht geeignet ist oder das Maß des zur Erreichung dieses Zieles Erforderlichen überschreitet (vgl. BVerfGE 6, 84 <94>; 51, 222 <238>; 71, 81 <96>). |
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c.) Nach diesen Maßstäben hat der Gesetzgeber mit dem von § 6 Abs. 6 Satz 1 Alt. 1 BWG vorgesehenen Fünfprozentquorum lediglich den ihm zustehenden Gestaltungsspielraum ausgeschöpft. Zugleich hat er die von der Sperrklausel bedingte Einschränkung der Gleichheit der Wahl durch die Grundmandatsklausel des § 6 Abs. 6 Satz 1 Alt. 2 BWG, derzufolge auch Landeslisten von Parteien bei der Sitzverteilung im Proporzverfahren berücksichtigt werden, deren jeweilige Wahlkreiskandidaten in mindestens drei Wahlkreisen nach Erststimmen erfolgreich waren, abgemildert und in § 6 Abs. 6 Satz 2 BWG zudem eine Ausnahmeregelung zu Gunsten von Listen von Parteien nationaler Minderheiten vorgesehen. Beide Sonderregelungen hat das Bundesverfassungsgericht bereits für verfassungskonform erklärt (vgl. BVerfGE 6, 84 <97>; 95, 408 <420 ff.>). Zu einem weiter gehenden Handeln, insbesondere zur Einführung eines Alternativstimmen-Wahlverfahrens, ist der Gesetzgeber von Verfassungs wegen nicht verpflichtet, zumal gegen das vorgeschlagene Wahlverfahren gewichtige Gründe der Praktikabilität sprechen: | 10 |
Durch ein Alternativstimmen-Wahlsystem würde die Ermittlung des Wahlergebnisses wesentlich erschwert und jedenfalls zeitlich erheblich verzögert. Bevor feststünde, welche Alternativstimmen mitgezählt werden dürfen, müsste nämlich zunächst das bundesweite Hauptstimmenergebnis ermittelt werden. Erst unter Berücksichtigung der Alternativstimmen ließe sich sodann in einem zweiten Schritt die für die Mehrheitsbildung im Bundestag maßgebende Sitzverteilung ermitteln. Auch könnten die Alternativstimmen nicht unabhängig von den Hauptstimmen ausgezählt werden, weil jedenfalls die jeweilige Kombination beider Stimmen festgehalten werden müsste. Angesichts der Vielzahl möglicher Verbindungen würde dies die Wahlvorstände vor fast unlösbare Aufgaben stellen (vgl. Schreiber, Handbuch des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag, 7. Aufl., 2002, § 6 BWG Rn. 17). | 11 |
d.) Eine andere verfassungsrechtliche Beurteilung ergibt sich auch nicht im Hinblick auf den Grundsatz der Freiheit der Wahl (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG). Zwar verbietet er unter anderem eine Gestaltung des Wahlverfahrens, das die Entschließungsfreiheit des Wählers in einer innerhalb des gewählten Wahlsystems vermeidbaren Weise verengt (vgl. BVerfGE 95, 335 <350>; s.a. BVerfGE 47, 253 <283 f.>). Eine solche Verengung muss jedoch einschneidend sein (vgl. BVerfGE 47, 253 <284>), wie dies zum Beispiel dann der Fall wäre, wenn der Wähler eine selbstbestimmte und rationale Entscheidung über seine Stimmabgabe nicht mehr treffen könnte, etwa weil für ihn vor dem Wahlakt nicht erkennbar wäre, welche Personen sich um ein Abgeordnetenmandat bewerben und wie sich die eigene Stimmabgabe auf Erfolg oder Misserfolg der Wahlbewerber auswirken kann (vgl. BVerfGE 95, 335 <350>). Die wahltaktischen Erwägungen, zu denen die geltende Sperrklauselregelung bei potenziellen Wählern „kleiner“ Parteien faktisch Anlass geben mag, erreichen einen solchen Schweregrad indes nicht. Wahltaktische Überlegungen dieser Art sind vielmehr gerade Ausdruck einer rationalen Wahlentscheidung. | 12 |
Im Hinblick auf die vorgenannten Bedenken gebe ich Ihnen Gelegenheit zu prüfen, ob die Beschwerde aufrechterhalten bleiben soll. Binnen eines Monats nach Zustellung dieses Schreibens haben Sie die Möglichkeit, zu den dargelegten Bedenken Stellung zu nehmen. | 13 |
Mit freundlichen Grüßen Dr. Dr. h.c. Jentsch Bundesverfassungsrichter |