1. Deutscher Bundestag

[Wahlprüfung]

Beschluss vom 1. Juli 1953

152/52

BT-Drucks. 1/4492

„Nachrücker“


Informationen Informationen zur Entscheidung, Entscheidungen 1950–1959

[BT-Drucks. 1/4492, S. 2] Beschluss

In der Wahlanfechtungssache

– AZ 152/52 –
des Diplom-Kaufmanns Professor Dr. Hanns Linhardt, Wirtschaftsprüfer, wohnhaft Berlin-Lichterfelde-West, ...
betr. die Entscheidung des Landeswahlleiters des Landes Nordrhein-Westfalen vom 22. Januar 1953
wegen
der Berufung des Angestellten Hans-Paul Jaeger in den Bundestag,
hat der Bundestag in seiner Sitzung vom 1. Juli 1953 beschlossen:

Entscheidungsformel:

1. Es wird festgestellt, daß auf Grund des Landesergänzungsvorschlages der Freien Demokratischen Partei im Lande Nordrhein-Westfalen nicht der bisher berufene Abgeordnete Hans-Paul Jaeger aus Essen-Rütterscheid, sondern der Diplom-Kaufmann Professor Dr. Hanns Linhardt, Wirtschaftsprüfer, zur Zeit Berlin-Lichterfelde-West, nach dem Tode des Abgeordneten Freiherrn von Rechenberg gemäß § 15 des Wahlgesetzes vom 15. Juni 1949 in den Bundestag nachgerückt ist,
2. Herr Abgeordneter Hans-Paul Jaeger verliert das Mandat im Deutschen Bundestag. Der Landeswahlleiter von Nordrhein-Westfalen wird ersucht, das weitere zur Berufung des Professors Dr.  Hanns Linhardt in den Bundestag zu veranlassen.

Tatbestand:

Am 19. Januar 1953 verstarb der auf Grund des Landesergänzungsvorschlages der Freien Demokratischen Partei im Lande Nordrhein-Westfalen in den Bundestag gewählte Abgeordnete Dr. Freiherr von Rechenberg. Der nächste Bewerber auf der genannten Landesergänzungsliste war der Einspruchsführer, Professor Dr. Hanns Linhardt. Dieser, der seinerzeit gleichzeitig Landtagsabgeordneter von Nordrhein-Westfalen war, hatte dem Landeswahlleiter am 25. Mai 1951 angezeigt, daß er seit dem 1. April 1951 zum Ordinarius für Betriebswirtschaft an der Freien Universität Berlin (Westsektor) berufen sei und deshalb seinen Wohnsitz von Münster nach Berlin verlegt habe. Er legte damals gleichzeitig sein Mandat im Landtag nieder. Mit Rücksicht hierauf und weil die Parteileitung der Freien Demokratischen Partei des Landesverbandes Nordrhein-Westfalen auf Anfrage dem Landeswahlleiter mitteilte, daß Herr Professor Dr. Linhardt keinen zweiten Wohnsitz in Münster habe, berief der Landeswahlleiter als Nachfolger des verstorbenen Freiherrn von Rechenberg den ihm folgenden Bewerber auf der Landesergänzungsliste, Herrn Hans-Paul Jaeger, in den Bundestag. Hiergegen hat Professor Dr. Linhardt telegrafisch und mit einem Schriftsatz vom 6. Februar 1953, auf den verwiesen wird, Einspruch eingelegt und geltend gemacht, daß das durch den Tod des Herrn von Rechenberg verwaiste Mandat ihm gebühre. 1
[BT-Drucks. 1/4492, S. 3] In der ersten mündlichen Verhandlung des Wahlprüfungsausschusses hat der Landeswahlleiter von Nordrhein-Westfalen und der betroffene Abgeordnete Hans-Paul Jaeger geltend gemacht, daß Berlin nicht zum „Bundesgebiet“ im Sinne des § 1 Abs. 1 Ziff. 3 des Wahlgesetzes gehöre, wie sich auch aus den weiteren Bestimmungen des Wahlgesetzes, insbesondere auch aus dem § 26 ergäbe. Die Vertreter des Innenministeriums und die Vertreter des Landes Berlin haben geltend gemacht, daß der Einsprechende hätte berufen werden müssen; der Vertreter von Berlin machte geltend, daß Berlin Teil des Bundesgebietes sei, während der Vertreter des Innenministeriums meinte, daß auch bei einem Abgeordneten, der nachrücke, die Voraussetzungen der Wählbarkeit nur nach dem Stichtage des „Wahltages“ zu beurteilen seien. 2
Der Wahlprüfungsausschuß hat mit Rücksicht auf die aufgeworfenen Zweifelsfragen beschlossen, sowohl von dem Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, wie auch von dem Vorsitzenden des Berlin-Ausschusses des Deutschen Bundestages, Herrn Abg. Dr. Bucerius, je ein Gutachten über die Frage anzufordern, ob nach der heutigen staatsrechtlichen und besatzungspolitischen Lage (insbesondere Erlassen der Besatzungsmächte, Vereinbarungen der Besatzungsmächte mit deutschen Dienststellen o. ä.) der Begriff „Bundesgebiet“ in § 1 Abs. 1 Ziff. 3 des Wahlgesetzes zum 1. Deutschen Bundestag vom 15. Juni 1949 und der Begriff „Bundesrepublik“ in § 26 des gleichen Gesetzes die Auslegung zuläßt, daß unter Bundesgebiet und Bundesrepublik auch das Land Berlin-West mitverstanden werden kann. 3
Herr Dr. Bucerius hat sein Gutachten am 11. Juni (eingegangen am 13. Juni) 1953 und der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen am 15. Juni (eingegangen am gleichen Tage) erstattet. Auf beide Gutachten wird Bezug genommen. 4
Der Inhalt beider Gutachten ist in einer erneuten öffentlichen mündlichen Verhandlung des Wahlprüfungsausschusses vorgetragen und erörtert worden. Der Einspruchsführer Professor Dr. Linhardt hat der letzten mündlichen Verhandlung nicht beigewohnt. 5

Entscheidungsgründe:

Der Einspruch ist form- und fristgerecht eingelegt. Ihm konnte der Erfolg nicht versagt werden. 6
Nach dem Wortlaut des Wahlgesetzes vom 15. Juni 1949 hängt gemäß § 5 die passive Wählbarkeit eng zusammen mit dem aktiven Wahlrecht. Voraussetzung für das aktive Wahlrecht ist gemäß § 1 u. a., daß der Wähler am Wahltage seinen Wohnsitz im Bundesgebiet hatte. Nach § 7 verliert der Abgeordnete seinen Sitz durch nachträglichen Verlust des Wahlrechts, also wenn er den Voraussetzungen des Wohnsitzes gemäß § 3 Ziff. 1 nicht mehr entspricht. Nach § 15 findet, wenn ein Abgeordnetensitz erledigt ist, entweder eine Nachwahl statt, oder erfolgt das Nachrücken des nachfolgenden Bewerbers auf der Landesergänzungsliste. Es erscheint — im Gegensatz zu gewissen Ausführungen des Vertreters des Innenministeriums – [BT-Drucks. 1/4492, S. 4] geradezu selbstverständlich, daß, wenn bei einer Nachwahl die Voraussetzungen der Wählbarkeit am Tage der Nachwahl vorliegen müssen, bei dem Nachrückenden die Voraussetzungen für die Wählbarkeit (also das Nachrücken) am Tage des Nachrückens gegeben sein müssen. 7
Die Frage aber, ob das Land Berlin im Sinne des § 1 des Wahlgesetzes ein Teil des Bundesgebietes sei, war aus den Bestimmungen des Wahlgesetzes selbst nicht ohne weiteres zu entnehmen. Als einschlägige weitere Bestimmungen müssen hier die Artikel 144 und 23 GG herangezogen werden. Im ersteren ist bestimmt, daß, soweit die Anwendung des Grundgesetzes in einzelnen Ländern Beschränkungen unterliegt, das betreffende Land Vertreter in den Bundestag und Bundesrat entsenden darf, während im Artikel 23 „Groß-Berlin“ als „zunächst im Geltungsbereich des Grundgesetz liegend“ aufgeführt ist. Wie bekannt, haben aber die Besatzungsmächte gegen die Artikel 23 und 144 GG Vorbehalte geltend gemacht und darin insbesondere ausgeführt, daß Berlin keine Stimmberechtigung im Bundestag oder Bundesrat habe, wohl aber „eine kleine Anzahl“ von Vertretern entsenden könne, so daß also insoweit auch gegenüber dem Inhalt des Artikels 23 GG ein besatzungsrechtlicher Vorbehalt ausgesprochen war. 8
Mit Rücksicht darauf, daß bei richtiger Auffassung in Ansehung des Wortes „Bundesgebiet“ oder auch „Bundesrepublik“ im Text des Wahlgesetzes es nicht allein auf die Meinungen und Auffassungen des Gesetzgebers vom Mai oder Juni 1949 ankommen kann, sondern daß diese Begriffe im Rahmen der politischen Entwicklung wie viele ihresgleichen einem Bedeutungswandel unterliegen, sah sich der Wahlprüfungausschuß genötigt, die beiden im Tatbestand genannten Gutachten anzufordern. Man wollte also auf jeden Fall nicht den Begriff „Bundesgebiet“ nur aus den Materialien und internationalen Zuständen des Jahres 1949 interpretiert sehen, sondern auf Grund der gesetzlichen und praktischen Lage zu Beginn des Jahres 1953, nämlich zu jenem Zeitpunkt, in dem ein im Lande Nordrhein-Westfalen auf der Landesergänzungsliste gewählter Abgeordneter inzwischen seinen Wohnsitz von Nordrhein-Westfalen weg in das Land Berlin verlegt hat. 9
In dem Gutachten des Ministeriums für gesamtdeutsche Fragen ist zunächst auf ein – unabhängig von der gegenwärtigen Rechtslage – am 28. August 1952 erstattetes allgemeines Gutachten des Ministeriums Bezug genommen, in dem schon für 1952 nachgewiesen war, daß auf dem Gebiete der Rechtsprechung, Verwaltung und Rechtssetzung mit ausdrücklicher Zustimmung oder auch stillschweigender Duldung der Besatzungsmächte das Land Berlin als völlig gleich zu behandelndes Land der Bundesrepublik anzusehen sei, mit der einzigen wesentlichen Einschränkung, daß das Land Berlin an der Regierung des Bundes kraft der in ihm repräsentierten demokratischen Willensbildung nicht teilnehmen darf. In allen übrigen Beziehungen aber besteht in der Verwaltungspraxis, in der Rechtssetzung und insbesondere auch in der Rechtsprechung zwischen Berlin und den übrigen Ländern kein noch so geringer Unterschied mehr. Der Unterschied wegen des „Regiments“ drückt sich nur dadurch aus, [BT-Drucks. 1/4492, S. 5] daß nach dem Dritten Überleitungsgesetz vom 12. Juni 1952 Berlin durch seine gesetzgebenden Körperschaften durch eine sogenannte Mantelgesetzgebung die Gesetze des Bundes auch für Berlin für wirksam erklären muß, wozu es übrigens in gewissem Umfange verpflichtet ist, so daß also auf Grund eines Berliner Gesetzbefehls Bundesgesetze auch im Lande Berlin Recht werden. 10
Das Ministerium kommt in seinem Gutachten auf Grund dieser Erwägungen zu dem zwingenden Schluß, daß, wenn nach dem Besatzungsrecht Berlin nicht das Recht hat, in den Bundestag; vollberechtigte Abgeordnete zu wählen, diese eine dem aufgestellten Grundsatz Rechnung tragende Einschränkung nur des aktiven Wahlrechts sei, da eben die Berliner Bevölkerung durch ihre Stimmen sonst das Regiment im Bund maßgebend bestimmen würden: Dagegen habe diese Einschränkung des aktiven Wahlrechts nichts damit zu tun, ob ein in Berlin wohnender Deutscher innerhalb Westdeutschlands gewählt werden könne; diese Regelung, die in dem Entwurf des neuen Wahlgesetzes übrigens gesetzlich vorgesehen ist, sei auf Grund der herrschenden Verwaltungspraxis heute schon unzweifelhaft geltendes Recht. 11
Zu dem genau gleichen Ergebnis kommt auf Grund ähnlicher Erwägungen auch der Gutachter Dr. Bucerius, der der Meinung ist, daß die eingetretene Entwicklung zu einer staatsrechtlichen, besatzungspolitisch nicht mehr zweifelhaften Zugehörigkeit des Landes Berlin zum Bundesgebiet wie zur Bundesrepublik Deutschland gehört habe, wenn man von der einen Einschränkung hinsichtlich des aktiven Wahlrechts absähe. 12
Diese Gutachten sind in ihrem Ausgangspunkt und in ihrer Nutzanwendung so überzeugend, daß sich der Bundestag ihnen bedenkenlos anschließt. Es braucht im Rahmen dieser Entscheidung nicht erörtert zu werden, von welchem Zeitpunkt an man etwa zwingend zur Auffassung kommen könnte, daß eine Einschränkung des passiven Wahlrechts für das Land Berlin nicht mehr in Frage kommen könnte. Für den Januar 1953 unterliegt es jedenfalls keinem Zweifel, daß der nach Berlin verzogene Bewerber Professor Dr. Linhardt seinen Wohnsitz im Sinne des § 1 Abs. 1 Ziff. 3 des Wahlgesetzes „im Bundesgebiet“ gehabt hat, wenn er im. Lande Berlin wohnt. Er entsprach daher allen Voraussetzungen des Wahlgesetzes, als die Frage entstand, ob er den verstorbenen Abgeordneten Dr. Freiherr von Rechenberg auf der Landesergänzungsliste nachrücken könne. 13
Demnach war zu erkennen, wie geschehen. 14
Gegen diesen Beschluß ist gemäß § 48 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951, (Bundesgesetzblatt Teil I Seite 243) das Rechtsmittel der Beschwerde an das Bundesverfassungsgericht binnen einem Monat nach Erlaß dieses Beschlusses unter den im § 48 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes angegebenen Voraussetzungen zulässig. 15

 


Matthias Cantow