Die beiden direkten Ursachen für die Entstehung von Überhangmandaten
Bei der personalisierten Verhältniswahl wird versucht, zwei (zum Teil gegensätzliche) Prinzipien zu verknüpfen:
- die Wahl eines Abgeordneten in einem Wahlkreis (Direktmandat) und
- die proportionale Vertretung der Parteien im Parlament.
Dabei wird für jedes gewonnene Direktmandat einer Partei im Gegenzug ein Listenmandat derselben Partei gestrichen. (Deshalb ist das Direktmandat und die Erststimme in der Regel für die Parteien uninteressant.)
Dies funktioniert allerdings nur, solange einer Partei nach Proporz mehr Mandate zustehen, als sie Direktmandate gewonnen hat. Stehen einer Partei proportional weniger Mandate zu, als Direktmandate gewonnen wurden, führen diese fehlenden Proporz-Mandate zu zusätzlichen Überhangmandaten (vgl. § 6 Abs. 5 und § 7 Abs. 3 Satz 2 BWahlG).
Die beiden direkten Ursachen, die die Zahl der Überhangmandate der Landesliste einer Partei erhöhen, sind:
1. |
Viele gewonnene Direktmandate (Wahlkreise). |
2. |
Wenige Zweitstimmen. |
Ein Knackpunkt bei der Legitimation von Überhangmandaten ist zweifelsfrei Ursache 2: weniger oder fehlende Stimmen verursachen Zusatzmandate.
Alle anderen denkbaren Ursachen, bewirken Überhangmandate, insoweit sie auf diese beiden Ursachen wirken. Es handelt sich daher um nachgeordnete Ursachen, die sich auf die beiden direkten Ursachen zurückführen lassen:
- Abgabe der Erstimme an einen Kandidaten einer anderen als mit der Zweitstimmen gewählten Partei – „Stimmensplitting“
Damit bietet das Wahlrecht den Wählern die Möglichkeit, auf beide Ursachen getrennt zu zielen.
- Geringe Wahlbeteiligung in einem Bundesland reduziert die Zahl der Zweitstimmen (Ursache 2) der Landeslisten dieses Landes.
- Mehrere relativ starke Parteien (schwache Wahlkreissieger) mit ggf. knappen Mehrheiten
In den neuen Ländern konkurrieren mit CDU, PDS und SPD drei starke Parteien. So kann die jeweils stärkste Partei trotz relativ weniger Stimmen (Ursache 2) alle Wahlkreise des Bundeslandes gewinnen.
- Verteilung der Wahlkreise auf die Bundesländer
Die Zahl der Wahlkreise in einem Bundesland ist die maximale Zahl an Direktmandaten, die eine Partei dort gewinnen kann (Ursache 1). Bei der Bundestagswahl 1998 lassen sich vier Überhangmandate allein auf eine ungleichmäßige Verteilung der Wahlkreise auf die Bundesländer zurückführen (WP 96/98), bzw. drei bei der Wahl 1994. Die ungleiche Verteilung der Wahlkreise auf die Bundesländer war auch Gegenstand zweier Wahlprüfungsbeschwerden (2 BvC 17/99, 2 BvC 21/99).
- Zuschnitt der Wahlkreise
Interessanterweise scheint dies der einzige Punkt zu sein, dem die Parteien und Reformkommissionen des Bundestages ihre Aufmerksamkeit schenken. Dabei ist dieser Punkt im Vergleich zu allen anderen eher irrelevant. Wenn alle Wahlkreise eines Bundeslandes zu groß oder zu klein sind, verändert dies die Verteilung der Wahlkreise auf die Bundesländer (s.o.). Durch gezielte Wahlkreisgeometrie ließen sich auch die Wahlkreissieger beeinflussen (und damit Ursache 1), in der Praxis dürfte dies aber eher schwierig sein.
Viele Direktmandate einer Partei (und damit Überhangmandate) werden begünstigt bei einem sehr homogenen Zuschnitt der Wahlkreise. Die Bedingungen, die zu dem Gewinn eines Wahlkreises führen, dann in der Regel zum Gewinn aller Wahlkreise. Sehr heterogene Wahlkreise machen Überhangmandate dagegen unwahrscheinlich, weil sich dann die Chance auf einen Wahlkreisgewinn von Wahlkreis zu Wahlkreis ändert und ein Gewinn aller Wahlkreise eines Landes erst bei weit über 50 % zu erwarten ist.
- Einflüsse der Unterverteilung nach Hare-Niemeyer
Durch die fehlende Konsistenz des Berechnungsverfahrens Hare-Niemeyer bei der Unterverteilung beeinflusst die Zahl der Stimmen einer Landesliste die Sitzverteilung zwischen zwei anderen (Ein Gutachter spricht auch kapitulierend von „Zufällen bei der Reststimmenverwertung“).
So hätten bei der Wahl 1994 zusätzliche Stimmen der SPD in NRW der SPD ein Überhangmandat gekostet
Dies kann in Extremfällen sogar dazu führen, dass eine Landesliste, die Stimmen gewinnt, deshalb weniger Sitze erhält (Beispiel).
Da die Ursachen gleichermaßen auf die Zahl der Überhangmandate wirken, ist es prinzipiell nicht möglich, eine isolierte Ursache für ein Ueberhangmandat verantwortlich zu machen.