Nachrichten

[Aktuelle Meldungen]

09.10.2013

Ein neuer Typ von Überhangmandaten im neuen Bundestagswahlsystem

Bei der Bundestagswahl 2013 mit neuem Wahlsystem trat ein neuer Typ von Überhangmandaten auf, der zu 33 Zusatzmandaten1 führte. Der Typ ist unabhängig von Direktmandaten und resultiert aus der Pseudoverteilung nach Länderkontingenten. Diese Berechnung der Mindestsitze einer Partei unterscheidet sich deutlich von einer proportionalen Verteilung von Sitzen an die Parteien gemäß ihren bundesweiten Zweitstimmenanteilen.

Das neue Bundestagswahlsystem gleicht Überhangmandate durch Ausgleichsmandate aus. Da der Bundestag statt 598 nun 631 Sitze umfasst, sind dies in der Summe 33 Überhang- und Ausgleichsmandate. Doch welches sind die Überhang- und welches die Ausgleichsmandate?

Geht man vom Überhangmandatsbegriff im bisherigen Bundestagswahlrecht aus, könnte man vermuten, dass die CDU vier Überhangmandate erzielt hat. Denn in Thüringen, Brandenburg, Sachsen-Anhalt und im Saarland hat sie jeweils ein Direktmandat mehr erhalten, als ihr dort nach der ersten (Pseudo-)Verteilung der Landessitzkontingente nach Zweitstimmen zustünde. Über alle Bundesländer hinweg kommt die CDU allerdings bei dieser Verteilung in der Summe mit 242 Mindestsitzen – inklusive der vier überzähligen Direktmandate – auf genau jene Anzahl von Sitzen, die auch eine proportionale Oberverteilung von 598 Sitzen für die CDU ergeben hätte. Die Sitze der CDU bedürfen also mangels Überhangs (daher auch Pseudoüberhang) keines Ausgleichs.

Aber wo ist der Überhang? Dazu vergleichen wir die Mindestsitzzahlen (aus der Pseudoverteilung von § 6 Absatz 2 BWahlG) mit den Sitzen der proportionalen Verteilung an die Parteien.

Partei Ober-
verteilung
Pseudo-
verteilung
Überhang-
mandate
CDU 242 242 0
CSU 53 56 3
SPD 182 183 1
GRÜNE 60 61 1
DIE LINKE 61 60 0
Gesamt 598 602 5

CSU, SPD und Grüne haben mehr Mindestsitze, als ihnen dem Verhältnis nach von 598 Sitzen zustehen. Dies bewirkt eine Vergrößerung des Bundestages durch Ausgleichsmandate. Die Überhangmandate berechnen sich aus der positiven Differenz der Mindestsitze zum proportionalen Anspruch.

Einen Überhang an Direktmandaten sucht man bei CSU, SPD und Grünen aber vergeblich. Ursache ist der erste Schritt der Sitzberechnung: die Pseudoverteilung auf Basis fester Länderkontingente. Weil die Kontingente allein auf der Zahl der Wahlberechtigten beruhen, profitiert die CSU von der überdurchschnittlich großen Zahl von Stimmen an sonstige Parteien (die die in Bayern auch vergleichsweise starken Freien Wähler, Bayernpartei und ÖDP umfassen) und der unterdurchschnittlichen Wahlbeteiligung in Bayern. Die CSU enthält entsprechend mehr Sitze, und zwar Listensitze. Daher kann man hier von einem Listenüberhang sprechen.

Die CSU hängt dabei mit drei Überhangmandaten am weitesten über. Da die CSU auch kleinste Partei ist, hängt sie auch relativ am weitesten über und bestimmt damit die Größe des Bundestages.

Der Bundesdivisor berechnet sich aus der Stimmen- und Sitzzahl der CSU:  3.243.569 / (56 − ½) = 58.442,68… 
Mit ihm und den Zweitstimmenzahlen der Parteien ergibt sich dann deren Zahl an Sitzen:

Partei Zweitstimmen Bundesdivisor Sitze
ungerundet gerundet
CDU14.921.877: 58.442,68… =255,324255
CSU3.243.56955,50056
SPD11.252.215192,534193
DIE LINKE3.755.69964,26264
GRÜNE3.694.05763,20863
Summe631

Daraus ergibt sich eine Größe des Bundestages (Hausgröße) von 631 Sitzen.

Großer Ausgleichshebel bei Überhang einer Kleinpartei

Überhangmandate einer Kleinpartei wie der CSU sind mit einem besonders großen Hebel verbunden. Die drei Überhangmandate erfordern insgesamt 33 Zusatzmandate, also Fraktionsgröße. Ganz allgemein ist der Hebel der Kehrwert des Anteils der zu berücksichtigenden Stimmen, bei der CSU also  1 / 8,8 % = 11,36.  Das heißt, ein Überhangmandat der CSU führt zu ca. 10 Ausgleichssitzen (wenn man über den Rundungseffekt hinwegsieht). Zum Vergleich: Der Hebel einer 40 %-Partei ist 2,5. Für ein Überhangmandat gäbe es ein bis zwei Ausgleichsmandate. Einen richtig großen Bundestag erhielte man, wenn eine Partei wie die CSU ein wirklich schlechtes Zweitstimmenergebnis erzielt, also sehr wenige Zweitstimmen (noch größerer Hebel) und dadurch viele Überhangmandate.

Ursache der unnötigen Vergrößerung

Sitze werden sowohl nach Parteienproporz als auch nach einer Berechnung nach Ländersitzkontingenten verteilt. Da diese beiden Berechnungen nur in Ausnahmefällen zu denselben Sitzzahlen für alle Parteien führen, fällt praktisch immer Listenüberhang an, bei kleinen Parteien mit entsprechend hohem Ausgleichsbedarf.

Lösung: Negatives Stimmgewicht aus altem Wahlsystem herausrechnen

Um die unnötige Vergrößerung zu vermeiden, müsste man (vor der Berechnung der Ausgleichsmandate) die Mindestsitze statt mit den Sitzkontingenten der Pseudoverteilung über ein näher an der normalen Unterverteilung liegendes Verfahren ermitteln. Eine Anforderung daran wäre, dass – wie bei der jetzigen Pseudositzverteilung – kein negatives Stimmgewicht auftreten darf.

Eine Möglichkeit wäre, das negative Stimmgewicht „minimalinvasiv“ aus dem bisherigen Wahlsystem herauszurechnen, was man kaum für zu kompliziert halten kann, so lange man das aktuelle Wahlgesetz zum Maßstab für noch erträgliche Komplexität nimmt. Beim Wahlergebnis 2013 bliebe der CDU dann ein zusätzliches Überhangmandat, das durch ein Ausgleichsmandat der SPD ausgeglichen würde (Hausgröße 600).

Ohne negatives Stimmgewicht ist auch der einfache Ausgliederungsansatz: Dabei werden die Sitze (also Direktmandate) und Stimmen „überhängender“ Landeslisten aus der proportionalen Verteilung genommen, wobei „überhängend“ bedeutet, dass die Zahl der Zweitstimmen einer Landesliste kleiner als ihre Direktmandate mal Bundesdivisor ist.

Für das Wahlergebnis 2013 bedeutete dies drei Zusatzmandate für die CDU und vier Ausgleichsmandate (zwei SPD, je eins Die Linke und Grüne), eine doch übersichtlichere Vergrößerung des Bundestages um sieben Sitze (Hausgröße 605). Solch ein Ansatz würde das Wahlsystem auch unabhängig von willkürlichen und überflüssigen Parametern wie Sitzkontingenten und den damit verbundenen Problemen machen und würde die Berechnung mit 16 landesinterner Verteilungen obsolet machen.


Fußnote

1Berücksichtigt wurden endgültige Ergebnisse der Bundestagswahl 2013, die von den Landes- und Kreiswahlausschüssen festgestellt wurden. Die SPD erhält abweichend zum vorläufigen Ergebnis einen Sitz mehr, also insgesamt 193 Sitze, davon 10 Ausgleichssitze. Die Gesamtgröße des Bundestages beträgt 631 Sitze.


von Martin Fehndrich (09.10.2013)