Bundesversammlung: Wie die Parteien ihre Sitze durch gemeinsame
Listen vermehren können
In den kommenden Tagen werden die Parlamente in den sechzehn Bundesländern
die insgesamt 622 Ländervertreter wählen, welche gemeinsam mit den 622
Mitgliedern des Bundestags am 30. Juni als Bundesversammlung zusammentreten
werden, um einen neuen Bundespräsidenten zu wählen. Je nach Bundesland gibt es
dazu eine gemeinsame (nach Fraktionen aufgegliederte) Liste des ganzen
Parlaments, gemeinsame Listen einzelner Fraktionen oder pro Fraktion eine
getrennte Liste.
Weil das bei der Wahl der Ländervertreter geltende
Divisorverfahren mit Abrundung (d’Hondt) große Parteien bevorteilt, kann ein politisches Lager oftmals durch einen gemeinsamen Wahlvorschlag der beteiligten Parteien dem gegnerischen Lager einen Sitz in der Bundesversammlung „abjagen“. In Bayern ist dies SPD und GRÜNE bei den Bundesversammlungen
2004 und
2009 gelungen – jeweils auf Kosten der CSU. Auf Grundlage der
aktuellen Fraktionsstärken in den Landtagen ergeben sich für CDU/CSU und FDP bzw. für SPD und GRÜNE
in diesem Jahr die folgenden Möglichkeiten einer taktischen Zählgemeinschaft:
- In Bayern könnten SPD und GRÜNE ihren Coup von
2004 und
2009 wiederholen und der CSU erneut einen Sitz abnehmen. Ein gemeinsamer Wahlvorschlag von CSU und FDP
würde schon die Unterstützung der fraktionslosen Gabriele Pauli benötigen, um den Sitz zurückzugewinnen. Alternativ wäre eine Dreier-Zählgemeinschaft aus CSU, FDP und Freien Wählern notwendig.
- In Berlin würde eine gemeinsame Liste von SPD und GRÜNE zu einem Losentscheid gegen die DIE LINKE um den letzten Sitz führen. Mit Unterstützung des fraktionslosen Ex-SPD-Abgeordneten Ralf Hillenberg würde der Sitz sogar ohne Losentscheid an Rot-Grün fallen. Allerdings sind SPD und DIE LINKE in Berlin Koalitionspartner.
- In Brandenburg hätten CDU und FDP durch eine Zählgemeinschaft einen Sitz von der SPD gewinnen können; selbst ein gemeinsamer Gegenwahlvorschlag von SPD, DIE LINKE und GRÜNE hätte dies nicht verhindern können. Mit dem am 3. Juni vom Landtag verabschiedeten gemeinsamen Wahlvorschlag aller Fraktionen haben CDU und FDP diese Möglichkeit verstreichen lassen.
- In Bremen könnten SPD und GRÜNE mit Unterstützung des Ex-Grünen Klaus Möhle die CDU in einen Losentscheid um deren zweiten Sitz zwingen. Die CDU könnte diesen im Gegenzug durch eine Zählgemeinschaft mit der FDP oder mit Unterstützung eines der anderen fraktionslosen Abgeordneten sichern. Nachdem sich der Bremer FDP-Vorsitzende Möllenstädt
öffentlich für Gauck ausgesprochen hat, wäre allerdings auch eine
Zählgemeinschaft aus SPD, GRÜNE und FDP nicht undenkbar, die der CDU den
letzten Sitz wegnehmen würde.
- In Hamburg würde ein gemeinsamer Wahlvorschlag von SPD und GRÜNE den sonst fälligen Losentscheid zwischen CDU und DIE LINKE überflüssig machen und den letzten Sitz an Rot-Grün fallen lassen. Dazu müssten die Grünen sich aber gegen ihren eigenen Koalitionspartner wenden. Alternativ könnte die SPD eine Zählgemeinschaft mit DIE LINKE bilden, wodurch der Sitz ohne Losentscheid an DIE LINKE fallen würde (die aber ja den SPD-Kandidaten Gauck auch nicht wählen will).
- In Hessen haben SPD und GRÜNE durch eine gemeinsame Liste die Möglichkeit, der FDP einen Sitz abzuknöpfen. Eine Zählgemeinschaft aus CDU und FDP könnte dies nicht verhindern.
- In Mecklenburg-Vorpommern könnte die CDU theoretisch ihrem Koalitionspartner SPD einen Sitz wegnehmen, indem sie eine Zählgemeinschaft mit der FDP bildete. Als wirksame Gegenstrategie wäre ein gemeinsamer Wahlvorschlag von SPD und DIE LINKE denkbar.
- In Niedersachsen bräuchten SPD und GRÜNE die Unterstützung der Fraktion DIE LINKE, um der CDU einen Sitz abzujagen. Falls CDU und FDP dem durch eine eigenen Zählgemeinschaft entgegenzuwirken versuchten, gäbe es einen Losentscheid, den allerdings die fraktionslose Christel Wegner zugunsten der Opposition verhindern könnte.
- In Nordrhein-Westfalen würde ein gemeinsamer
Wahlvorschlag von CDU und FDP einen Losentscheid zwischen CDU und SPD um den
letzten Sitz ersparen. Nicht einmal eine gemeinsame Gegenaktion von SPD, GRÜNE und DIE LINKE
könnte dagegen angekommen. Wenn allerdings CDU und FDP getrennte Wahlvorschläge einreichten,
zöge eine gemeinsame Liste von SPD und GRÜNE den letzten Sitz ohne
Losentscheid zu Rot-Grün.
- In Sachsen könnten SPD und GRÜNE zusammen einen zusätzlichen Sitz auf Kosten der Fraktion DIE LINKE oder CDU (Los) ergattern.
- In Schleswig-Holstein ist es besonders kompliziert: Würden CDU und FDP eine gemeinsame Liste einreichen, gäbe es voraussichtlich einen Losentscheid um die letzten beiden (!) Sitze zwischen CDU/FDP, GRÜNE und SSW. Ein gemeinsamer Wahlvorschlag von Rot-Grün würde zwar den Losentscheid verhindern, allerdings auf Kosten des SSW, der seinen Sitz an Schwarz-Gelb verlöre. Eine Liste von SPD und SSW – bei früheren Bundesversammlungen üblich, damit der SSW nicht leer ausgeht – würde bedeuten, dass nur noch der letzte Sitz zwischen CDU/FDP und GRÜNE ausgelost werden müsste. Erst ein Dreier-Wahlvorschlag von SPD, GRÜNE und SSW würde wieder zum gleichen Ergebnis wie bei getrennten Wahlvorschlägen aller Fraktionen führen.
- In Thüringen könnten CDU und FDP bei gemeinsamem Vorgehen einen Sitz dazugewinnen. Auf wessen Kosten dies ginge, müsste per Los zwischen SPD und DIE LINKE entschieden werden. Die SPD könnte durch eine Zählgemeinschaft mit den GRÜNEN einen Sitzverlust verhindern. Ein Dreier-Bündnis aus SPD, GRÜNE und DIE LINKE wiederum würde den Plan von CDU/FDP gänzlich vereiteln. Gegen all diese Überlegungen spricht aber natürlich die bestehende Koalition zwischen CDU und SPD.