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07.11.2006
Bei den Koalitionsverhandlungen in Berlin einigten sich die Verhandlungspartner der SPD und Linkspartei auf eine Änderung des Wahlrechts der Abgeordnetenhauswahl. Dabei soll die Möglichkeit der Aufstellung von Bezirklisten abgeschafft und damit eine Landesliste verbindlich vorgeschrieben werden. Auch eine Reduzierung der Wahlkreise von aktuell 78 auf – Presseberichten zufolge – 65 ist vorgesehen.
Im heute morgen veröffentlichten Koalitionsvertrag wurde unter der Überschrift „Direkte Demokratie und Wahlrecht“ vereinbart:
Die Koalitionsparteien werden durch eine Änderung des Wahlrechts sicherstellen, dass die Zahl der Abgeordneten verringert wird. Hierzu wird die Beschränkung auf Landeslisten in Kombination mit der Reduzierung der Direktwahlkreise geprüft.
Hintergrund sei laut Pressemeldungen der Wunsch, Überhangmandate und Ausgleichsmandate zu reduzieren und so Kosten zu sparen. Der Pressesprecher der Berliner SPD, Hannes Hönemann, begründete die geplanten Änderungen gegenüber Wahlrecht.de vor allem mit mehr Transparenz für den Wähler und nannte als Beispiele die Verständnisprobleme der Wähler bei der umstrittenen Ausgleichsmandatsverteilung und dem lange auf der Kippe stehenden Einzug des CDU-Spitzenkandidaten Friedbert Pflüger über ein Ausgleichsmandat.
Um als Gesetz umgesetzt zu werden bedarf es jetzt der Zustimmung der Parteibasis von SPD und Linkspartei zum Koalitionsvertrag und danach des Gesetzgebungsverfahrens im Abgeordnetenhaus. Dort wird das Vorhaben noch einige Diskussionen auslösen, denn laut Tagesspiegel hat CDU-Generalsekretär Frank Henkel Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Vorschlags.
Die vorgesehene Reduzierung der Zahl der Wahlkreise (derzeit 78 Wahlkreise bei 130 Soll-Sitzen) verringert die Wahrscheinlichkeit und Anzahl von Überhangmandaten, damit entsprechend auch die Zahl der Ausgleichsmandate. Sie ist folglich zur Reduzierung zusätzlicher Mandate geeignet.
Dagegen wäre die Abschaffung der Bezirkslisten zum Zwecke der Reduzierung der Überhang- und Ausgleichsmandate nicht nötig. Eine Änderung der Verrechnung von Direktmandaten mit den einer Partei zustehenden Proporzmandaten würde hier genügen. Kernpunkt wäre die Kompensation interner Überhangmandate.
Interne Überhangmandate entstehen, wenn bei Parteien mit Bezirkslisten die Verrechnung der Direkt- mit den Proporzmandaten erst nach Unterverteilung der Proporzmandate auf die Bezirke stattfindet, wie es das Berliner Landeswahlgesetz momentan vorsieht (analog der Verrechnung erst auf Landes- bzw. Regierungsbezirksebene bei Bundestagswahlen und Landtagswahlen in Baden-Württemberg).
Durch eine Verrechnung der Direktmandate auf Landesebene auch bei Parteien mit Bezirkslisten und dann folgender Verteilung verbleibender Listenmandate an die Bezirke (nur diese und nicht mehr), würden interne Überhangmandate entfallen und es könnten nur noch – genau wie bei reinen Landeslistenwahlen – externe entstehen. Wie sich solch eine Regelung auf die vergangenen Wahlen ausgewirkt hätte, zeigt die folgende Übersicht der bei Abgeordnetenhauswahlen in Berlin seit 1990 angefallenen internen und externen Überhangmandate und der dafür zugeteilten Ausgleichsmandate (zusammen: Mehrmandate).
Wahljahr | Sitze bei interner Kompensation/nur Landesliste | Sitze bei internen Überhangmandaten (aktuelle Regelung) | Externe Mehrmandate | Interne Mehrmandate |
---|---|---|---|---|
1990 | 200 | 241 | 0 | 41 |
1995 | 206 | 206 | 56 | 0 |
1999 | 154 | 169 | 24 | 15 |
2001 | 130 | 141 | 0 | 11 |
2006 | 130 | 149 | 0 | 19 |
In Berlin sind demnach bisher nur in den Jahren 1995 und 1999 externe Überhangmandate aufgetreten, die ebenso bei interner Kompensation zu einer Erhöhung der Abgeordnetenzahl geführt hätten. Die externen Überhangmandate waren alle der Linkspartei zuzurechnen, die in den Jahren im Osten Berlins fast flächendeckend auch mit geringen relativen Mehrheiten die Wahlkreise gewann, von den Wählern in den westlichen Bezirken aber kaum Stimmen erhielt. Alle anderen Überhangmandate bisher waren auch unter Beibehaltung von Bezirkslisten durch interne Kompensation vermeidbare interne Überhangmandate (deren Entstehen ohne Gesetzesänderung in Zukunft sogar noch wahrscheinlicher werden könnte, wenn man das bestehende Kräfteverhältnis mit drei bis vier großen Parteien berücksichtigt).
Eine Abschaffung der Bezirkslisten würde dagegen eine Verlagerung der Kompetenzen zur Aufstellung der Listenkandidaten und damit des politischen Einflusses von den Bezirksverbänden auf den Landesverband der Partei bedeuten. Bei den Wahlen am 17. September 2006 traten SPD, CDU und FDP mit Bezirkslisten auf.
Eine weitere Ursache für die bemängelte fehlende Transparenz in Berlin ist nicht die Kandidatur in Bezirken, sondern das komplizierte Berechnungs- und Zuteilungsverfahren der Mandate zum Ausgleich entstandener interner und externer Überhangmandate. Dieses Verfahren ist so unverständlich und und mehrdeutig, dass seit 1999 für jedes vorläufige und endgültige Ergebnis jeweils eine andere Auslegung der Berechnungsvorschrift angewandt wurde.
Dass dies zu Unmut bei den Abgeordneten (und den Dann-doch-nicht-Abgeordneten) führt, ist verständlich. Umso unverständlicher ist, dass es dem Gesetz- bzw. Verordnungsgeber trotz Hinweisen von Wahlrecht.de und auch nach der ersten erfolgreichen Klage gegen die Sitzverteilung nicht gelungen ist, eine über grundlegende rechtliche Bedenken erhabene Regelung einzuführen (vgl. Mängel bei der Unterverteilung von Ausgleichsmandaten in Berlin [2001]). Der Berliner Landeswahlleiter ist angesichts solcher Regelungen wahrlich nicht zu beneiden. Und wie uns der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin auf Anfrage mitteilte, sind bei Gericht inzwischen erste Einsprüche zur Verteilung der Ausgleichsmandate eingegangen – die Problematik wird uns demnach auch bei dieser Wahl länger beschäftigen.
Die folgenden vorgeschlagenen Punkte sind weitgehend unabhängig voneinander und haben unterschiedlich starke Auswirkungen. Es soll betont werden, dass es sich nur um Minimalvorschläge handelt, die den Charakter des bestehenden Wahlsystems weitgehend erhalten: