Wahlchaos in Deutschland |
[Wahlrechtslexikon] |
Nach der mit Unregelmäßigkeiten gespickten Präsidentenwahl in den USA, bei der der 43. Präsident erst durch eine Entscheidung des Obersten Gerichts bestimmt werden konnte, stellt sich die Frage, wie bei uns in Deutschland der Wahl-GAU (größter anzunehmender Unfall) aussehen könnte, und welche Unregelmäßigkeiten bei uns auftreten können oder schon aufgetreten sind.
- Der Bundeskanzler wird vom Bundestag gewählt und bliebe auch dann als solcher gewählt, wenn nach seiner Wahl eine andere Zusammensetzung des Bundestags festgestellt würde. Durch das Prinzip des konstruktiven Mißtrauensvotums wäre ein Regierungswechsel in diesem Fall schwieriger als eine Wahl am Anfang der Legislaturperiode, wo unter bestimmten Voraussetzungen die einfache Mehrheit ausreichend sein kann.
- Der Bundespräsident wird von Wahlmännern (Bundestagsabgeordnete und Delegierte der Landesparlamente) gewählt. Auch an seiner Wahl änderte sich bei anders festgestellten Sitzverteilungen in Bundestag oder Landtagen nichts.
- Ein Einspruch gegen das Bundestagswahlergebnis ist spätestens zwei Monate nach einer Wahl beim Bundestag einzulegen. Über ihn entscheidet also genau das Gremium, dessen Zusammensetzung gerade angezweifelt wird – und zwar erst dann, wenn der neugewählte Bundestag bereits die Arbeit aufgenommen hat (dann ist es ja eigentlich schon zu spät). Hinzu kommt, daß es keine gesetzliche Frist gibt, binnen derer der Bundestag über den Einspruch entscheiden muß. So läßt er sich dann auch regelmäßig über ein Jahr Zeit. Man kann zwar anschließend beim Bundesverfassungsgericht Beschwerde gegen die Entscheidung einlegen, aber die Erfolgsaussichten sind – selbst bei in der Sache berechtigten Beschwerden – erfahrungsgemäß gering. Das Gericht hat sogar schon einmal eine Beschwerde im wesentlichen mit der Begründung zurückgewiesen, die Legislaturperiode sei ja sowieso fast schon herum, also störe die rechtswidrige Zusammensetzung des Bundestags nun auch nicht mehr. In einem anderen Fall ließ das Bundesverfassungsgericht eine Wahlprüfungsbeschwerde so lange liegen, bis die Legislaturperiode vorbei war, woraufhin das Gericht beschloß, die Beschwerde habe sich damit erledigt.
Gewisse Parallelen zum US-Wahlchaos, wo der US Supreme Court erst die Nachzählungen gestoppt hat, um dann ein paar Tage später festzustellen, nun sei keine Zeit mehr dafür, sind unverkennbar.
- Wer glaubt, Wahl-Pannen wie in Florida kämen in Deutschland nicht vor, der irrt. Allein bei der Bundestagswahl 1998 ist so einiges schiefgegangen (siehe dpa-Meldung vom 15. Oktober 1998):
- Briefwahlstimmen sind im Wahlkreis Göppingen erst Tage später aufgetaucht und ausgezählt worden (siehe Teckbote vom 6. Oktober 1998 [nicht mehr online]).
- Mehrere Wahlbezirke ließen ohne die vorgeschriebenen Wahlbriefumschläge abstimmen. Dies führte dazu, daß je nach Beschluß des zuständigen Kreiswahlausschusses die hiervon betroffenen Stimmen mal für gültig und mal für ungültig erklärt wurden. Die Entscheidungen der Kreiswahlausschüsse über die Gültigkeit von Stimmen können nach geltendem Recht nicht von den Landeswahlausschüssen oder dem Bundeswahlausschuß korrigiert bzw. vereinheitlicht werden. Erst im Rahmen eines Wahlprüfungsverfahrens – dessen Ineffektivität oben bereits festgestellt wurde – kann eine Vereinheitlichung erreicht werden.
- Computerprobleme führten dazu, daß 6.600 Stimmen zunächst „vergessen“ wurden.
- Im Saarland wurden an Briefwählern Stimmzettel verschickt, die schon angekreuzt waren.
- In Bremerhaven wurden Stimmzettel aus einem Nachbarwahlkreis ausgegeben und mußten für ungültig erklärt werden.
- In München bekamen etwa 50 Briefwähler Stimmzettel für den falschen Wahlkreis.
- In Brandenburg konnten die letzten Auszählungsergebnisse erst einige Tage nach der Wahl bekanntgegeben werden: Einige übermüdete Wahlhelfer hatten in der Wahlnacht alles stehen und liegen lassen und sind ins Bett gegangen, obwohl die Stimmen noch nicht ausgezählt waren. Andere Wahlvorsteher vergaßen, daß ein Faxgerät nicht beidseitig überträgt, so daß die auf der Rückseite stehenden Ergebnisse nicht beim Wahlamt ankamen.
- Dies führte dazu, daß der Bundeswahlleiter in der Wahlnacht kein richtiges Endergebnis bekanntgeben konnte. Er entschied sich daher, für das „vorläufige amtliche Endergebnis“ die noch fehlenden etwa 10.000 Stimmen hochzurechnen! Bei der Anpassung dieser Hochrechnung an das endgültige amtliche Endergebnis zwei Wochen nach der Wahl mußte die Sitzverteilung aufgrund der Stimmenverschiebungen in Brandenburg wieder korrigiert werden (die PDS erhielt ein zusätzliches Mandat von der FDP).
- Auch bei der Europawahl 1999 ist einiges schief gelaufen. So wurden beispielsweise verspätet zugestellte Briefwahlstimmen mal berücksichtigt und mal nicht. Gegen dieses unterschiedliche Vorgehen hat sogar der Bundeswahlleiter Einspruch eingelegt (EuWP 27/99 – BT-Drs. 14/2761, Anlage 34 [S. 119]), da er selbst oder der Bundeswahlausschuß ja nicht berechtigt sind, widersprüchliche Entscheidungen des Kreiswahlausschüsse zu berichtigen. Die absurde Praxis des Wahlprüfungsverfahrens zeigte sich in diesem Fall daran, daß der Einspruch formal als „offensichtlich unbegründet“ zurückgewiesen wurde, obwohl dem Anliegen des Bundeswahlleiters voll und ganz entsprochen wurde.