Mehrheitswahlsysteme

[Systeme und Verfahren]

Im Folgenden sind die wichtigsten Wahlsysteme aufgeführt, die dem Repräsentationsprinzip der Mehrheitswahl entsprechen, die also die parlamentarische Regierungsmehrheit einer Partei oder eines Parteienbündnisses herbeiführen sollen.

Die Reihenfolge entspricht in etwa dem Ausmaß des (zu erwartenden) mehrheitsbildenden Effekts des jeweiligen Verfahrens. Dabei sollte man die Klassifizierung insbesondere der am Ende aufgeführten Verfahren als Mehrheitswahlsysteme nicht allzu dogmatisch sehen. Auf dem Kontinuum zwischen Mehrheits- und Verhältniswahl befinden sie sich eher in der Mitte und könnten je nach den vorliegenden politischen Gegebenheiten auch als Verhältniswahl „durchgehen“.

Relative Mehrheitswahl (in Einerwahlkreisen)

Hierbei handelt es sich um das klassische Wahlsystem schlechthin (Kritiker halten es folglich für nicht mehr zeitgemäß). Das Prinzip ist denkbar einfach: Das Wahlgebiet wird in so viele Wahlkreise eingeteilt, wie Abgeordnete zu wählen sind. Jeder Wähler hat eine Stimme. Gewählt ist der Kandidat, der die meisten Stimmen erhalten hat.

Vom Disproportionseffekt profitieren in der Regel die stimmenstärkste Partei sowie Regionalparteien mit ausgeprägten Hochburgen. Tendenziell führt die relative Mehrheitswahl zu einem Zweiparteiensystem. Das Verfahren ist allerdings recht anfällig für das absurde Ergebnis, dass der nur zweitstärksten Partei die meisten Mandate zustehen. Ob und in welchem Ausmaß der mehrheitsbildende Effekt funktioniert, hängt vor allem von der Wahlkreiseinteilung und der Hochburgenverteilung ab, so dass dieses Wahlsystem (wie auch die meisten anderen Mehrheitswahlsysteme) besonders anfällig für eine manipulative Wahlkreisgeometrie ist.

Befürworter der relativen Mehrheitswahl betonen häufig ihren angeblichen Charakter als Persönlichkeitswahl. Dies ist freilich stark übertrieben, da in einer von Parteien geprägten politischen Kultur eine Wahl, bei der der Wähler pro Partei nur einen Kandidaten auswählen kann, in allererster Linie eine Parteienwahl ist und keine Personenwahl. In der Tat stark ausgeprägt ist dagegen die Verbindung zwischen dem Abgeordneten und seinem jeweiligen Wahlkreis (und dessen Bevölkerung). Dies kann allerdings auch schnell zu einem übertriebenen Lokallobbyismus im Parlament führen, so dass es nicht unbedingt als Vorteil anzusehen ist.

Die relative Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen wird heutzutage vor allem noch im angelsächsischen Raum (Großbritannien, USA, Kanada) sowie in weiten Teilen Afrikas praktiziert. In ihrem Stammland Großbritannien ist sie in den letzten Jahren jedoch stark unter Druck geraten; es gibt dort Bestrebungen, sie durch eine kompensatorische Verhältniswahl zu ersetzen (vgl. hierzu den Bericht der Jenkins-Komission, die ein neues Verfahren für die Wahl zum britischen Unterhaus vorschlagen sollte).

Eine spezielle Form der relativen Mehrheitswahl ist die sogenannte romanischen Mehrheitswahl. Dabei sind zwei Wahlgänge notwendig, falls beim ersten Wahlgang kein Kandidat die absolute Mehrheit der Stimmen erhalten hat. Anders als bei der absoluten Mehrheitswahl können am zweiten Wahlgang jedoch nicht nur die beiden stimmenstärksten Kandidaten des ersten Wahlgangs teilnehmen. Die genauen Teilnahmebedingungen für den zweiten Wahlgang werden unterschiedlich gehandhabt:

Das Wahlgesetz zur französischen Nationalversammlung sieht beispielsweise vor, dass am zweiten Wahlgang alle Kandidaten teilnehmen können, die im ersten Wahlgang von mindestens 12,5 % der Stimmberechtigten (!) gewählt wurden. Die bei Bürgermeisterwahlen in Baden-Württemberg und Sachsen angewandte Variante der romanischen Mehrheitswahl sieht dagegen keinerlei zusätzliche Teilnahmebeschränkungen für den zweiten Wahlgang vor. Hier können sogar Kandidaten antreten, die am ersten Wahlgang gar nicht teilgenommen hatten.

In jedem Fall siegt im zweiten Wahlgang der Kandidat mit der relativen Mehrheit der Stimmen, so dass die romanische Mehrheitswahl als Sonderfall der relativen Mehrheitswahl anzusehen ist, obwohl sie in der Fachliteratur zumeist als Variante der absoluten Mehrheitswahl geführt wird.

Stärker noch als die absolute Mehrheitswahl fördert die romanische Mehrheitswahl die Bildung von Wahlbündnissen. In der Regel finden vor dem zweiten Wahlgang Absprachen dergestalt statt, dass die eine Partei ihren Kandidaten zugunsten des Bündnispartners zurückzieht, obwohl jener die Teilnahmevoraussetzung erfüllen würde. Dabei kann es sogar vorkommen, dass der stärkste Kandidat des ersten Wahlgangs seine Kandidatur zurückzieht und zur Wahl seines wesentlich schwächer abgeschnittenen Bündnispartners aufruft. Auf diese Weise können große Parteien potentiellen Koalitionspartnern zu Parlamentssitzen verhelfen – im Gegenzug erhalten ihre eigenen Kandidaten in anderen Wahlkreisen Unterstützung von den Wählern des Koalitionspartners.

Absolute Mehrheitswahl (in Einerwahlkreisen)

Die absolute Mehrheitswahl gibt es in verschiedenen Varianten. Gemeinsam ist ihnen, dass auch hier das Wahlgebiet in so viele Wahlkreise unterteilt wird, wie Mandate zu vergeben sind.

Die „Standardvariante“ der absoluten Mehrheitswahl sieht zwei Wahlgänge vor, in denen jeder Wähler jeweils eine Stimme hat. Im ersten Wahlgang ist gewählt, wer über 50 Prozent der Stimmen erhalten hat. Wurde dies von keinem Kandidaten geschafft, findet ein zweiter Wahlgang statt, an dem aber lediglich die beiden stimmenstärksten Kandidaten des ersten Wahlgangs teilnehmen. Im zweiten Wahlgang gewinnt der Kandidat mit den meisten Stimmen, der damit logischerweise automatisch auch mehr als 50 Prozent der Stimmen erhalten hat. Diese Form der absoluten Mehrheitswahl wurde z. B. früher im deutschen Kaiserreich angewendet und gilt heute bei den meisten Bürgermeisterwahlen in Deutschland.

In Australien findet die absolute Mehrheitswahl mit übertragbarer Stimmgebung Anwendung, bei der kein zweiter Wahlgang notwendig ist. Die Wähler numerieren hierbei nämlich die Kandidaten gemäß ihrer Vorlieben mit 1, 2, 3 usw. durch. Hat nun kein Kandidat die absolute Mehrheit der Stimmen (= der Erstpräferenzen) erreicht, wird der Kandidat mit den wenigsten Stimmen „aus dem Rennen genommen“, und es werden auf den betroffenen Stimmzetteln nun die Zweitpräferenzen ausgezählt und den verbliebenen Kandidaten gutgeschrieben. Dieses Verfahren wird gegebenenfalls so lange wiederholt, bis ein Kandidat die absolute Stimmenmehrheit erreicht hat.

Mehrheitswahl in Mehrpersonenwahlkreisen

Hierbei werden pro Wahlkreis mehrere Kandidaten gewählt. Üblich ist dazu die beschränkte Mehrfachstimmgebung, bei der jeder Wähler eine bestimmte Anzahl von Stimmen (meist so viele, wie Sitze im jeweiligen Wahlkreis zu vergeben sind) auf die Kandidaten verteilen kann (ggf. mit der Möglichkeit, mehrere Stimmen auf einen Kandidaten zu kumulieren). Denkbar sind aber auch die Einfachstimmgebung (jeder Wähler hat eine Stimme) oder das sogenannte Approval Voting, bei dem jeder Wähler so viele Stimmen vergeben kann, wie er will (aber pro Kandidat maximal eine).

Gewählt sind jeweils in einem n-Personenwahlkreis die n Kandidaten mit den meisten Stimmen.

Dieses Mehrheitswahlrecht ist allenfalls zu empfehlen, wenn die politische Landschaft nicht allzu sehr von Parteien geprägt ist. Bei einheitlichem Wahlverhalten der Parteianhänger kann es nämlich passieren, dass die stärkste Partei sämtliche Mandate des Wahlkreises gewinnt.

Die Mehrheitswahl in Mehrpersonenwahlkreisen findet übrigens auch in Deutschland Anwendung: Die Kommunalwahlgesetze einiger Bundesländer sehen dieses Verfahren für den Fall vor, dass nur eine oder gar keine Partei bzw. Wählergruppe einen Wahlvorschlag eingereicht hat.

„Verhältniswahl“ in kleinen Wahlkreisen

Obwohl die Mandate bei diesem Verfahren nach dem Verteilungsprinzip Proporz verteilt werden, handelt es sich aufgrund der kleinen Wahlkreisgröße (einstellige Zahl von zu vergebenden Mandaten) doch um ein Mehrheitswahlsystem. Der mehrheitsbildende Effekt wird in erster Linie durch das sogenannte natürliche Quorum (faktische Hürde) erreicht, aufgrund deren kleine Parteien kaum Chancen auf Sitzgewinne haben.

Oft wird dieser Effekt noch durch die Verwendung eines verzerrenden Sitzzuteilungsverfahren (meist d’Hondt) erheblich verstärkt und auch auf größere Parteien ausgedehnt.

In Deutschland wäre es zu Zeiten der großen Koalition Ende der Sechziger Jahre beinahe zur Einführung eines solchen Verfahrens (geplant waren Dreier- oder Viererwahlkreise) gekommen. Dies scheiterte jedoch an der mangelnden Entschlossenheit der Koalitionspartner – insbesondere der SPD, aber auch der CDU.

Im angelsächsischen Raum wird die Verhältniswahl in kleinen Wahlkreisen meist in Verbindung mit der übertragbaren Stimmgebung praktiziert (Irland, Nordirland, Malta) bzw. propagiert (Großbritannien, Australien). Dies nennt sich dann Single Transferable Vote bzw. Quota Preferential.

Grabenwahlsystem

Wenn ein Teil der Abgeordneten über (absolute oder relative) Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen bestimmt wird und der andere über eine proportionale Zusatzliste – ohne dass zwischen den beiden Teilen irgendeine Verrechnung stattfindet – so spricht man von einem Grabenwahlsystem. Wie stark dieses Verfahren mehrheitsbildend wirkt, hängt vor allem von dem Verhältnis zwischen Direkt- und Listenmandaten ab. Sofern es nicht allzu sehr zu Gunsten der Direktmandate vom Verhältnis 50:50 abweicht, schaffen in der Regel auch kleinere Parteien den Sprung ins Parlament mit mehreren Abgeordneten. Doch nicht nur diese Minderheitenrepräsentation macht die Beliebtheit des Grabenwahlverfahrens aus – vor allem bietet es die Möglichkeit, wichtige Abgeordnete auf der Liste abzusichern, die womöglich Gefahr laufen, in ihrem Wahlkreis zu verlieren. Zudem kann dadurch verhindert werden, dass manche Regionen im Parlament nur von einer einzigen Partei repräsentiert wird, was bei einer reinen relativen oder absoluten Mehrheitswahl durchaus nicht ungewöhnlich ist.

Angewandt wird das Grabenwahlsystem u. a. in Russland und Japan. Auch in Deutschland war es einmal im Gespräch (vor allem in den 50er Jahren).

Nicht zu verwechseln ist dieses Verfahren übrigens mit der personalisierten (bzw. kompensatorischen) Verhältniswahl, wo im Gegensatz zur Grabenwahl eine Verrechnung zwischen Direkt- und Listenmandaten stattfindet. Wie bei diesen Wahlsystemen besteht aber auch beim Grabenwahlrecht die Möglichkeit, dem Wähler entweder eine gemeinsame Stimme für Wahlkreis- und Listenwahl zu geben oder zwei getrennte Stimmen (incl. Stimmensplitting).


von Wilko Zicht (1999, letztes Update: 28.06.2001)