Grundtypen

[Systeme und Verfahren]

Traditionelle Unterscheidung von Mehrheits- und Verhältniswahl

Zumeist werden Mehrheits- und Verhältniswahl etwa wie folgt definiert:

Diese Definitionen sind nicht unbedingt falsch – gleichwohl sind sie unbrauchbar und irreführend.

Zum einen beschreiben sie jeweils nur eine ganz bestimmte Form der Mehrheitswahl (nämlich die relative Mehrheitswahl im Einpersonenwahlkreis) bzw. der Verhältniswahl (reine Verhältniswahl im Einheitswahlkreis). All die anderen vielfältigen Wahlsysteme, die in der Praxis angewendet werden oder die zumindest theoretisch denkbar sind, werden von der o. a. Definition also gar nicht erfasst.

Zum anderen stellen die beiden Defintionen auf unterschiedliche Kriterien ab: Bei der Beschreibung der Mehrheitswahl steht die technische Ausgestaltung des Wahlverfahrens im Vordergrund, während die Definition der Verhältniswahl das zu erreichende Ziel hervorhebt.

Repräsentations- und Verteilungsprinzip

Um daher zu einer sinnvollen Klassifizierung von Wahlsystemen zu kommen, ist strikt zwischen zwei Prinzipien zu unterscheiden – dem Repräsentationsprinzip, das sich auf das gesamte Wahlgebiet bezieht, und dem Verteilungsprinzip (Entscheidungsregel), das sich auf den einzelnen Wahlkreis beschränkt. Dabei wird jeweils zwischen Majorz und Proporz unterschieden:

  Majorz Proporz
Verteilungsprinzip Alle im Wahlkreis zu vergebenden Mandate werden der stärksten Partei zugesprochen. Die Mandate in den Wahlkreisen werden jeweils entsprechend dem Stimmenverhältnis auf alle Parteien und Einzelkandidaten verteilt.
Repräsentationsprinzip Die Wahl soll zu einer parlamentarischen Regierungsmehrheit einer Partei oder eines Parteienbündnisses führen (Mehrheitswahl). Die in der Bevölkerung bestehenden sozialen Kräfte und politischen Gruppen sollen weitgehend getreu im Parlament widergespiegelt werden (Verhältniswahl).

Während das Repräsentationsprinzip also die Auswirkungen eines Wahlverfahrens beschreibt, gibt das Verteilungsprinzip (lediglich) die Technik der Mandatsverteilung wider. Eine sinnvolle Unterscheidung von Wahlsystemen sollte sich nach dem Repräsentationsprinzip richten, ist doch die Klassifizierung nach dem Verteilungsprinzip weitgehend formaler Natur und verstellt somit den Blick auf das Wesentliche. Denn für die Bewertung eines Wahlsystems kommt es entscheidend darauf an, welche Auswirkungen auf das politische System von ihm zu erwarten sind. Mit welchen technischen Details diese Auswirkungen erzielt werden, ist dagegen nur von sekundärem Interesse. Gleichwohl fällt – wie noch zu zeigen sein wird – die Unterscheidung nach den Auswirkungen eines Wahlverfahrens schwerer, so dass wir uns zunächst der technischen Ausgestaltung widmen:

Grundstruktur von Wahlsystemen

Unter einem Wahlsystem ist der Modus zu verstehen, nach welchem die Wähler ihre Partei- und/oder Kandidatenpräferenz in Stimmen ausdrücken und diese in Mandate übertragen werden. Jeder Wahlgesetzgeber steht dabei zunächst vor zwei Grundsatzentscheidungen:
Zum einen kann er

Zum anderen kann er (vgl. Tabelle oben)

Aus der Kombination dieser strukturellen Möglichkeiten (Wahlkreisgröße und Verteilungsprinzip) ergeben sich sich vier Grundtypen von Wahlsystemen, die jeweils unterschiedliche Auswirkungen auf das Repräsentationsprinzip haben:

Einheitswahlkreis und Proporz als Verteilungsprinzip
Wenn alle Mandate in einem einzigen Wahlkreis entsprechend dem Stimmenverhältnis der einzelnen Parteien vergeben werden, dann wird dadurch die höchstmögliche Übereinstimmung von Stimmen- und Mandatsanteil erreicht. Es verbleiben lediglich zu vernachlässigende Abweichungen, die aus der Notwendigkeit der Umsetzung von Stimmen in ganze Mandate resultieren, da es keine halben Abgeordneten gibt. Nur in diesem einen Wahlverfahren „kostet“ jedes Mandat gleich viele Stimmen, nur dieses System ist bezüglich der Relation Stimmen-Mandate „neutral“. Somit bestimmen nur bei diesem Verfahren allein die Wähler (und nicht das Wahlsystem selbst) die Zusammensetzung des Parlaments. Dieses einzig neutrale Wahlverfahren entspricht also idealtypisch dem Repräsentationsprinzip Proporz und wird daher meist als reines Verhältniswahlsystem bezeichnet. Alle anderen Wahlsyteme enthalten dagegen Elemente, die – mehr oder weniger stark – Anreize bieten oder Druck ausüben, um die Konzentration auf wenige Parteien im Parlament zu fördern bzw. die die Bildung der absoluten Parlamentsmehrheit durch eine einzige Partei zu erleichtern. Während bei der reinen Verhältniswahl hierzu nämlich auch die absolute Mehrheit der Stimmen nötig ist, genügen bei mehrheitsbildenden Systemen meist bereits deutlich geringere Stimmenanteile.

Regionale Wahlkreise und Proporz als Verteilungsprinzip
Vergleichsweise gering fällt der Konzentrationsanreiz aus, wenn in isolierten, regionalen Wahlkreisen jeweils mehrere Mandate proportional zu den Stimmenzahlen der Parteien bzw. Kandidaten vergeben werden. Werden nur wenige Wahlkreise mit jeweils sehr vielen zu vergebenen Sitzen gebildet (z.B. fünf Wahlkreise mit jeweils 100 Mandaten), dann unterscheidet sich das Ergebnis nur geringfügig von dem der reinen Verhältniswahl. Je weiter man aber die Zahl der Wahlkreise erhöht und gleichzeitig die Zahl der jeweils zu vergebenden Mandate verringert, desto größer werden tendenziell die Abweichungen von der Proportionalität, wie sie bei der Vergabe aller Mandate im einheitlichen Elektorat möglich wäre. Ihre mehrheitsbildende Wirkung gewinnen solche Systeme vor allem dadurch, dass sich in jedem einzelnen Wahlkreis eine recht hohe natürliche Sperrklausel ergibt. Sie wird deshalb als natürlich bezeichnet (im Gegensatz zu einer künstlichen Sperrklausel wie z. B. der in Deutschland bekannten Fünfprozenthürde), weil sie sich unmittelbar aus der Größe des Wahlkreises ergibt. So benötigt z. B. eine Partei in einem Wahlkreis, in dem fünf Mandate vergeben werden, mindestens ca. 10 Prozent (siehe Anmerkung unten) der Stimmen, um ein Mandat zu erhalten. Weil die meisten Stimmen, die für kleinere Parteien abgegeben werden, auf diese Weise in den Wahlkreisen „unter den Tisch fallen“, wird das Stimmen-Mandate-Verhältnis letztlich auch im gesamten Wahlgebiet stark zugunsten der größeren Parteien verzerrt. Verstärkt wird dieser Effekt oft dadurch, dass zur Mandatsverteilung in den Wahlkreisen ein Stimmenverrechnungsverfahren benutzt wird, das größere Parteien begünstigt (z. B. d’Hondtsches Höchstzahlverfahren).

Regionale Wahlkreise und Majorz als Verteilungsprinzip
Einen Sonderfall stellt die Wahl in Einmandatswahlkreisen dar (relative bzw. absolute Mehrheitswahl), weil hier die Verteilungsprinzipien Majorz und Proporz zusammenfallen. Es macht schließlich keinen Unterschied, ob hier die stärkste Partei „alle“ Mandate erhält, oder ob eine „Verteilung“ auf die Parteien entsprechend ihrem Stimmenanteil erfolgt: Ein Mandat kann eben immer nur eine Partei gewinnen und zwar natürlich die mit den meisten Stimmen. Da man bei einem einzigen Mandat nicht ernsthaft von einer proportionalen Verteilung sprechen kann, erscheint die Zuordnung zu diesem dritten Grundtyp sinnvoller. Ebenfalls denkbar ist jedoch, dass das Verteilungsprinzip Majorz auch in Wahlkreisen angewandt wird, in denen mehrere Mandate zu vergeben sind. Dies ist z. B. bei der Wahl des US-Präsidenten der Fall: In jedem Bundesstaat erhält der stärkste Kandidat sämtliche Stimmen des Staates im Wahlmännergremium, das dann den Präsidenten wählt. Im Vergleich zur Anwendung des Verteilungsprinzips Proporz hat hierbei jedoch eine Vermehrung und gleichzeitige Verkleinerung der Wahlkreise genau umgekehrte Auswirkungen auf das Stimmen-Mandate-Verhältnis der Parteien im Wahlgebiet: Je weiter die Zahl der Wahlkreise ab- bzw. die Zahl der in den Wahlkreisen jeweils zu vergebenden Mandate zunimmt, desto stärker wird der Parteienproporz verzerrt und desto wahrscheinlicher wird es, dass überhaupt nur noch eine einzige Partei Mandate erzielt. Wenn z. B. nur zwei Wahlkreise mit je 250 Mandaten gebildet werden, dann ist diese Gefahr sehr groß. Dies führt zum vierten und letzten Grundtyp:

Einheitswahlkreis und Majorz als Verteilungsprinzip
Dieser Möglichkeit kommt freilich nur theoretische Bedeutung zu. Wenn in einem einzigen Wahlkreis alle Mandate an die stärkste Partei vergeben werden, so entsteht auf jeden Fall ein Einparteienparlament. Der parlamentarische Dualismus zwischen Regierung und Opposition entfiele, so dass es nicht verwundert, dass eine solche Einheitswahl in demokratischen Staaten nicht praktiziert wird.

Anordnung der Wahlsysteme auf einem Kontinuum

Aus dem Vorstehenden ergibt sich die Einordnung von Wahlverfahren auf einem Kontinuum, welches bei der neutral wirkenden reinen Verhältniswahl beginnt und dann – unter ständiger Verschärfung des Konzentrationsanreizes – theoretisch so weit geführt werden kann, bis nur noch eine einzige Partei im Parlament vertreten ist:

             reine Verhältniswahl        relative Mehrheitswahl         Einheitswahl
                        o--------------------------o--------------------------o
Verteilungsprinzip:     |---------Proporz----------|----------Majorz----------|
Mandate pro Wahlkreis: alle------sinkt bis auf-----1----steigt bis auf-----alle

Es gibt also zwischen allen Wahlsystemen einen fließenden Übergang hinsichtlich des Disproportionseffekts. Die Begriffe reine Verhältniswahl und relative Mehrheitswahl sind dabei letztlich nur Namen für bestimmte, besonders markante Wahlverfahren auf dem Kontinuum. Dies macht es fast unmöglich, zur wünschenswerten Aufteilung von verschiedenen Wahlverfahren in Verhältnis- und Mehrheitswahlsysteme zu kommen. Denn wo auf dem Kontinuum endet „Verhältniswahl“ und wo beginnt „Mehrheitswahl“ im Sinne der o. a.  Repräsentationsprinzipien? Ist z. B. die Wahl in Sechserwahlkreisen nach dem Verteilungsprinzip Proporz eine Verhältnis- oder eine Mehrheitswahl?

Trotz dieser Abgrenzungsschwierigkeiten ist die grundsätzliche Unterscheidung zwischen Mehrheits- und Verhältniswahl weiterhin von großer praktischer Bedeutung, da sich die öffentliche Diskussion meist auf ein Entweder-Oder in dieser Frage beschränkt und sich hierbei tatsächlich zwei wichtige Ideen demokratischer Repräsentation gegenüber stehen. Daher wird hier dennoch an dieser Unterscheidung im Prinzip festgehalten, zumal eine sinnvollere Klassifizierungsmöglichkeit nicht in Sicht ist. Gleichwohl sollte man sich bewusst sein, dass es angesichts der Vielzahl von Wahlverfahren nicht die Mehrheitswahl oder die Verhältniswahl gibt und dass es bei manchen Verfahren sogar praktisch unmöglich ist, sie in dieses Schema zu pressen, weil sie ziemlich in der Mitte des Kontinuums zwischen reiner Verhältniswahl und relativer Mehrheitswahl liegen.

Es ließe sich daher auch rechtfertigen, für solche Wahlverfahren eine neue Kategoriee namens Mischwahlsysteme einzuführen. Allerdings würde das eigentlich Problem dadurch nur verlagert werden, da die Abgrenzung zwischen dieser Kategorie und den beiden anderen ebenso schwierig wäre. Eine denkbare Klassifizierung, die ohne diese Abgrenzunghsschwierigkeiten auskommt, besteht darin, der reinen Verhältniswahl alle anderen Wahlsysteme, die auf irgendeine Weise mehrheitsbildend wirken, gegenüberzustellen. Für die praktische Beurteilung von Wahlsystemen wäre eine solche Einteilung aber zu oberflächlich.

Wahlsystematik des Bundesverfassungsgerichts

Nicht mehr vertretbar ist nach alledem aber die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, derzufolge dem Grundsatz der gleichen Wahl bei einem Verhältniswahlrecht ein anderer (wesentlich strengerer) Maßstab zu entnehmen sei als bei einem Mehrheitswahlrecht (siehe etwa das Urteil zu den Überhangmandaten). In der Konsequenz bedeutet diese Rechtsprechung nämlich, dass der Gesetzgeber die Porporzverzerrung nur stark genug machen muss (so dass es sich um ein Mehrheitswahlrecht handelt), damit diese Ungleichheit verfassungsgemäß ist.

Sperrklauseln

Bei den bisher dargestellten Verfahren erfolgte der Konzentrationsanreiz in Form eines mit dem Stimmenanteil einer Partei (mehr oder weniger) kontinuierlich ansteigenden Mengenrabatts, so dass die Partei mit den meisten Wählern für ihre Mandate im Durchschnitt am wenigsten Wähler benötigt. Eine andere Methode besteht darin, nur einen Teil der Parteien an der Mandatsvergabe zu beteiligen, andere jedoch durch eine Sperrklausel ausschließen. Im Unterschied zu den Systemen des ständig steigenden Rabatts bestehen hier nur zwei Stufen. Alle Stimmen, die auf Parteien entfallen, welche die Klausel überwinden, haben denselben Erfolgswert (Verhältnis Stimmen-Mandate). Ob die Partei die Klausel nur ganz knapp überwunden hat oder ob sie die meisten Stimmen erhalten hat, spielt dann für den Erfolgswert keine Rolle mehr. Die übrigen Stimmen haben dagegen überhaupt keinen Erfolg, sie sind wertlos. Je höher man eine solche Sperrklausel ansetzt, desto größer wird die „Verunreinigung“ der Proportionalität, desto geringer wird tendenziell die Zahl der im Parlament vertretenen Parteien und desto leichter kann folglich eine dieser Parteien auch ohne absolute Mehrheit der Stimmen die absolute Mandatsmehrheit im Parlament erreichen. Der Konzentrationsanreiz lässt sich dabei von geringfügig (z. B. 1 %) über das in Deutschland übliche Niveau (5 %) und dem Umfang, der in etwa dem Konzentrationsanreiz der relativen Mehrheitswahl entspricht (ca. 15–20 %), bis zu einem Grad steigern, der ein Zwei- oder gar Ein-Parteien-Parlament erzwingt (33,4 % bzw. 50 %). Bei extrem hohen Sperrklauseln sollte freilich stets eine Sonderregelung vorgesehen werden, dass eine bestimmte Zahl von Parteien auf jeden Fall ins Parlament einzieht, selbst wenn sie die Sperrklausel nicht erreicht haben, denn sonst könnte es je nach Verteilung der politischen Kräfte dazu kommen, dass überhaupt keine Partei Mandate erringt. Im Einheitswahlkreis, in dem alle Mandate nach dem Verteilungsprinzip Proporz vergeben werden, ergibt sich demnach das folgende Kontinuum:

              reine Verhältniswahl                         Einheitswahl
                        o----------------------------------------o
Höhe der Sperrklausel:  Null   3%   5%   10%    15%   20%   30%   50%

Obwohl der gewünschte Effekt eigentlich nur dann zuverlässig erzielt werden kann, wenn die Sperrklausel auf Wahlgebietsebene angewandt wird, gibt es in der Praxis künstliche Sperrklauseln häufig auch auf regionaler Ebene. In Bayern galt z. B. lange Jahre eine Regelung, wonach nur solche Parteien in den Landtag einziehen, die in mindestens einem Wahlkreis (Regierungsbezirk) zehn Prozent der Stimmen erzielen konnten. Auch bei der ersten Bundestagswahl 1949 galt die Fünfprozenthürde getrennt für jedes Bundesland. Generell werden künstliche („systemfremde“) Sperrklauseln in der politischen und wissenschaftlichen Diskussion regelmäßig kritischer betrachtet als natürliche („systemimmanente“) Sperrklauseln. Völlig zu Unrecht, ist doch die „Willkür“ bei der künstlichen Hürde nicht größer als bei der natürlichen. Es spielt keine entscheidende Rolle, wie die Sperrwirkung zustande kommt, die ja in jedem Fall mit funktionalen Erwägungen begründet wird.

Weitere Konzentrationsanreize

Freilich gibt es noch viele andere Mittel außer der Wahlkreiseinteilung und dem Verteilungsprinzip sowie einer Sperrklausel, um sich auf dem Kontinuum zu bewegen. Es wäre beispielsweise denkbar, die Stimmenzahlen der Parteien zum Zwecke der Mandatsverteilung zu potenzieren. So könnte der Konzentrationsanreiz ähnlich wie mit Hilfe der Wahlkreiseinteilung kontinuierlich gesteigert werden. Untersuchungen haben ergeben, dass unter den Bedingungen der relativen Mehrheitswahl die Verteilung der Mandate auf die Partei regelmäßig in etwa dem Verhältnis der dritten Potenzen ihrer Stimmenzahlen entspricht (Kubusregel). Während der großen Wahlrechtsdiskussion in Deutschland zu Zeiten der Großen Koalition in den sechziger Jahren wurde daher die Einführung eines sog. kubischen Wahlsystems ernsthaft vorgeschlagen. Ein solches System hätte auch den Vorteil, dass es nicht wie bei der relativen Mehrheitswahl (und anderen Verfahren, die den Konzentrationsanreiz durch Bildung von Wahlkreise herbeiführen wollen) dazu kommen kann, dass eine Partei im gesamten Wahlgebiet die meisten Mandate erringt, obwohl sie nicht stärkste Partei ist (sog. Bias). Insofern ist das kubische Verfahren im Vergleich zur relativen Mehrheitswahl das eigentlich zweckmäßigere System, um den gewünschten mehrheitsbildenden Effekt zu erzielen. Bezeichnenderweise wird ein solches Verfahren von den Befürwortern des relativen Mehrheitswahlrechts häufig als „kalt und rational“; bezeichnet, was freilich nur zeigt, wie irrational die Wirkungen dieses Wahlsystems sowie die Ansichten seiner Unterstützer sind.

Der mehrheitsbildende Effekt ließe sich bei einer Potenzierung der Stimmenzahlen natürlich auch wesentlich schonender dosieren. Auf Grundlage des Bundestagswahlergebnisses von 1998 hätte beispielsweise bereits eine Potenzierung der Stimmenzahlen mit einem Exponenten von 1,3 ausgereicht, um der SPD als stärkste Partei eine komfortable absolute Mehrheits der Bundestagssitze zu verschaffen.

Neben dieser (bislang) eher theoretischen Möglichkeit hat die scheinbar unbegrenzte Phantasie der Wahlgesetzgeber dieser Welt eine Vielzahl weiterer Konzentrationsanreize hervorgebracht, die meist auf Kombinationen der bisher präsentierten Methoden beruhen. Einige davon werden im Rahmen der Darstellung verschiedener Verhältnis- bzw. Mehrheitswahlsysteme erläutert.


Zur Berechnung von „natürlichen“ Sperrklauseln: Der Stimmenanteil, den eine Partei für das erste Mandat erreichen muss, richtet sich nicht nur nach der Wahlkreisgröße, sondern auch nach dem verwendeten Sitzzuteilungsverfahren. Wird ein neutrales Verfahren wie z. B. das Quotenverfahren mit Restausgleich nach größten Bruchteilen (Hare/Niemeyer) oder das Divisorverfahren mit Standardrundung (Sainte-Laguë) benutzt, so wird der erste Sitz im Durchschnitt bei einem Sitzanspruch von 0,5 zugeteilt; für den zweiten Sitz ist ein Sitzanspruch von 1,5 notwendig, für den dritten Sitz 2,5 usw. Um in einem Fünfmandate-Wahlkreis auf einen Sitzanspruch von 0,5 zu kommen, ist ein Stimmenanteil von zehn Prozent erforderlich (0,5 mal ein Fünftel mal Hundert); in einem Sechser-Wahlkreis benötigt man 8,3 Prozent usw.
Gilt dagegen ein Sitzzuteilungsverfahren wie beispielsweise das Divisorverfahren mit Abrundung (d’Hondt), welches die großen Parteien begünstigt, liegt die zu erwartende natürliche Sperrklausel etwas höher, allerdings immer noch deutlich unter dem Quotienten aus Stimmen- und Mandatszahl, der häufig fälschlicherweise als natürliche Sperrklausel angegeben wird (siehe auch nähere Details inkl. Formeln für die exakte Berechnung der faktischen Sperrklausel).


von Wilko Zicht (1999, letztes Update: 28.05.2006)