Nachrichten

[Aktuelle Meldungen]

29.05.2013

Kuriositäten bei den Kommunalwahlen 2013 in Schleswig-Holstein

Am vergangenem Sonntag, den 26. Mai 2013, fanden im nördlichsten Bundesland die Kommunalwahlen statt. Etwa 2,35 Mio Bürger waren zur Wahl der Gemeindevertretungen und der Kreistage berechtigt. Wie bei Kommunalwahlen in anderen Bundesländern gab es auch diesmal einige zum Teil kurios wirkende Besonderheiten, die uns auffielen oder zu denen wir Anfragen erhielten. Im Folgenden machen wir exemplarisch Anmerkungen zu einer Mehrheitsumkehr in Lübeck, zu einem Losentscheid in Bargteheide, den eine Partei wohl gern verlieren würde, und zu einem besonders billigen Direktmandat in Flensburg. Die zugrundeliegenden Probleme sind allerdings nicht auf Schleswig-Holstein beschränkt.

Mehrheitsumkehr in Lübeck

In Lübeck haben SPD und Grüne bei einer Stimmenmehrheit nur eine Minderheit der Sitze in der Bürgerschaft bekommen. Wir nutzen die Gelegenheit, anhand dieses Beispiels zu zeigen, warum das auch bei einem Verfahren ohne systematische Verzerrung passieren kann. Das vorläufige Wahlergebnis lautet wie folgt:

Liste Stimmen Stimmenant. Idealanspr. Sitze Sitzanteil
SPD2169433,818 %16,5711632,653 %
CDU2053132,005 %15,6831632,653 %
Grüne1060516,532 %8,101816,327 %
BfL26024,056 %1,98824,082 %
Die Linke25223,931 %1,92624,082 %
FDP20293,163 %1,55024,082 %
Piraten17202,681 %1,31412,041 %
Freie Wähler9771,523 %0,74612,041 %
Die PARTEI8311,295 %0,63512,041 %
FUL4890,762 %0,37400,000 %
miteinander1490,232 %0,11400,000 %
Summe64149100,000 %49,00049100,000 %

Außerdem haben zwei Einzelbewerber, die für die Verhältniswahl keine Rolle spielen, zusammen 27 Stimmen bekommen. Genau genommen zählt auch die FUL nicht mit, weil ihre Liste nicht zugelassen worden ist. Sie war aber in allen Wahlkreisen wählbar; auch mit einer zugelassenen Liste hätte sie keinen Sitz bekommen (wenn sie dadurch keine zusätzlichen Wähler gewonnen hätte).

Wenn man sich anschaut, welche Koalitionen nach der Summe ihrer Stimmen eine Mehrheit der Wähler repräsentieren könnten, kommt man auf 11 mögliche minimale Mehrheiten, also Koalitionen, bei denen kein Partner wegfallen kann, ohne dass sie nach Stimmen zur Minderheit werden:

KoalitionVorsprungStimmenant.Idealanspr.SitzeSitzanteil
ACDU + Grüne + Freie Wähler7750,060 %24,5292551,020 %
BCDU + Grüne + Die PARTEI + miteinander8350,065 %24,5322551,020 %
CSPD + BfL + Die Linke + FDP + Piraten + Freie Wähler + FUL + miteinander21550,168 %24,5822448,980 %
DSPD + Grüne44950,350 %24,6712448,980 %
ESPD + BfL + Die Linke + FDP + Piraten + Freie Wähler + Die PARTEI60150,468 %24,7302551,020 %
FCDU + Grüne + Die PARTEI + FUL76350,595 %24,7912551,020 %
GCDU + Grüne + Piraten156351,218 %25,0972551,020 %
HCDU + Grüne + FDP218151,700 %25,3332653,061 %
ICDU + Grüne + Die Linke316752,468 %25,7102653,061 %
JCDU + Grüne + BfL332752,593 %25,7712653,061 %
KSPD + CDU2030165,823 %32,2533265,306 %

Sitzverteilungsverfahren sind im Allgemeinen blind dafür, welche Koalitionen politisch realistisch sind. Auch mit Listenverbindungen und Mehrheitsklauseln kann man allenfalls einige Konstellationen absichern, die beim tatsächlichen Wahlausgang dann aber eventuell alle nicht möglich sind. Ein Verfahren, das allen möglichen Koalitionen eine Priorität zuweist, wäre äußerst komplex; insbesondere beruht die Zuneigung verschiedener Listen zueinander nicht immer auf Gegenseitigkeit. Bei 11 Listen sind prinzipiell schon über 1000 Paare aus Mehrheit und Opposition möglich.

Wenn man nun versuchen wollte, eine Sitzverteilung zu finden, die allen diesen Stimmenmehrheiten auch eine Sitzmehrheit garantiert, müsste man wie folgt vorgehen: Zuerst zeigt sich, dass die Liste "miteinander" das Zünglein an der Waage sein kann. Wenn sie keinen Sitz bekommen würde, könnten nicht gleichzeitig die Koalitionen B und C eine Sitzmehrheit haben. Auch jede andere Liste kann so eine Rolle spielen. Koalition B hätte mit FUL statt "Die PARTEI" keine Stimmenmehrheit, also muss "Die PARTEI" mehr Sitze haben als FUL. Analog müssen wegen Koalition A die Freien Wähler mehr Sitze haben als "Die PARTEI". Bei Piraten, FDP, "Die Linke" und BfL reicht es hingegen, wenn sie mindestens genauso viele Sitze wie die Freien Wähler bekommen. Die Grünen müssen aber gleich mehr Sitze bekommen als die 6 mittleren Listen der Koalition C zusammen, weil sonst Koalition D keine Mehrheit haben könnte. Wegen Koalition K müssen CDU und SPD zusammen mehr Sitze haben als alle anderen Listen zusammen. Damit kommt man mindestens auf diese Sitzzahlen:

ListeStimmenStimmenant.Idealanspr.SitzeSitzanteil
SPD2169433,818 %24,6872027,397 %
CDU2053132,005 %23,3641723,288 %
Grüne1060516,532 %12,0681723,288 %
BfL26024,056 %2,96134,110 %
Die Linke25223,931 %2,87034,110 %
FDP20293,163 %2,30934,110 %
Piraten17202,681 %1,95734,110 %
Freie Wähler9771,523 %1,11234,110 %
Die PARTEI8311,295 %0,94622,740 %
FUL4890,762 %0,55611,370 %
miteinander1490,232 %0,17011,370 %
Summe64149100,000 %73,00073100,000 %

Damit hat jede der potenziellen minimalen Koalitionen genau eine 1-Sitz-Mehrheit. Trotz der vielen nötigen Sitze ist das Ergebnis allerdings nicht wirklich befriedigend. Natürlich kann man die starken Verzerrungen, die daraus resultieren, prinzipiell ausgleichen, aber für eine Sitzverteilung, die sowohl alle möglichen Mehrheiten abbildet als auch eine proportionale Verteilung nach Sainte-Laguë ist, sind hier mindestens 231 Sitze notwendig. Bei knapperen Mehrheiten könnten es noch sehr viel mehr sein.

Wenn man die FUL aus dem Verhältnisausgleich herauslässt, wie es real gerechnet wird, ist auch "miteinander" nicht mehr mehrheitsrelevant. Koalition C ist dann nicht möglich, und statt B und F haben CDU, Grüne und "Die PARTEI" allein eine Stimmenmehrheit. Eine Verteilung nach Sainte-Laguë würde dann schon bei 47 oder 51 Sitzen (nicht aber 49) alle Mehrheiten als solche abbilden.

Umgekehrter Losentscheid in Bargteheide

In Bargteheide geht es nicht direkt um die Mehrheit, aber die SPD muss darauf hoffen, den Losentscheid heute Abend zu verlieren, um in der Stadtvertretung und insbesondere in den Ausschüssen besser vertreten zu sein.

Bei diesem Losentscheid geht es um den unmittelbaren Vertreter in einem der 14 Wahlkreise. Im Wahlkreis 7 haben Sandra Harmuth von der CDU und Andreas Müller von der SPD beide 146 von 510 gültigen Stimmen (28,6 ⁠%) bekommen. Alle anderen Wahlkreise haben Bewerber der CDU gewonnen. Das Los entscheidet nun darüber, ob die CDU 2 oder 3 Überhangmandate hat. Es ergeben sich folgende Sitzverteilungen:

ListeStimmenStimmenant.Ohne ÜberhangSPD gewinnt LosentscheidCDU gewinnt Losentscheid
IdealSitzeSitzanteilIdealSitzeSitzanteilIdealSitzeSitzanteil
CDU281541,482 %11,2001140,741 %12,8601341,935 %13,6891442,424 %
SPD158923,416 %6,322622,222 %7,259722,581 %7,727824,242 %
Grüne103715,281 %4,126414,815 %4,737516,129 %5,043515,152 %
WfB93613,793 %3,724414,815 %4,276412,903 %4,552412,121 %
FDP4096,027 %1,62727,407 %1,86826,452 %1,98926,061 %
Summe6786100,000 %27,00027100,000 %31,00031100,000 %33,00033100,000 %

Für Andreas Müller persönlich ist das Ergebnis des Losentscheids zunächst egal: Er steht auf Platz 5 der SPD-Liste und hat damit seinen Sitz bereits sicher. Sandra Harmuth muss dagegen gewinnen, um einen Sitz zu bekommen. Sie steht auf Platz 12 der CDU-Liste, aber durch den Überhang zieht die Liste ohnehin nicht, womit ihr auch Platz 1 nicht helfen würde.

Wenn die SPD den Losentscheid verliert, gewinnt sie aber auch 6 Ausschusssitze zulasten der CDU hinzu. Nach der neuen Hauptsatzung, die am 1. Juni in Kraft tritt, werden 6 Ausschüsse gebildet, die alle 11 Sitze haben (wovon der Hauptausschuss bei der Wahrnehmung seiner gesetzlichen Aufgaben nur 7 Mitglieder hat). Die Verteilung der Ausschusssitze ist in Schleswig-Holstein gesetzlich geregelt, soweit sich nicht sämtliche Fraktionen anderweitig einigen; der Landtag hat am Ende der letzten Wahlperiode noch die Umstellung von D’Hondt auf Sainte-Laguë beschlossen, ebenso wie im Kommunalwahlrecht. Auch diese Änderung tritt am 1. Juni mit der neuen Wahlperiode in Kraft. Die beiden möglichen Sitzverteilungen in den Ausschüssen schauen so aus:

FraktionIdealOhne ÜberhangSPD gewinnt LosentscheidCDU gewinnt Losentscheid
Vertr.IdealSitzeAnteilVertr.IdealSitzeAnteilVertr.IdealSitzeAnteil
CDU4,563114,481436,364 %134,613545,455 %144,667436,364 %
SPD2,57662,444218,182 %72,484218,182 %82,667327,273 %
Grüne1,68141,630218,182 %51,774218,182 %51,667218,182 %
WfB1,51741,630218,182 %41,41919,091 %41,33319,091 %
FDP0,66320,81519,091 %20,71019,091 %20,66719,091 %
Summe11,0002711,00011100,000 %3111,00011100,000 %3311,00011100,000 %

Im nicht erweiterten Hauptausschuss ist die Sitzverteilung unabhängig vom Losentscheid. Nach der bisherigen Hauptsatzung haben 6 Ausschüsse jeweils 9 Sitze, die auch vom Losentscheid unabhängig gewesen wären (dazu ein 11er-Ausschuss und ein 7-köpfiger Unterausschuss). Im Prinzip könnte der Losentscheid auch Auswirkungen auf das Vorschlagsrecht für die Vorsitzenden der Ausschüsse haben; hier ändert sich jedoch im konkreten Fall nichts.

Update (29.05.2013, 20 Uhr): Den Losentscheid hat die SPD gewonnen.

Hier zeigt sich also, dass eine kleine Änderung im Wahlergebnis, und sei es nur ein Losentscheid, ganz massive Auswirkungen haben kann. Im Prinzip ist dazu kein Überhang notwendig; Ähnliches kann durch ein normales Patt in der Sitzverteilung passieren (wobei dann aber eine Liste von einem gewonnenen Losentscheid profitiert und nicht von einem verlorenen). Wesentlich milder wäre der Effekt, wenn die Sitzverteilung nicht für jeden Ausschuss einzeln vorgenommen würde, sondern für alle Ausschusssitze insgesamt:

FraktionNach StimmenzahlSPD gewinnt LosentscheidCDU gewinnt Losentscheid
StimmenIdealSitzeAnteilVertr.IdealSitzeAnteilVertr.IdealSitzeAnteil
CDU281527,3782740,909 %1327,6772842,424 %1428,0002842,424 %
SPD158915,4541624,242 %714,9031522,727 %816,0001624,242 %
Grüne103710,0861015,152 %510,6451116,667 %510,0001015,152 %
WfB9369,103913,636 %48,516812,121 %48,000812,121 %
FDP4093,97846,061 %24,25846,061 %24,00046,061 %
Summe678666,00066100,000 %3166,00066100,000 %3366,00066100,000 %

Da Sainte-Laguë mit den Höchstzahlen eine Zugriffsreihenfolge definiert, wäre auch klar, wer bestimmen kann, in welchem Ausschuss er vorrangig vertreten sein will (ähnlich wie bei den Zugriffen auf die Vorsitzenden). Dem setzt allerdings die Forderung nach Spiegelbildlichkeit in jedem Ausschuss Grenzen. Selbst wenn die von der Gemeindeordnung abweichende Besetzung der Ausschüsse nicht den Konsens aller Fraktionen erfordern würde, könnte hier wohl die FDP darauf bestehen, in jedem Ausschuss mit einem stimmberechtigten Mitglied vertreten zu sein.

Billiges Direktmandat in Flensburg

Bei der Wahl zur Ratsversammlung in Flensburg hat Arnold Söther das Direktmandat im Wahlkreis 13 mit rekordverdächtigen 18,8 ⁠% gewonnen. Er steht nur auf Platz 20 der CDU-Liste und wäre damit ohne den Wahlkreisgewinn chancenlos gewesen. Bettina Hub, die 5 Stimmen zurückliegt, hilft ihr Platz 8 auf der SPD-Liste nicht, da 3 Bewerber von weiter hinten ein Direktmandat gewonnen haben. Ähnlich ergeht es Benita von Brackel-Schmidt, die 15 Stimmen zurückliegt und ihren Platz 5 für einen erfolgreichen Wahlkreisbewerber der Grünen, der nicht auf der Liste aufgestellt war, räumen muss. Einen sicheren Listenplatz 2 hat dagegen der amtierende Stadtpräsident Christian Dewanger von der WiF gehabt; seine 10 Stimmen Rückstand schaden ihm nicht. Die Fünftplatzierte Susanne Frodermann hat bei 43 Stimmen Rückstand immerhin noch 15,3 ⁠% erreicht; sie steht nur auf dem chancenlosen 20. Platz der SSW-Liste. Hier hat es also ausnahmsweise ein sehr offenes Rennen im Wahlkreis gegeben, das auch tatsächlich Auswirkungen auf die Sitzverteilung gehabt hat.

ListeFlensburg insgesamtWahlkreis 13
StimmenAnteilSitzeStimmenAnteilBewerber
CDU587522,067 %1022918,848 %Arnold Söther
SPD550720,685 %922418,436 %Bettina Hub
SSW506819,036 %818615,309 %Susanne Frodermann
WiF400215,032 %621918,025 %Christian Dewanger
Grüne332512,489 %521417,613 %Benita von Brackel-Schmidt
FDP10954,113 %2403,292 %Olaf Classen
Die Linke9833,692 %2736,008 %Bernd Junge
Flensburg wählen!7682,885 %1302,469 %Regina Ryl
Summe26623100,000 %431215100,000 %

Außerhalb vom Verhältnisausgleich steht noch ein Einzelbewerber mit 4 Stimmen. Die Sitzverteilung ist auch insgesamt sehr knapp. Wenn im Wahlkreis 13 die CDU 11 Stimmen an die WiF verloren hätte, hätte das nicht nur Arnold Söther, sondern auch der CDU insgesamt einen Sitz gekostet; profitiert hätte Susanne Rode-Kuhlig auf Platz 7 der WiF-Liste. Bei 6 bis 10 Stimmen Verlust würde statt Arnold Söther Gabriele Stappert Ratsmitglied der CDU (falls Christoph Meißner, der schon vor der Wahl seinen Rückzug angekündigt hat, aber seinen Wahlkreis gewonnen hat, seine Wahl ablehnt, rückt sie ohnehin nach; profitieren würde dann Max Stark von Platz 8 der CDU-Liste).

Im Wahlkreis 17 liegt Tina Kuhlei von der CDU um 12 Stimmen zurück. Wenn sie gewonnen hätte, hätte die CDU ein Überhangmandat, auch wenn Christoph Meißner die Wahl nicht annimmt und die Sitze der CDU somit für alle wirklich gewählten Direktkandidaten reichen würden. Für die CDU wäre das aber nicht vorteilhaft, weil damit Ausgleichsmandate für SPD, SSW, WiF und Grüne fällig würden und ihr Mandatsanteil damit sinkt.

Für die Legitimation der Gewählten ist es nicht besonders förderlich, wenn ein Direktkandidat 81 ⁠% der Wähler gegen sich hat. Bei 5 ähnlich gleich starken (oder vielmehr schwachen) Parteien kommt die Mehrheitswahl an ihre Grenzen, auch wenn sie wie hier nur zur innerparteilichen Selektion genutzt wird (abgesehen von Überhangeffekten). Auch bei der Bundestagswahl war zuletzt der billigste Wahlkreis mit 26,0 ⁠% zu haben (Berlin-Mitte). Man muss allerdings sagen, dass es auch bei manchen Systemen mit offenen Listen vorkommt, dass Gewählte vergleichbar schwach legitimiert sind, weil sich die Masse der Stimmen auf zu wenige Kandidaten konzentriert.


von Andreas Schneider (29.05.2013)