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28.09.2009, Nachtrag: 16.10.2009

Schleswig-Holstein: Rechtsstreit um Schwarz-Gelbe Mehrheit droht

Was sich bereits im Vorfeld der schleswig-holsteinischen Landtagswahl abgezeichnet hatte – siehe unsere Meldung vom 15. September 2009 –, ist nun tatsächlich eingetreten: Ob Schwarz-Gelb eine Mehrheit im Landtag hat, hängt von der Interpretation des Wahlgesetzes ab.

Ausgangspunkt ist die Verteilung der regulär 69 Sitze des Landtags auf die Parteien nach dem Divisorverfahren mit Abrundung (d’Hondt). Berücksichtigt werden dabei nur jene Parteien, die mindestens fünf Prozent der gültigen Zweitstimmen erreicht haben. Der SSW als Partei der dänischen (und friesischen) Minderheit ist von der Fünfprozenthürde ausgenommen.

  Zweitstimmen % Sitze
von 69
Direkt-
mandate
Überhang-
mandate
   CDU503.59231,5 233411
   SPD406.21525,4 196
   FDP238.56814,9 11
   GRÜNE198.56312,4 9
   SSW69.4384,3 3
   NPD14.9770,9
   FAMILIE12.3060,8
   DIE LINKE95.2386,0 4
   FW-SH16.3831,0
   IPD8580,1
   PIRATEN28.7401,8
   RRP2.4640,2
   RENTNER10.1320,6

Hiernach erhält die CDU 23 der 69 Sitze. Gleichzeitig konnte Sie jedoch in 34 der 40 Wahlkreise ein Direktmandat erringen. Was mit den sich daraus ergebenden 11 Überhangmandaten geschieht, regelt das Landeswahlgesetz in § 3 Absatz 5:

Ist die Anzahl der in den Wahlkreisen für eine Partei gewählten Bewerberinnen und Bewerber größer als ihr verhältnismäßiger Sitzanteil, so verbleiben ihr die darüber hinausgehenden Sitze (Mehrsitze). In diesem Fall sind auf die nach Absatz 3 Satz 2 und 3 noch nicht berücksichtigten nächstfolgenden Höchstzahlen so lange weitere Sitze zu verteilen und nach Absatz 3 zu besetzen, bis der letzte Mehrsitz durch den verhältnismäßigen Sitzanteil gedeckt ist. Die Anzahl der weiteren Sitze darf dabei jedoch das Doppelte der Anzahl der Mehrsitze nicht übersteigen. Ist die nach den Sätzen 1 bis 3 erhöhte Gesamtsitzzahl eine gerade Zahl, so wird auf die noch nicht berücksichtigte nächstfolgende Höchstzahl ein zusätzlicher Sitz vergeben.

Für die Überhangmandate („Mehrsitze“) der CDU erhalten die anderen Parteien also Ausgleichsmandate. Deren Zahl wird allerdings durch Satz 3 (fett) der Höhe nach begrenzt. Umstritten ist nun das Ausmaß dieser Begrenzung.

Auslegung der Landeswahlleiterin

Nach der Interpretation der Landeswahlleiterin ist mit „Anzahl der weiteren Sitze“ nicht nur die Zahl der Ausgleichsmandate gemeint, sondern auch die der Überhangmandate. Die Landeswahlleiterin kann sich dabei auf jüngere Entscheidungen des Verwaltungsgerichts und des Oberverwaltungsgerichts zur insoweit identischen Rechtslage im schleswig-holsteinischen Kommunalwahlrecht berufen. Kern der Argumentation der Gerichte ist, dass nach Satz 2 die „weiteren Sitze“ auf die „noch nicht berücksichtigten nächstfolgenden Höchstzahlen“ zu verteilen sind und hierzu auch die Höchstzahlen der überhängenden Partei zählten, da man sonst nicht wüsste, wann „der letzte Mehrsitz durch den verhältnismäßigen Sitzanteil gedeckt ist“. Demnach wäre die Verteilung von Ausgleichsmandaten nach Satz 2 spätestens abzubrechen, sobald sich die reguläre Sitzzahl von 69 um das Doppelte der Anzahl der Überhangmandate vergrößert hat. Da die CDU elf Überhangmandate erzielt hat, hat die Landeswahlleiterin die Verteilung der Ausgleichsmandate bei insgesamt 91 Sitzen beendet. Bei dieser Sitzzahl erreicht die CDU jedoch nur 31 Sitze, so dass drei Direktmandate als ungedeckte Überhangmandate verbleiben. Die sich hiernach ergebende Gesamtsitzzahl von 94 ist schließlich um einen weiteren Sitz zu erhöhen, um eine ungerade Sitzzahl zu gewährleisten (Satz 4).

Sitzverteilung nach Auslegung der Landeswahlleiterin

* In unserer Meldung vom 15. September 2009 hatten wir die Berechnung der Ausgleichsmandate beim „kleinen Ausgleich“ bereits abgebrochen, sobald die Zahl der weiteren Sitze einschließlich der ungedeckten Überhangmandate das Doppelte der Zahl der Überhangmandate erreicht hatte. Da § 3 Abs. 5 Satz 2 LWahlG aber die „weiteren Sitze“ als solche definiert, die auf d’Hondtsche Höchstzahlen „verteilt“ werden, ungedeckte Überhangmandate aber eben nicht nach d’Hondt verteilt werden, erscheint die Vorgehensweise der Landeswahlleiterin konsequent, die ungedeckten Überhangmandate erst anschließend auf die erhöhte Sitzzahl aufzuschlagen.

 
  CDU FDP SPD GRÜNE LINKE SSW Gesamt
Sitze ohne Überhangmandate 23 11 19 9 4 3 69
34 35 69
Direktmandate 34 6 40
Überhangmandate 11 11
 
Ausgleichsmandate* (8) 3 6 3 1 1 22
11 11 22
Sitze nach Ausgleich 31 14 25 12 5 4 91
45 46 91
 
ungedeckte Überhangmandate 3 3
Sitze inkl. ungedeckter Überh. 34 14 25 12 5 4 94
48 46 94
Sitz nach § 3 Abs. 5 Satz 4 1 1
Sitze insgesamt 34 15 25 12 5 4 95
49 46 95
 

Laut Landeswahlleiterin kommen CDU und FDP also auf eine Mehrheit von 49:46 Sitzen, obwohl sie nur 46,5 % der Zweitstimmen erhalten haben, während auf SPD, GRÜNE, DIE LINKE und dem SSW zusammen immerhin 48,2 % der Zweitstimmen entfallen.

Verfassungskonforme Auslegung

Auch wenn die Auslegung der Landeswahlleiterin mit dem Gesetzeswortlaut und der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung vereinbar sein mag, so ist sie doch rechtlich höchst fragwürdig. Anders als im Kommunalwahlrecht schreibt nämlich Artikel 10 Absatz 2 der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein Ausgleichsmandate für Landtagswahlen ausdrücklich vor und erwähnt dabei keinerlei Begrenzung:

Der Landtag besteht aus fünfundsiebzig Abgeordneten. Ab der 16. Wahlperiode besteht der Landtag aus neunundsechzig Abgeordneten. Sie werden nach einem Verfahren gewählt, das die Persönlichkeitswahl mit den Grundsätzen der Verhältniswahl verbindet. Die in Satz 1 genannte Zahl ändert sich nur, wenn Überhang- oder Ausgleichsmandate entstehen oder wenn Sitze leer bleiben. Das Nähere regelt ein Gesetz, das für den Fall des Entstehens von Überhangmandaten Ausgleichsmandate vorsehen muss.

Nun führt die Auslegung der Landeswahlleiterin aber ja dazu, dass drei Überhangmandate der CDU ungedeckt bleiben, für sie also gerade keine Ausgleichsmandate vorgesehen sind. Die in § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG vorgesehene Begrenzung der Ausgleichsmandate ist daher möglicherweise verfassungswidrig. Im vorliegenden Fall würde es aber ausreichen, die Vorschrift verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass man unter „weitere Sitze“ nur die Zahl der Ausgleichsmandate versteht. Dann wären doppelt so viele Ausgleichs- wie Überhangmandate möglich, was für einen vollen Ausgleich aller CDU-Überhangmandate ausreichen würde:

Sitzverteilung nach verfassungskonformer Auslegung
 
  CDU FDP SPD GRÜNE LINKE SSW Gesamt
Sitze ohne Überhangmandate 23 11 19 9 4 3 69
34 35 69
Direktmandate 34 6 40
Überhangmandate 11 11
 
Überhang- und Ausgleichsmandate (11) 5 8 4 2 1 31
16 15 31
Sitze nach Ausgleich 34 16 27 13 6 4 91
50 50 100
Sitz nach § 3 Abs. 5 Satz 4 1 1
Sitze insgesamt 34 16 28 13 6 4 101
50 51 101

Landeswahlausschuss entscheidet

Noch ist offen, welcher Auslegung sich der aus Sicht von Schwarz-Gelb ungünstig zusammengesetzte Landeswahlausschuss anschließt. SPD, GRÜNE, DIE LINKE und der SSW haben die Möglichkeit, mit ihrer Mehrheit im Ausschuss Schwarz-Gelb zu verhindern. Denkbare Koalitionen wären dann unter anderem CDU/FDP/GRÜNE (63:38 Sitze), CDU/FDP/SSW (54:47) und CDU/GRÜNE/SSW (51:50). Wann der Landeswahlausschuss zusammentreten wird, um das amtliche Endergebnis der Landtagswahl festzustellen, steht noch nicht fest. Ohnehin ist davon auszugehen, dass der Fall erst vom Schleswig-Holsteinischen Landesverfassungsgericht abschließend entschieden werden wird, da der Weg dorthin nicht nur den betroffenen Parteien offen steht, sondern jedem einzelnen Wahlberechtigten.

Nachtrag (28.09.2009, 19:45 Uhr):

Der SSW hat heute Nachmittag bekanntgegeben, dass sein Vertreter im Landeswahlausschuss die Auslegung der Landeswahlleiterin akzeptieren werde, sofern es klare Signale der anderen Fraktionen gebe, das Landeswahlgesetz zur nächsten Wahl gemeinsam zu ändern. Nach Ansicht der SSW-Spitzenkandidatin Spoorendonk dürfe diese hochbrisante Frage nicht vom Landeswahlausschuss oder von einem Gericht entschieden werden. Es sei der Öffentlichkeit nicht vermittelbar, wenn die Sitzverteilung vom Landeswahlausschuss nachträglich verändert werde.

Die Partei DIE LINKE hat bereits angekündigt, die Sitzverteilung notfalls vor dem Landesverfassungsgericht anzufechten. SPD und GRÜNE haben sich zwar kritisch zur Mehrheitsumkehr bei der Sitzverteilung geäußert, aber ihr Abstimmverhalten im Landeswahlausschuss noch nicht festgelegt.

Sollte sich der SSW im siebenköpfigen Landeswahlausschuss der Stimme enthalten und sich dadurch ein 3:3 ergeben, gäbe die Stimme der Landeswahlleiterin den Ausschlag.

Nachtrag (12.10.2009):

Der SSW hat angekündigt, dass sich sein Vertreter im Landeswahlausschuss am 16. Oktober der Stimme enthalten werde. Die CDU habe trotz mehrfacher Bitte des SSW nicht verlässlich zusagen wollen, dass sie eine Wahlgesetzänderung herbeiführen wird, bei der die Zahl der Wahlkreise deutlich reduziert und das d’Hondtsche Höchstzahlverfahren durch ein gerechteres Sitzzuteilungsverfahren ersetzt wird.

Darüber hinaus wollen GRÜNE und SSW gemeinsam ein Normenkontrollverfahren beim Schleswig-Holsteinischen Landesverfassungsgerichts über die Frage anstrengen, ob die Deckelung von Ausgleichsmandaten mit der Verfassung vereinbar ist. Sollte das Gericht den beiden Fraktionen recht geben, hätte dies aber keine unmittelbare Auswirkung auf die Gültigkeit der Sitzverteilung im Landtag. Sofern zum Zeitpunkt der Entscheidung des Landesverfassungsgerichts der Landtag das Wahlprüfungsverfahren noch nicht abgeschlossen hat, wäre er allerdings verpflichtet, die Entscheidung des Gerichts umzusetzen. Das Landesverfassungsgericht selbst kann eine andere Sitzverteilung im neuen Landtag nur auf eine Wahlprüfungsbeschwerde hin anordnen, nicht aber aufgrund eines Normenkontrollverfahrens.

Nachtrag (16.10.2009, 14:28 Uhr):

Der Landeswahlausschuss hat die Sitzverteilung des vorläufigen Ergebnisses in seiner heutigen Sitzung bestätigt und als endgültiges Ergebnis der Landtagswahl 2009 in Schleswig-Holstein mit 3:2 Stimmen festgestellt (mit den Stimmen der Landeswahlleiterin und der Vertreter von CDU und FDP gegen die Stimmen der Vertreter der GRÜNEN und der Partei DIE LINKE bei Enthaltung von SPD und SSW).

Den von den GRÜNEN und dem SSW am 15. Oktober zusammen mit dem Normenkontrollantrag der Ausgleichsmandatsregelung im Landeswahlgesetz eingereichten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hatte das Landesverfassungsgericht noch am gleichen Tag als unzulässig zurückgewiesen – LVerfG 4/09 – (Beschluss im Volltext).


von Wilko Zicht (28.09.2009, letzte Aktualisierung: 16.10.2009)