Bundeswahlleiter

[Dokumente]

Schreiben an den Berichterstatter des Bundesverfassungsgerichts

vom 9. Dezember 2004

W 19/00

„Berliner Zweitstimmen“


Informationen zur Entscheidung, Bundestagsbeschluss zum Wahleinspruch, Entscheidungen 2000–heute

[Seite 1] Betreff: Wahlprüfungsbeschwerden gegen die Berücksichtigung so genannter „Berliner Zweitstimmen“

Bezug: Ihr Schreiben vom 17.11.04 – 2 BvC 5/03 u.a. –
Anlagen: – 5 –
Sehr geehrter Herr Dr. Jentsch,
vielen Dank für Ihr o. a. Schreiben im Zusammenhang mit den Wahlprüfungsbeschwerden gegen die Berücksichtigung sog. „Berliner Zweitstimmen“ bei der Wahl des 15. Deutschen Bundestages am 22. September 2002. Sie haben darin um Stellungnahme gebeten, ob die von den Wahlprüfungsbeschwerden angefochtene Berücksichtigung der Zweitstimmen von den Wählern, die in den Berliner Wahlkreisen 86 und 87 ihre Erststimme für die dort erfolgreichen Wahlkreisbewerberinnen der PDS abgegeben und mit ihrer Zweitstimme für eine andere jetzt im Deutschen Bundestag vertretene Partei gestimmt hatten, bei der Feststellung des amtlichen Endergebnisses mandatserheblich war. 1
Zu dieser Ihrer Fragestellung darf ich Ihnen folgendes mitteilen: 2
1. Als nach der letzten Bundestagswahl in den beiden Berliner Wahlkreisen 86 und 87 Bewerberinnen der PDS die Mehrheit der Erststimmen erhalten, die PDS selbst aber die sog. Sperrklausel des § 6 Abs. 6 BWG nicht überwunden hatten, stellte sich die – seither im Schrifttum streitig erörterte – Frage, ob die Zweitstimmen derjenigen Wähler, die in beiden Wahlkreisen mit ihrer Erststimme die erfolgreichen PDS-Bewerberinnen gewählt hatten, bei der Ermittlung des Zweitstimmenergebnisses und damit des Wahlergebnisses insgesamt mitgezählt werden durften. 3
Unbeschadet der späteren, Ihnen bekannten Entscheidung des Bundeswahlausschusses, der sich auf der Grundlage des geltenden § 6 BWG für ein „Mitzählen“ entschieden hat, habe ich seiner Zeit den Berliner Landeswahlleiter gebeten, die Stimmzettel in den beiden Wahlkreisen für [Seite 2] eine möglicherweise notwendig werdende Nachzählung zusichern und aufzubewahren. Auf Grund der Rechtsauffassung des Bundeswahlausschusses ist eine solche Nachzählung bislang unterblieben. 4
2. Im Zusammenhang mit den beim Deutschen Bundestag dann eingelegten Wahlprüfungsbeschwerden habe ich eine Modellrechnung durchgeführt und mit Schreiben vom 10.12.2002 dem Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages zugeleitet (Anlage 1). Da auf die PDS in den Wahlkreisen 86 und 87 erheblich weniger Zweitstimmen als Erststimmen entfallen waren (insgesamt 29 257 weniger Zweitstimmen als Erststimmen), ging diese Modellrechnung von der Annahme aus, dass die Wähler, welche in den beiden Wahlkreisen mit ihren Erststimmen den PDS-Wahlkreisbewerberinnen zum Erfolg verhalfen, in erheblichem Umfang ihre Stimmen „gesplittet“, d. h. ihre Zweitstimmen den anderen in den beiden Wahlkreisen konkurrierenden Parteien gegeben haben. Die Modellrechnung
  • betrachtet dann (spiegelbildlich), welche Landeslisten in beiden Wahlkreisen mehr Zweitstimmen als Erststimmen erzielten,
  • unterstellt, dass die Differenzen zwischen Erst- und Zweitstimmen auf solche Wähler zurückzuführen sind, die mit ihren Erststimmen die beiden Bewerberinnen der PDS gewählt haben,
und
  • lässt Zweitstimmen in der Größe dieser Differenzen bei den übrigen Landeslisten außer Betracht.
5
Eine solche Modellrechnung hat gezeigt, dass eine mit den so ermittelten Wahlergebnissen durchgeführte Verteilungsrechnung nach Niemeyer keine Veränderungen bei der Sitzverteilung im Bundestag ergibt. 6
Allerdings gibt eine so durchgeführte Modellrechnung nur Anhaltspunkte und vermag keine sichere Aussage über die Mandatsrelevanz der vom Bundeswahlausschuss vorgenommenen Berücksichtigung der auf andere Landeslisten entfallenen Zweitstimmen der Wähler, die mit ihren Erststimmen die PDS-Bewerberinnen gewählt haben, zu treffen. Denn die Modellrechnung beruht lediglich auf Annahmen zum Wahlverhalten der Wählerinnen und Wähler i. S. einer Stimmensplittings in den beiden Wahlkreisen. 7
3. Auf Grund Ihrer Anfrage habe ich jetzt Modellrechnungen durchgeführt, um festzustellen, ab welcher Höhe ein Zweitstimmenabzug bei den Landeslisten der im 15. Deutschen Bundestag vertretenen Parteien, d. h. von SPD, CDU, GRÜNEN und FDP (mit Ausnahme der CSU) jeweils mandatsrelevant wäre. Diese Modellrechnungen haben Folgendes ergeben: 8
– SPD (Anlage 2): Der Abzug von mindestens 59 393 Zweitstimmen bei der Landesliste der SPD für Berlin führt dazu, dass die SPD bei der Verteilung der Zweitstimmen auf die Listenverbindungen („Oberverteilung“) einen Sitz weniger (246 statt 247 Sitze) [Seite 3] erhält. Die Gesamtzahl der Sitze der SPD (einschließlich Überhangmandate) von 251 würde sich indessen nicht ändern, da die SPD bei Verteilung ihrer 246 Mandate auf ihre Landeslisten („Unterverteilung“) einen Sitz weniger (8 Sitze) für ihre Landesliste in Berlin, aber infolge der dort errungenen neun Wahlkreissitze ein zusätzliches Überhangmandat erhielte. Der Sitzverlust der SPD nach Zweitstimmen führt aber zu einem zusätzlichen Sitz der CDU (Landesliste Brandenburg), die daher nach Zweitstimmen 190 (statt 189) Sitze und mit dem Überhangmandat in Sachsen 191 (statt 190) Sitze erreicht, so dass sich von daher Mandatsrelevanz ergibt. 9
Verringert man die Zweitstimmen der SPD in Berlin um Werte zwischen 53 997 und 59 392, erhielte die SPD bei der „Oberverteilung“ weiterhin 247 Sitze. Bei der „Unterverteilung“ führte dies aber zu einem mandatserheblichen Verlust eines Landeslistensitzes in Berlin (8 statt 9 Sitze) zugunsten ihrer Landesliste in Bremen (3 statt 2 Sitze). Die SPD bekäme dann insgesamt 252 Sitze, da sie – siehe oben – in Berlin ein zusätzliches Überhangmandat erhielte. 10
– CDU (Anlage 3): Reduziert man die Zweitstimmen der CDU in Berlin um mindestens 87 372, erhielte die CDU bei der „Oberverteilung“ einen Sitz weniger (188 statt 189, mit dem Überhangmandat in Sachsen 189 statt 190). Der Sitz fiele der SPD zu (nach Zweitstimmen 248 statt 247 Sitze, mit Überhangmandaten 252 statt 251 Sitze). 11
Liegt der Zweitstimmenabzug zwischen 69 557 und 87 371 ergeben sich für die „Oberverteilung“ keine Änderungen, wohl aber bei der „Unterverteilung“, weil ihre Landesliste Berlin (5 statt 6 Sitze) einen Sitz zugunsten der Landesliste Brandenburg (5 statt 4 Sitze) verlöre. 12
– GRÜNE (Anlage 4): Der Abzug von mindestens 40 589 Zweitstimmen bei der Landesliste der GRÜNEN in Berlin führte bei der „Oberverteilung“ zu einem Sitzverlust der GRÜNEN (54 statt 55 Sitze) und zwar bei gleichzeitigem Sitzgewinn für die CDU (190 statt 189, mit dem Überhangmandat in Sachsen 191 statt 190 Sitze). Reduzierte man die Zweitstimmen der GRÜNEN in Berlin um Werte zwischen 20 138 und 40 588, ändert sich die „Oberverteilung“ nicht. Bei der „Unterverteilung“ ergäbe sich Mandatserheblichkeit, weil die Landesliste Berlin der GRÜNEN (3 statt 4 Sitze) einen Sitz zugunsten ihrer Landesliste Bayern (8 statt 7 Sitze) verlöre. 13
Würden die Zweitstimmen der GRÜNEN in Berlin um 20 137 verringert, so ergäbe sich ebenfalls ein Sitzverlust für deren Landesliste Berlin. Für die Landeslisten Bayern und Rheinland-Pfalz ergäben sich gleiche Zahlenbruchteile. Nach § 7 Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit § 6 Abs. 2 Satz 5 BWG würde bei gleichen Zahlenbruchteilen das vom Bundeswahlleiter zu ziehende Los entscheiden. Zur [Seite 4] Darstellung in der beigefügten Tabelle wurde der Sitz der Landesliste Bayern zugeteilt. 14
Lägen die abzuziehenden Zweitstimmen zwischen 8 790 und 20 136, verlöre die Landesliste Berlin der GRÜNEN einen Sitz zugunsten ihrer Landesliste Rheinland-Pfalz (3 statt 2 Sitze). 15
– FDP (Anlage 5): Die FDP erhielte bei der „Oberverteilung“ einen Sitz weniger, wenn ihrer Landesliste in Berlin mindestens 62 241 Zweitstimmen abgezogen würden. Der Sitz fiele der CDU zu (190 statt 189, mit dem Überhangmandat in Sachsen 191 statt 190 Sitze). 16
Bei einem Zweitstimmenabzug zwischen 11 299 und 62 240 Stimmen ergäben sich bei der „Oberverteilung“ keine Änderungen. Die „Unterverteilung“ führte zum Verlust eines FDP-Landeslistensitzes in Berlin (1 statt 2 Sitze) zugunsten der FDP-Landesliste Sachsen (3 statt 2 Sitze). 17
Diese Modellrechnungen zeigen aus meiner Sicht: Da die beiden PDS-Bewerberinnen in den Wahlkreisen 86 und 87 bei der Bundestagswahl 2002 insgesamt 109 857 Erststimmen erhalten haben, lässt sich bei Nichtberücksichtigung der Zweitstimmen der Wähler der PDS-Bewerberinnen bei den Landeslisten von SPD, CDU, GRÜNEN und FDP in Berlin eine Mandatsrelevanz nicht von vornherein ausschließen. Es wird zur eindeutigen Klärung der Mandatsrelevanz der von Ihnen gestellten Frage deshalb zu ermitteln sein, für welche Landeslisten in Berlin die Erststimmenwähler für die beiden PDS-Bewerberinnen mit ihren Zweitstimmen votiert haben. 18
Daher habe ich den Landeswahlleiter Berlin gebeten, in beiden Wahlkreisen durch die Kreiswahlleiter eine entsprechende Auszählung vornehmen zu lassen. In Anlehnung an die Ausführungen des Verfassungsgerichtshofes NRW in seinem Urteil vom 19. März 1991 (NVwZ 1991, 1175, 1179 f.) habe ich ergänzend darum gebeten, dass die Auszählungen öffentlich erfolgen und dass darauf vor deren Beginn durch eine öffentliche Bekanntmachung in Berlin hingewiesen wird. Über das Ergebnis werde ich Sie unterrichten, sobald es mir vorliegt. 19
Mit freundlichen Grüßen
Johann Hahlen

 


eingetragen von Matthias Cantow