Bundesverfassungsgericht

[Wahlprüfung]

Berichterstatterschreiben vom 9. Dezember 2004

2 BvC 11/04

 

„Negatives Stimmgewicht“


Informationen Informationen zur Entscheidung, Bundestagsbeschluss zum Wahleinspruch, Entscheidungen 2000–heute

[Seite 1] Ihre Wahlprüfungsbeschwerde vom 6. Januar 2004

Sehr geehrte Frau C...,
es bestehen Bedenken gegen die Erfolgsaussichten Ihrer o.a. Wahlprüfungsbeschwerde. 1
Das von Ihnen gerügte Phänomen des so genannten „negativen Erfolgswerts“ von Zweitstimmen, das infolge der von § 6 Abs. 5 BWG vorgesehenen Möglichkeit des Entstehens von Überhangmandaten sowie des in § 6 Abs. 2 BWG festgelegten Sitzzuteilungsverfahrens nach Hare-Niemeyer auftreten kann, begründet keinen Wahlfehler. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat im Hinblick auf den Grundsatz der Gleichheit der Wahl bereits festgestellt, dass sowohl die Entscheidung des Wahlgesetzgebers, das Auftreten ausgleichsloser Überhangmandate zuzulassen, als auch seine Entscheidung für das Sitzzuteilungsverfahren nach Hare-Niemeyer mit Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG vereinbar ist (1.). Das Phänomen des „negativen Erfolgswertes“ ist eine systemimmanente Folge dieser gesetzgeberischen Entscheidungen und als solche verfassungsrechtlich gerechtfertigt (2.). Dies gilt sodann auch im Hinblick auf die Grundsätze der Unmittelbarkeit und der Freiheit der Wahl (3.). 2
[Seite 2] 1. a.) Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 10. April 1997 (Az. 2 BvF 1/95, BVerfGE 95, 335 <348–367>) ausgesprochen, dass das Auftreten von Überhangmandaten den Grundsatz der Wahlgleichheit nicht verletzt. 3
Gemäß Art. 38 Abs. 3 GG ist die Festlegung des Wahlsystems und des Wahlverfahrens grundsätzlich Sache des Gesetzgebers (vgl. BVerfGE 59, 119 <124>). Zwar hat das Bundesverfassungsgericht im Verfahren der Wahlprüfungsbeschwerde neben der zutreffenden Anwendung der in Kraft befindlichen Vorschriften des Wahlrechts auch dessen Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen (vgl. BVerfGE 16, 130 <135 f>; 21, 200 <204>; 59, 119 <124>), wofür insbesondere die Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG den Maßstab bilden. Angesichts des Gestaltungsspielraums, der dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wahlrechts von Verfassungs wegen zukommt, beschränkt sich die verfassungsgerichtliche Kontrolle indes darauf, ob der Gesetzgeber sich in den Grenzen dieser Gestaltungsfreiheit gehalten oder durch deren Überschreitung gegen einen verfassungskräftigen Wahlgrundsatz verstoßen hat. Dagegen ist es nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts zu prüfen, ob der Gesetzgeber innerhalb seines Ermessensbereichs zweckmäßige oder rechtspolitisch erwünschte Lösungen gefunden hat (vgl. BVerfGE 59, 119 <124 f>; 95, 408 <420>). 4
Nach diesen Maßgaben verstößt die von § 6 Abs. 5 BWG vorgesehene Möglichkeit des Auftretens von Überhangmandaten weder gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG) noch den Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien (Art. 21 Abs. 1 GG). Insoweit hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 10. April 1997 ausgeführt (BVerfGE 95, 335 <356 f>): 5
Die Verbindung der Verhältniswahl mit Elementen der Mehrheitswahl führt dazu, daß die Abrechnung der unmittelbar errungenen Mandate nicht stets einen vollen Ausgleich der Sitzverteilung im Sinne des Proporzes bewirken kann und soll. Der Gesetzgeber hat in § 6 Abs. 5 Satz 1 BWG klargestellt, daß die im jeweiligen Land in den Wahlkreisen errungenen Sitze einer Partei verbleiben. Dadurch erhöht sich die Gesamtzahl der Mitglieder des Bundestages entsprechend (§ 6 Abs. 5 Satz 2 BWG). ... Dieses Ergebnis hält der Gesetzgeber auch bei den Listenverbindungen aufrecht; die Verteilungsgrundsätze gelten dort gemäß § 7 Abs. 3 Satz 2 BWG entsprechend. Überhangmandate entstehen mithin als Folge der gesetzgeberischen Entscheidung, daß Wahlkreismandate auf die Sitze der Landesliste verrechnet werden sollen, die unterschiedlichen Wahlerfolge der Direktwahl und der Listenwahl im Land jedoch eine solche Verrechnung nicht stets (voll) zulassen. Damit hat der Gesetzgeber den Proporz nach Zweitstimmen nicht zum ausschließlichen Verteilungssystem erhoben. Das Wahlsystem ist darauf angelegt, daß die Ergebnisse der vorgeschalteten Mehrheitswahl erhalten bleiben. Der in § 6 Abs. 4 BWG angeordnete Verhältnisausgleich geht nur soweit, als er die durch die Mehrheitswahl errungenen Mandate aufnehmen kann. Der Gesetzgeber hat die Verhältniswahl von vornherein mit Elementen der Mehrheitswahl verbunden, die nicht nur für die personelle Auswahl unter den [Seite 3] Wahlkreiskandidaten von Bedeutung sind, sondern auch infolge der systembedingten Möglichkeit des Anfalls von Überhangmandaten die parteipolitische Zusammensetzung des Bundestages beeinflussen können. Tatsächlich sind bei neun der insgesamt dreizehn Wahlen zum Deutschen Bundestag, nämlich 1949, 1953, 1957, 1961, 1980, 1983, 1987, 1990 und 1994, Überhangmandate angefallen. Der Gesetzgeber hat sich gleichwohl nicht veranlaßt gesehen, das Entstehen von Überhangmandaten durch eine andere Regelung zu vermeiden oder in irgendeiner Weise deren Wirkung (voll) zu neutralisieren. Er hat mithin den Anfall von Überhangmandaten als Teilelement des von ihm im Bundeswahlgesetz normierten personalisierten Verhältniswahlsystems anerkannt. Demgemäß findet jeder Wähler in der Wahl das Angebot vor, mit seinen Stimmen über die Vergabe eines Wahlkreismandates unter den Bedingungen einer relativen Mehrheitswahl und die Unterstützung einer Liste unter den Bedingungen der Verhältniswahl zu bestimmen. Während jedoch für jeden der 328 Wahlkreise ein Abgeordneter direkt gewählt wird, der als solcher schon aufgrund der Auszählung der Stimmen als Mitglied des Bundestages legitimiert ist, werden die Listenmandate erst im Wege des oben beschriebenen mathematischen Sitzzuteilungsverfahrens zugeteilt, freilich mit der Maßgabe, daß die von Parteikandidaten errungenen Direktmandate soweit möglich von den derselben Partei innerhalb des Landes zugeteilten Listenmandaten abgerechnet werden. Übersteigt die Anzahl der Wahlkreismandate die Zahl der zugeteilten Sitze, ergeben sich Überhangmandate. Überhangmandate sind danach keine den Parteien außerhalb des Proporzes zugeteilten Landeslistenmandate, sondern Direktmandate (vgl. auch Art. 43 Abs. 2 Satz 1 BayLWG).
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Auch wenn die Bundestagswahl den Grundcharakter einer Verhältniswahl trägt (vgl. BVerfGE 6, 84 <90>; 13, 127 <129>; 16, 130 <139>; 66, 291 <304>; 95, 335 <358>) und das Wahlrecht daher grundsätzlich den spezifischen Anforderungen zu genügen hat, die der Grundsatz der Gleichheit der Wahl unter den Bedingungen der Verhältniswahl an die Erfolgswertgleichheit aller abgegebenen Stimmen stellt (vgl. BVerfGE 1, 208 <246 f>; 6, 84 <90>; 7, 63 <70>; 16, 130 <138 f>; 95, 335 <353 f. u. 358>; stRspr), kommt der Erfolgswertgleichheit angesichts der vorstehend dargestellten Entscheidung des Gesetzgebers für ein Wahlsystem, demzufolge die Hälfte der Abgeordneten in den Wahlkreisen, die andere Hälfte über Parteilisten – und zwar vorgeschaltet vor den Verhältnisausgleich – gewählt wird, nur eine von vornherein begrenzte Tragweite zu. Die Rechtfertigung dieser differenzierenden Regelung ergibt sich aus dem besonderen Anliegen der personalisierten Verhältniswahl, durch die Wahl der Wahlkreiskandidaten eine engere persönliche Beziehung zumindest der Hälfte der Abgeordneten des Deutschen Bundestages zu ihrem Wahlkreis zu gewährleisten (vgl. BVerfGE 95, 335 <358>). 7
Im Rahmen des bestehenden Wahlsystems erschöpfen sich die verfassungsrechtlichen Anforderungen der verhältniswahlrechtlichen Erfolgswertgleichheit daher darin, dass die von einer Partei gewonnenen Wahlkreismandate – wie von § 6 Abs. 5 sowie § 7 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 6 Abs. 5 BWG vorgesehen – soweit als möglich (d.h. nicht notwendigerweise vollständig) auf die Sitze der Landesliste verrechnet werden (vgl. BVerfGE 95, 335 <358>). Dies gilt selbst dann, wenn sich [Seite 4] auf etwaige Überhangmandate eine Mehrheit im Bundestag und die Wahl einer Bundesregierung gründen sollte (vgl. BVerfGE 95, 335 <358 u. 363>). 8
b.) Ein Gestaltungsspielraum kommt dem Gesetzgeber auch mit Blick auf die Auswahl des für die Sitzzuteilung maßgeblichen Berechnungsverfahrens zu. In seinem Beschluss vom 24. November 1988 (BVerfGE 79, 169 ff.) hat das Bundesverfassungsgericht hierzu ausgeführt, dass weder mit dem Verfahren der mathematischen Proportion nach Hare-Niemeyer noch dem Höchstzahlverfahren nach d’Hondt eine absolute Gleichheit des Erfolgswerts der Stimmen erreicht werden kann, weil nach beiden Verfahren Reststimmen unberücksichtigt bleiben. Dies findet seine Ursache darin, dass auf die nach dem Verfahren Hare-Niemeyer bruchteilsmäßig exakt berechneten Mandatsansprüche der Parteien Sitze ganzzahlig zugeteilt werden müssen. Die Verteilung von Resten ganzer Zahlen auf zu vergebende ganze Sitze führt indes zwangsläufig dazu, dass die für die einzelnen Parteien abgegebenen Stimmen für die Zuteilung von Sitzen einen real unterschiedlichen Erfolgswert haben. Differenzen bei den Stimmenzahlen gibt es ebenso auch bei dem Höchstzahlverfahren nach d’Hondt sowie bei dem zuweilen als Alternative vorgeschlagenen Zuteilungsverfahren nach Sainte Lague/Schepers. Erweist sich damit aber keines der möglichen Verfahren als prinzipiell „richtiger“ und damit als zur Wahrung des Grundsatzes der Gleichheit der Wahl allein systemgerecht, bleibt es dem Gesetzgeber überlassen, sich für eines der in Rede stehenden Systeme zu entscheiden (vgl. BVerfGE 79, 169 <170 f>). 9
2. Obgleich sich das Bundesverfassungsgericht in den Gründen seiner Entscheidungen bislang nicht explizit mit dem Phänomen des „negativen Erfolgswerts“ auseinandergesetzt hat, war diese Fragestellung dem Senat im Rahmen der Entscheidung zu den Überhangmandaten vom 10. April 1997 durchaus präsent. Dies zeigt schon der Umstand, dass der Tatbestand der Entscheidung auf das Problem ausdrücklich Bezug nimmt (vgl. BVerfGE 95, 335 <343>). Zudem wurde es in der damaligen mündlichen Verhandlung vom Bundeswahlleiter thematisiert (vgl. BVerfGE 95, 335 <346>). 10
Bei dem Phänomen des „negativen Erfolgswerts“ handelt es sich indes nur um eine besondere, systembedingte Spielart des Problems des unterschiedlichen Erfolgswertes von Zweitstimmen, die somit ebenfalls ihre Rechtfertigung in dem mit dem System der personalisierten Verhältniswahl verfolgten Anliegen findet, die Hälfte der zu vergebenden Bundestagssitze persönlichkeitsbezogen zu legitimieren. Zudem ändert auch das Phänomen des „negativen Erfolgswerts“ nichts daran, dass auf der Grundlage der vom Bundeswahlgesetz getroffenen Regelungen jeder Wähler mit seiner Erst- und seiner Zweitstimme sowie in deren Zusammenwirken die gleiche rechtliche Möglichkeit hat, auf das Wahlergebnis Einfluss zu nehmen (vgl. BVerfGE 95, 335 <362>). Mehr gebietet die Wahlrechtsgleichheit nicht. 11
[Seite 5] 3. Auch eine Verletzung der Grundsätze der Unmittelbarkeit und der Freiheit der Wahl ist nicht ersichtlich. 12
a.) Zwar erfordern diese Grundsätze unter anderem ein Wahlverfahren, in dem der Wähler vor dem Wahlakt erkennen kann, welche Personen sich um ein Abgeordnetenmandat bewerben und wie sich die eigene Stimmabgabe auf Erfolg oder Misserfolg der Wahlbewerber auswirken kann (vgl. BVerfGE 95, 335 <350>). Jedoch sind für den Wähler die Auswirkungen seiner Stimmabgabe auf die in seinem Wahlkreis kandidierenden Wahlkreisbewerber (Erststimme) sowie die in seinem Bundesland zur Wahl stehenden Landeslisten (Zweitstimme) sehr wohl erkennbar. Dass es im Zuge der „Unterverteilung“ nach § 7 Abs. 3 i.V.m. § 6 Abs. 4 und 5 BWG auf Grund des für den einzelnen Wähler nicht vorhersehbaren Wahlverhaltens der Gesamtheit der Wähler in dem betreffenden Land zu möglichen Fernwirkungen der eigenen Stimmabgabe auf die Mandatszahl anderer Landeslisten derselben Partei kommen kann, ist verfassungsrechtlich noch hinnehmbar. 13
b.) Angesichts der Unsicherheiten, die sich aus der Abhängigkeit eines „negativen Stimmerfolgs“ von dem nicht hinreichend genau voraussehbaren Wahlverhalten der Wählergesamtheit ergeben, bieten zudem etwaige Versuche interessierter Kreise, die Mandatsverteilung dadurch gezielt zu manipulieren, dass den Wählern empfohlen wird, eine Partei um der Erzielung einer bundesweit größeren Mandatszahl willen in einem bestimmten Bundesland gerade nicht zu wählen, praktisch keine reale Erfolgsaussicht. 14
Im Hinblick auf die vorgenannten Bedenken gebe ich Ihnen Gelegenheit zu prüfen, ob die Beschwerde aufrechterhalten bleiben soll. Binnen eines Monats nach Zustellung dieses Schreibens haben Sie die Möglichkeit, zu den dargelegten Bedenken Stellung zu nehmen. 15
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Dr. h.c. Jentsch
Bundesverfassungsrichter

 


Matthias Cantow