Verfassungsgerichtshof für
das Land Nordrhein-Westfalen

[Wahlprüfung]

Beschluss vom 7. Oktober 2003

VGH V 11/02

 

„Unterstützungsunterschriften LWG Nordrhein-Westfalen“


Entscheidungen 2000–heute

Beschluss

des Verfassungsgerichtshofes für das Land Nordrhein-Westfalen vom 7. Oktober 2003
– VGH V 11/02 –

Entscheidungsformel:

Der Hauptantrag wird als unzulässig verworfen.
Der Hilfsantrag wird als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen.

Gründe:

I.

Der Antragsteller ist der am 1. März 1997 gegründete nordrhein-westfälische Landesverband der Feministischen Partei DIE FRAUEN. Er wendet sich im Organstreitverfahren dagegen, dass der Antragsgegner anlässlich der Änderung des Landeswahlgesetzes durch Gesetz vom 5. März 2002 (GV. NRW. 108) das in § 19 Abs. 2 Satz 3 Hs. 1 des Landeswahlgesetzes normierte Erfordernis von Unterstützungsunterschriften für Kreiswahlvorschläge unverändert beibehalten hat. Hilfsweise rügt er das Unterbleiben einer verfassungsrechtlichen Überprüfung der Vorschrift. 1
1. a) Das Gesetz über die Wahl zum Landtag des Landes Nordrhein-Westfalen (Landeswahlgesetz) - LWahlG - in der Fassung der Bekanntmachung vom 16. August 1993 (GV. NRW. S. 516), zuletzt geändert durch Gesetz vom 5. März 2002 (GV. NRW. S. 108), verbindet die relative Mehrheitswahl im Wahlkreis mit einem Verhältnisausgleich im Wahlgebiet für die mit Landesreservelisten vertretenen politischen Parteien. 2
Das Land wird durch Gesetz in 151 (ab dem In-Kraft-Treten eines geänderten Wahlkreisgesetzes: 128) Wahlkreise eingeteilt (§ 13 Abs. 1 LWahlG, Art. 2 Nr. 1 Satz 1 des Änderungsgesetzes vom 5. März 2002). In jedem Wahlkreis wird ein Abgeordneter mit relativer Mehrheit der Stimmen direkt gewählt (§ 14 Abs. 1, § 32 Abs. 1 LWahlG). Die Wahl erfolgt auf der Grundlage von Kreiswahlvorschlägen, die den in § 19 LWahlG normierten Anforderungen genügen müssen. § 19 Abs. 2 Satz 3 Hs. 1 LWahlG bestimmt: 3
„Die Wahlvorschläge von Parteien, die nicht im Landtag oder im Deutschen Bundestag aufgrund eines Wahlvorschlages aus dem Land ununterbrochen seit deren letzter Wahl vertreten sind, müssen (...) von mindestens 100 Wahlberechtigten des Wahlkreises persönlich und handschriftlich unterzeichnet sein; ...“
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Zu den in den Wahlkreisen gewählten Abgeordneten treten nach Verhältniswahlgrundsätzen weitere Abgeordnete aus Landesreservelisten, wobei eine Gesamtzahl von 201 (ab dem oben genannten Zeitpunkt: 181) Sitzen zugrundegelegt wird (§ 14 Abs. 2, § 33 Abs. 3 Satz 1 LWahlG, Art. 2 Nr. 1 Satz 1 des Änderungsgesetzes vom 5. März 2002). Landesreservelisten können nur von Parteien eingereicht werden (§ 20 Abs. 1 Satz 1 LWahlG). Diesbezüglich regelt § 20 Abs. 1 Satz 3 LWahlG: 5
„Die Landesreserveliste von Parteien, die nicht im Landtag oder im Deutschen Bundestag aufgrund eines Wahlvorschlages aus dem Land ununterbrochen seit deren letzter Wahl vertreten sind, muss (...) von mindestens 1.000 Wahlberechtigten des Landes persönlich und handschriftlich unterzeichnet sein.“
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Die Stimmen, die auf die von einer Partei aufgestellten Bewerber um ein Direktmandat entfallen, schlagen zugleich für die Reserveliste dieser Partei zu Buche; die Ergänzung durch Listenmandate erfolgt nach Maßgabe der landesweiten Stimmenanteile der Parteilisten (§ 33 Abs. 2 bis 5 LWahlG). Das geschieht in der Weise, dass die Parteien, die weniger Sitze in den Wahlkreisen errungen haben, als ihre Sitzzahl nach dem Verhältnisausgleich beträgt, die fehlenden Sitze aus der Reserveliste erhalten. Erringt eine Partei mehr Direktmandate, als ihr nach der auf ihre Liste entfallenden Stimmenzahl zustehen, so wird die Zahl von regulär 201 (künftig: 181) Sitzen so weit erhöht, dass die Sitzanteile der Parteien ihren Stimmenanteilen entsprechen (§ 33 Abs. 4 Satz 2 LWahlG). Parteien mit weniger als 5 v.H. der Gesamtstimmenzahl bleiben beim Verhältnisausgleich unberücksichtigt (§ 33 Abs. 2 Sätze 2 und 3 LWahlG). 7
b) Die Regelungen über die Notwendigkeit von Unterstützungsunterschriften für Kreiswahlvorschläge und Landesreservelisten (§ 19 Abs. 2 Satz 3, § 20 Abs. 1 Satz 3 LWahlG) haben ihre heutige Gestalt durch das Wahlrechtsänderungsgesetz vom 8. Juni 1993 (GV. NRW. S. 300) gefunden. Zuvor bestand die Notwendigkeit für alle Parteien, die in der laufenden Wahlperiode nicht ununterbrochen mit mindestens drei Abgeordneten im Landtag vertreten waren. Die entsprechenden ursprünglichen Regelungen der §§ 20 Abs. 2 Satz 3 und 21 Abs. 1 Satz 3 LWahlG in der Fassung der Bekanntmachung vom 26. März 1954 (GV. NRW. S. 88) waren Gegenstand einer - erfolglosen - Verfassungsbeschwerde; das Bundesverfassungsgericht stellte in seinem Urteil vom 3. Juni 1954 - 1BvR 183/54 - (BVerfGE 3, 383, 394 ff.) fest, dass das Erfordernis von 100 Unterschriften für Kreiswahlvorschläge bei der damaligen Ausgestaltung des Wahlsystems in Nordrhein-Westfalen nicht die Grenze des nach Art. 3 GG Zulässigen überschreite. 9
2. Bereits vor der letzten Novellierung des Landeswahlgesetzes hatte der Antragsteller im Wege einer an den Antragsgegner gerichteten Petition angeregt, § 19 Abs. 2 Satz 3 LWahlG dahin zu ändern, dass Unterstützungsunterschriften nicht erforderlich sind für Kreiswahlvorschläge von Parteien, die eine den Anforderungen des § 20 Abs. 1 Satz 3 LWahlG genügende Landesreserveliste eingereicht haben. Alternativ hatte er die Einführung einer Zweitstimme vorgeschlagen. Die Petition blieb erfolglos. In einem daraufhin eingeleiteten Organstreitverfahren machte der Antragsteller geltend, das Unterlassen einer Änderung oder zumindest Überprüfung von § 19 Abs. 2 Satz 3 LWahlG verletze seine Rechte auf Gleichheit der Wahl und auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb. Der Antrag wurde durch Beschluss des Verfassungsgerichtshofs für das Land Nordrhein-Westfalen vom 23. Juli 2002 – VerfGH 2/01 –, NWVBl. 2003, 12, als unzulässig verworfen. 10
3. Anknüpfungspunkt des vorliegenden, am 4. September 2002 eingeleiteten Organstreitverfahrens ist der Erlass des Gesetzes zur Änderung des Landeswahlgesetzes vom 5. März 2002. Dieses beinhaltet neben der Reduzierung der Parlamentsgröße und der Zahl der Wahlkreise eine Festlegung verbindlicher Wahlkreisgrößen. Darüber hinaus enthält es punktuelle Änderungen der Vorschriften über die Wahlberechtigung, den Wahlvorstand, das Wählerverzeichnis, die Bewerberwahlen und die Gestaltung von Kreiswahlvorschlägen. Die im ursprünglichen Gesetzentwurf der CDU-Landtagsfraktion vorgeschlagene Einführung einer Zweitstimme fand im Gesetzgebungsverfahren keine Mehrheit. 11
a) Der Antragsteller beantragt 12
festzustellen, dass der Antragsgegner die Rechte des Antragstellers auf Gleichheit der Wahl und auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb dadurch verletzt hat, dass er das Landeswahlgesetz durch Gesetz vom 5. März 2002 (GV. NRW. 108) geändert und dabei § 19 Abs. 2 Satz 3 LWahlG unverändert beibehalten hat, insbesondere ohne eine Ausnahme für die Bewerber solcher Parteien vorzusehen, die eine den Anforderungen des § 20 Abs. 1 Satz 3 LWahlG genügende Landesreserveliste eingereicht haben, 13
hilfsweise

festzustellen, dass der Antragsgegner die genannten Rechte des Antragstellers dadurch verletzt hat, dass er anlässlich der vorerwähnten Änderung des Landeswahlgesetzes § 19 Abs. 2 Satz 3 LWahlG nicht erneut verfassungsrechtlich überprüft hat.
14
Er macht geltend: 15
Im Zuge der Novellierung des Landeswahlgesetzes habe der Antragsgegner die bisherigen Regelungen umfassend in den Blick genommen. Indem er § 19 Abs. 2 Satz 3 LWahlG – anders als § 19 Abs. 3 Satz 1 LWahlG – unverändert gelassen habe, habe er sich bewusst für eine Beibehaltung dieser Vorschrift entschieden und ihr den Vorzug gegenüber der vorgeschlagenen Einführung einer Zweitstimme gegeben. Die Norm beeinträchtige das Recht kleiner Parteien auf Wahl- und Chancengleichheit. Diese Beeinträchtigung sei vor dem Hintergrund der 5-v.H.-Sperrklausel und des Fehlens einer Zweitstimme von erheblichem Gewicht. Die Ungleichbehandlung sei verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt, soweit das Unterschriftenerfordernis die Wahlvorschläge solcher Parteien betreffe, deren Landesreserveliste von mindestens 1.000 Wahlberechtigten unterzeichnet sei. Die Ernsthaftigkeit derartiger Wahlvorschläge sei hinreichend gewährleistet. Ein sie betreffendes Unterschriftenerfordernis werde auch nicht durch die besondere Ausgestaltung des nordrhein-westfälischen Wahlsystems legitimiert. Die dahingehende Argumentation des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 3, 383, 394 ff.) sei aufgrund zwischenzeitlicher Wahlrechtsänderungen überholt. Sie habe auf die das Wahlsystem seinerzeit prägende stärkere Betonung des Mehrheitsprinzips in den Wahlkreisen gegenüber dem Verhältnisprinzip der Landeslisten abgestellt. Heute habe das Landeswahlrecht in Nordrhein-Westfalen infolge der Einführung von Ausgleichsmandaten den Charakter eines Verhältniswahlsystems angenommen. 16
b) Der Antragsgegner beantragt, 17
die Anträge abzuweisen. 18
Er macht geltend: 19
Die Anträge seien bereits unzulässig. Dem Antragsteller fehle die erforderliche Antragsbefugnis. Weder die behauptete Neuaufnahme von § 19 Abs. 2 Satz 3 Hs. 1 LWahlG in den Willen des Gesetzgebers noch die hilfsweise geltend gemachte Überprüfungspflicht sei hinreichend substanziiert dargelegt worden. 20
Die Anträge seien im Übrigen auch unbegründet. 21
Zwar beeinträchtige § 19 Abs. 2 Satz 3 Hs. 1 LWahlG die Wahlrechts- und die Chancengleichheit der betroffenen Parteien. Die Regelung sei jedoch zwingend erforderlich, um die Ernsthaftigkeit der Kreiswahlvorschläge sicherzustellen. Die Zahl von 100 Unterstützungsunterschriften sei in Wahlkreisen mit durchschnittlich über 100.000 Wahlberechtigten nicht unangemessen hoch. Sie liege mit knapp 0,1 v.H. der Wahlberechtigten deutlich unterhalb des vom Bundesverfassungsgericht für zulässig erachteten Höchstwerts und niedriger als in den anderen Flächenstaaten. 22
Der Antragsgegner sei auch nicht verpflichtet gewesen, im Zuge der Beratungen über die Änderung des Landeswahlgesetzes die Bestimmung des § 19 Abs. 2 Satz 3 Hs. 1 LWahlG zu überprüfen. Der Rechtfertigungsbedarf dieser Norm sei durch die Novellierung des Gesetzes nicht größer, sondern – infolge der Reduzierung der Wahlkreise und der damit einhergehenden relativen Absenkung des Unterschriftenquorums – kleiner geworden. 23
c) Die Landesregierung hatte Gelegenheit zur Äußerung. Sie hat hiervon keinen Gebrauch gemacht. 24

II.

1. Der gegen die Beibehaltung von § 19 Abs. 2 Satz 3 Hs. 1 LWahlG gerichtete Hauptantrag ist unzulässig. 25
Der Antragsteller kann als Landesverband einer politischen Partei zwar Beteiligter eines Organstreitverfahrens nach Art. 75 Nr. 2 LV, § 12 Nr. 5, §§ 43 ff. VerfGHG sein (vgl. VerfGH NRW, NWVBl. 2003, 12). Ihm fehlt jedoch die erforderliche Antragsbefugnis. 26
Nach § 44 Abs. 1 VerfGHG ist ein Antragsteller antragsbefugt, wenn er geltend macht, dass er oder das Organ, dem er angehört, durch eine Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners in seinen ihm durch die Verfassung übertragenen Rechten und Pflichten verletzt oder unmittelbar gefährdet ist. Den Antragsteller trifft hierbei eine Substanziierungspflicht. Er hat näher darzulegen, in welcher Maßnahme oder Unterlassung er den Verfassungsverstoß erblickt (§ 44 Abs. 2 VerfGHG); sein Sachvortrag muss außerdem eine Verletzung oder Gefährdung des ihm verfassungsrechtlich eingeräumten Rechtsstatus als möglich erscheinen lassen (vgl. VerfGH NRW, NWVBl. 2003, 12 m.w.N.). 27
Diesen Anforderungen wird die Begründung des Hauptantrages nicht gerecht. Die ihm zugrunde liegende Behauptung, der Antragsgegner habe mit dem Erlass des Änderungsgesetzes vom 5. März 2002 (GV. NRW. 108) die Regelung des § 19 Abs. 2 Satz 3 Hs. 1 LWahlG erneut in seinen gesetzgeberischen Willen aufgenommen und damit eine Maßnahme im Sinne von § 44 Abs. 1 und 2 VerfGHG getroffen, ist nicht hinreichend substanziiert. Der Antragsteller hat keine tatsächlichen Umstände dargelegt, die diese Annahme stützen könnten. 28
Eine ausdrückliche Bestätigung der Vorschrift durch Zurückweisung einer auf ihre Änderung oder Abschaffung gerichteten Gesetzesinitiative steht nicht in Rede. Für die Annahme einer in konkludenter Form erfolgten Neuaufnahme der Norm in den Willen des Gesetzgebers bietet das Antragsvorbringen keinen hinreichenden Anhalt. 29
Soweit der Antragsteller eine Bestätigung des Unterschriftenerfordernisses darin erblickt, dass der Antragsgegner mit der Neufassung von § 19 Abs. 3 Satz 1 LWahlG "Änderungen des Unterschriftenquorums selbst" vorgenommen habe, geht er von einer unzutreffenden Prämisse aus. Die Bestimmung des § 19 Abs. 3 Satz 1 LWahlG betrifft nicht das Unterschriftenquorum und steht auch nicht in inhaltlichem Zusammenhang mit § 19 Abs. 2 Satz 3 Hs. 1 LWahlG. Vielmehr regelt § 19 Abs. 3 Satz 1 LWahlG den notwendigen Inhalt eines – "jede(n)" – Kreiswahlvorschlags, unabhängig davon, ob er von einer dem Unterschriftenerfordernis unterworfenen oder von einer sonstigen Partei stammt. 30
Der Antragsteller will eine konkludente Bestätigung von § 19 Abs. 2 Satz 3 Hs. 1 LWahlG ferner daraus herleiten, dass der Antragsgegner im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens "die bisherigen Regelungen des LWahlG umfassend in den Blick genommen" habe. Diese Annahme findet indes in den Entstehungsvorgängen des Änderungsgesetzes keine Bestätigung. Der ihm zugrunde liegende ursprüngliche Gesetzentwurf der CDU-Landtagsfraktion zielte – entgegen der Darstellung des Antragstellers – nicht auf eine "umfassende Revision des geltenden Landtagswahlrechts", sondern hatte die Änderung einzelner Regelungen in §§ 13, 26 und 33 LWahlG zum Gegenstand. Die vorgeschlagenen Änderungen betrafen zwar bedeutsame Teilaspekte des geltenden Wahlrechts (Größe des Landtags; Zuschnitt der Wahlkreise; Einführung einer Zweitstimme), nicht aber das Wahlrecht in seiner Gesamtheit. Auch unter Berücksichtigung der im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens einbezogenen weiteren Regelungsgegenstände, die durchweg eher technische Details des Wahlverfahrens betreffen, kann nicht zugrunde gelegt werden, dass der Antragsgegner das geltende Wahlrecht einer Totalrevision unterzogen und die unveränderten Bestimmungen neu in seinen Willen aufgenommen hat. 31
Der Antragsteller begründet seine Annahme, der Antragsgegner habe sich "bewusst" für die Beibehaltung von § 19 Abs. 2 Satz 3 Hs. 1 LWahlG entschieden, schließlich damit, dass er dieser Bestimmung "den Vorzug gegeben" habe gegenüber der von der CDU-Landtagsfraktion vorgeschlagenen Einführung einer Zweitstimme. Diese Argumentation geht bei wörtlichem Verständnis schon deshalb fehl, weil Zweistimmenwahlrecht und Unterschriftenquorum für Kreiswahlvorschläge nicht in einem Alternativitätsverhältnis zueinander stehen und infolgedessen die Ablehnung des einen nicht eine "Bevorzugung" des anderen implizieren kann. Von der Möglichkeit eines Nebeneinander beider Regelungen ging im Übrigen auch der ursprüngliche Gesetzentwurf der CDU-Landtagsfraktion aus, der den Fortbestand von § 19 Abs. 2 Satz 3 Hs. 1 LWahlG nicht in Frage stellte. Falls dem Vorbringen des Antragstellers zu entnehmen sein sollte, dass er eine bewusste Entscheidung des Antragsgegners für eine Aufrechterhaltung von § 19 Abs. 2 Satz 3 Hs. 1 LWahlG in dem Verzicht auf die Möglichkeit einer Abmilderung der Vorschrift durch Einführung einer Zweitstimme erblickt, ist dem ebenfalls nicht zu folgen. Denn in der Debatte um die Einführung eines Zweistimmenwahlrechts haben dessen Auswirkungen auf die in § 19 Abs. 2 Satz 3 Hs. 1 LWahlG normierte wahlrechtliche Zulassungsbeschränkung keine Rolle gespielt. Den Befürwortern der Zweitstimme ging es darum, dem Wähler eine differenzierte Entscheidung zwischen Partei und Wahlkreisbewerber zu ermöglichen (vgl. Gesetzentwurf der CDU-Fraktion vom 12. Januar 2001, LT NRW- Drs. 13/615, Seite 2). Von Seiten der Gegner wurde geltend gemacht, dass sich das Einstimmenwahlrecht bewährt habe (vgl. den Debattenbeitrag des Abgeordneten Danner [SPD] in der ersten Lesung des Gesetzentwurfs am 25. Januar 2001, Plenarprotokoll 13/20, Seite 1781), und zwar unter anderem insofern, als es den "Durchmarsch virtueller Parteien über die Zweitstimme" verhindert habe (vgl. den Debattenbeitrag des Abgeordneten Söffing [F.D.P.] , a.a.O., Seite 1783). Auch dieser letztgenannte Aspekt hat keinen spezifischen Bezug zur Regelung des § 19 Abs. 2 Satz 3 Hs. 1 LWahlG, der es rechtfertigen könnte, in der Ablehnung der Zweitstimme zugleich eine Bestätigung dieser Vorschrift zu sehen. Denn der angesprochene "Durchmarsch virtueller Parteien" wird nicht erst durch das Unterschriftenquorum für Kreiswahlvorschläge, sondern bereits dadurch verhindert, dass die Wahl einer Partei nur über eine Kandidatur im Wahlkreis erfolgen kann. 32
2. Der gegen das Unterlassen einer verfassungsrechtlichen Überprüfung von § 19 Abs. 2 Satz 3 Hs. 1 LWahlG gerichtete Hilfsantrag hat ebenfalls keinen Erfolg. 33
a) Es kann dahinstehen, ob der Antrag zulässig ist. Insoweit ist unter dem Gesichtspunkt der Antragsbefugnis fraglich, ob der Antragsteller die geltend gemachte Überprüfungspflicht hinreichend substanziiert dargelegt hat. Er leitet sie her aus der Befassung des Antragsgegners mit der vorgeschlagenen Einführung einer Zweitstimme. Indes hätte eine diesbezügliche Wahlrechtsänderung die Regelung des § 19 Abs. 2 Satz 3 Hs. 1 LWahlG unberührt gelassen; lediglich ihre belastenden Auswirkungen auf die betroffenen Parteien wären abgemildert worden, da diese auch ohne Wahlkreiskandidatur landesweit wählbar geworden wären. Ob der Antragsgegner bei dieser Sachlage verpflichtet war, die – im Gesetzgebungsverfahren von keiner Seite angesprochene, geschweige denn problematisierte – Zulassungsvorschrift auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen, bedarf keiner Entscheidung, da der Antrag auch bei Zugrundelegung einer solchen Pflicht keinen Erfolg hat. 34
b) Der Antrag ist jedenfalls offensichtlich unbegründet. Durch das Unterbleiben einer verfassungsrechtlichen Überprüfung von § 19 Abs. 2 Satz 3 Hs. 1 LWahlG sind die Rechte des Antragstellers auf Gleichheit der Wahl und auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb nicht verletzt worden, da die Vorschrift einer diesbezüglichen Prüfung standhält. 35
Zwar beeinträchtigt die in § 19 Abs. 2 Satz 3 Hs. 1 LWahlG geregelte wahlrechtliche Zulassungsbeschränkung die Chancen- und Wahlrechtsgleichheit der betroffenen Parteien. Diese Beeinträchtigung ist jedoch gerechtfertigt, da sie auf einem zwingenden Grund beruht (zu diesem Erfordernis vgl. etwa BVerfGE 82, 322, 338; 95, 408, 418). Regelungen, die – wie § 19 Abs. 2 Satz 3 Hs. 1 LWahlG - die Zulassung eines Wahlvorschlags von der Beibringung einer Mindestzahl von Unterstützungsunterschriften abhängig machen, dienen der Sicherung der Ernsthaftigkeit des Wahlvorschlags. Die Legitimität dieses Anliegens ist in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung anerkannt (vgl. etwa BVerfGE 4, 375, 381 f.; 6, 121, 130; 12, 10, 27; 12, 132, 133 f.; 24, 300, 341; 71, 81, 96 f.; 82, 353, 364; StGH BW, StAnz. BW vom 29. Juni 1960, S. 1, 2; BayVerfGHE 3, 115, 124 f.; BayVerfGH, BayVBl. 1995, 624, 626; WPG, OVGE Bln. 14, 262, 265) und wird auch von dem Antragsteller nicht grundsätzlich in Abrede gestellt. Er macht vielmehr geltend, die "hohen Quoren" für Kreiswahlvorschläge seien jedenfalls bezüglich solcher Parteien nicht mehr gerechtfertigt, die eine Landesreserveliste mit der erforderlichen Anzahl von Unterstützungsunterschriften eingereicht haben. Indes ist weder das Nebeneinander der Unterschriftenerfordernisse für Kreiswahlvorschlag und Landesreserveliste (aa) noch die Höhe des in § 19 Abs. 2 Satz 3 Hs. 1 LWahlG normierten Quorums (bb) zu beanstanden. aa) Es mag dahinstehen, ob die aus § 31 Abs. 1 BVerfGG folgende Bindungswirkung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Juni 1954 – 1 BvR 183/54 – (BVerfGE 3, 383) überhaupt Raum lässt für eine neuerliche Prüfung der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit "doppelter" Unterschriftenquoren. In dem Urteil wird das Nebeneinander der Unterschriftenerfordernisse für Kreiswahlvorschlag und Landesreserveliste als "verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden" bezeichnet (Seite 403). Diese Einschätzung ist nicht auf die seinerzeitige "besondere Ausgestaltung des Wahlsystems in Nordrhein-Westfalen" gestützt, da die diesbezüglichen Ausführungen (Seiten 395 f.) allein die Höhe des Unterschriftenquorums für Kreiswahlvorschläge betreffen. 36
Der vom Antragsteller erhobene Einwand greift jedenfalls in der Sache nicht durch. Er macht geltend, das Vorliegen der erforderlichen Zahl von Unterstützungsunterschriften für die Landesreserveliste belege bereits hinreichend die Ernsthaftigkeit einer Wahlkreiskandidatur für die betreffende Partei. Diese Argumentation verkennt indes, dass die Unterstützung einer Partei auf Landesebene nichts darüber besagt, ob sie auch in dem jeweiligen Wahlkreis ein Mindestmaß an Unterstützung findet. Im Interesse der Durchführbarkeit der Wahlen muss gesichert sein, dass hinter jedem Wahlvorschlag in dem jeweiligen Kreis oder Land eine politische Gruppe steht, die sich mit diesem Vorschlag am Wahlkampf zu beteiligen wünscht, oder dass politisch Interessierte ihm ernsthaft die Chance einräumen wollen, die in der Beteiligung am Wahlkampf liegt (vgl. BVerfGE 82, 353, 364). Daher macht in einem aus Mehrheits- und Verhältniswahlelementen kombinierten Wahlsystem der Umstand, dass eine Landesreserveliste die erforderliche Unterstützung findet, einen Ernsthaftigkeitsnachweis in Bezug auf die Wahlkreiskandidatur nicht entbehrlich. Hiervon gehen auch das Bundeswahlrecht (vgl. §§ 20 Abs. 2 Satz 2 Hs. 1, 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG) und zahlreiche Landeswahlgesetze aus. 37
bb) Soweit sich der Antragsteller gegen die Höhe des in § 19 Abs. 2 Satz 3 Hs. 1 LWahlG normierten Unterschriftenquorums wendet, ist sein Vorbringen ebenfalls nicht geeignet, die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift in Frage zu stellen. 38
Er macht insoweit geltend, infolge der Einführung der Ausgleichsmandatsregelung sei die vom Bundesverfassungsgericht angenommene verfassungsrechtliche Legitimation der Höhe des Unterschriftenquorums entfallen. Diesem Vorbringen dürfte ursprünglich eine gewisse Plausibilität nicht abzusprechen gewesen sein, da die Quorumshöhe mit der "stärkeren Betonung des Mehrheitsprinzips" gerechtfertigt worden war, während die Ausgleichsmandate den "Grundsätzen eines vollkommenen Verhältniswahlrechts" Wirksamkeit verleihen sollten (vgl. die Nachweise in VerfGH NRW, NWVBl. 2003, 12, 13). Durch das Änderungsgesetz vom 5. März 2002 (GV. NRW. 108) ist dieser Argumentation indes die Grundlage entzogen. Denn das Gesetz verfolgt das erklärte Ziel, der Entstehung von Überhang- und Ausgleichsmandaten entgegenzuwirken (vgl. Gesetzentwurf der CDU-Fraktion vom 12. Januar 2001, LT NRW-Drs. 13/615, Seite 1, sowie die Debattenbeiträge der Abgeordneten Danner [SPD], Jostmeier [CDU] und Düker [Bündnis 90/Die Grünen] in der zweiten Lesung des Gesetzentwurfs am 1. März 2002, Plenarprotokoll 13/53, Seiten 5459, 5461 und 5465). Die Effektivität der zur Erreichung dieses Zwecks getroffenen Regelungen - Erhöhung des prozentualen Anteils der Listenmandate; Vergrößerung der Wahlkreise - erweist sich darin, dass ihre hypothetische Anwendung auf das Wahlergebnis des Jahres 2000 zu lediglich zwei – statt tatsächlich dreißig – Ausgleichsmandaten führen würde. Unbeschadet des leichten Anstiegs der Zahl der Listenmandate dominieren mit mehr als 70 v.H. weiterhin die Wahlkreismandate. 39
Abgesehen davon hat das Änderungsgesetz vom 5. März 2002 (GV. NRW. 108) eine relative Absenkung der Quorumshöhe bewirkt. Denn die Vergrößerung der Wahlkreise hat zur Folge, dass das anteilige Verhältnis der erforderlichen 100 Unterstützungsunterschriften zur Zahl der Wahlberechtigten gesunken ist: Betrug die durchschnittliche Wahlkreisgröße im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts noch circa 60.000 Wahlberechtigte, wird sie künftig bei 102.000 Wahlberechtigten liegen. Dies entspricht einer Reduzierung der "Unterschriftenquote" von 0,166 v.H. auf 0,098 v.H. Dieser Wert unterschreitet den vom Bundesverfassungsgericht in anderem Zusammenhang zugrunde gelegten Höchstwert von 0,25 v.H. (vgl. BVerfGE 4, 375, 386; weitergehend: StGH BW, StAnz. BW vom 29. Juni 1960, S. 1, 3 [höheres Quorum denkbar]; WPG, OVGE Bln. 14, 262, 269 [Quorum von 0,3 v.H. zulässig]) um mehr als die Hälfte und liegt niedriger als in allen anderen Flächenstaaten. Damit geht einher, dass sich die Zahl der für eine Wahlbeteiligung in allen Wahlkreisen erforderlichen Unterstützungsunterschriften von vormals 15.100 auf nunmehr 12.800 verringert hat. 40

 


Matthias Cantow