13. Landtag von Baden-Württemberg

[Wahlprüfung]

Beschluss vom 15. November 2001

 

Drucksache 13/413

„Landeswahlgesetz Baden-Württemberg“


Entscheidungen 2000 bis heute

[LT-BW-Drucks 13/413, S. 1] Beschlussempfehlung

des Wahlprüfungsausschusses

Wahleinspruch des Herrn Professor Dr.-Ing. Otto F. Hagena, Eggenstein-Leopoldshafen

Der Landtag wolle beschließen,
den Einspruch des Herrn Professor Dr.-Ing. Otto F. Hagena, Eggenstein-Leopoldshafen, gegen die Landtagswahl vom 25. März 2001 als unbegründet zurückzuweisen und festzustellen, dass die Wahl, soweit angefochten, gültig ist.
08.11.2001
Der Vorsitzende und Berichterstatter:
Dr. Reinhart
 

Begründung

1. Herr Hagena hat mit Schreiben vom 9. Mai 2001, beim Landtag eingegangen am 10. Mai 2001, Einspruch gegen die Wahl des 13. Landtags von Baden-Württemberg am 25. März 2001 eingelegt. 1
Mit seinem Einspruch wendet er sich gegen die Bestimmungen des Landtagswahlgesetzes (LWG) über die Verteilung der Abgeordnetensitze auf die Parteien. Er ist der Auffassung, dass diese Bestimmungen nicht Artikel 26 Abs. 4 und Artikel 28 der Landesverfassung (LV) entsprechen. Herr Hagena beanstandet, dass nach dem geltenden Wahlrecht zum Ausgleich von Überhangmandaten das Höchstzahlverfahren nach d’Hondt nicht landesweit, sondern jeweils in den einzelnen Regierungsbezirken angewandt wird. Dieses Verfahren benachteilige kleinere Parteien unverhältnismäßig stark. Das geltende Wahlrecht begünstige auch die größeren Regierungsbezirke, die durch wesentlich mehr Abgeordnete im Landtag repräsentiert seien, als es ihrem Anteil an der Gesamtzahl der gültigen Stimmen entspricht. Diese Unterschiede im Erfolgswert der in den einzelnen Regierungsbezirken abgegebenen Stimmen ließen sich durch einen landesweiten Verhältnisausgleich nach d’Hondt oder, noch besser, nach Hare/Niemeyer ausgleichen. Bereits ohne Vorliegen von Überhangmandaten verletze die Anwendung von § 2 Abs. 2 LWG das Verfassungsgebot des gleichen Erfolgswertes der Wählerstimmen. Die systematische, gleichheitswidrige [LT-BW-Drucks 13/413, S. 2] Bevorzugung des größten Regierungsbezirks ließe sich dadurch vermeiden, dass in § 2 Abs. 2 LWG das Verfahren d’Hondt durch das Verfahren Hare/Niemeyer ersetzt würde. Herr Hagena ist außerdem der Ansicht, seinem Einspruch könne nicht entgegengehalten werden, dass der Staatsgerichtshof bereits nach der Landtagswahl 1988 die Verfassungsmäßigkeit des Wahlrechts bestätigt habe. Früheren Überprüfungen hätten grundlegend andere Sachverhalte zu Grunde gelegen. 2
2. Der Wahlprüfungsausschuss hat zu dem Einspruch eine Stellungnahme des Landeswahlleiters eingeholt. Darin verweist dieser zunächst darauf, dass Herr Hagena keine Wahlfehler geltend mache. Der Einspruch betreffe ausschließlich Regelungen des Landtagswahlgesetzes, die für verfassungswidrig gehalten werden. Nach § 1 Abs. 3 Landeswahlprüfungsgesetz könnten die Verfassungsmäßigkeit und Rechtsgültigkeit des Wahlgesetzes und der Wahlordnung im Wahlprüfungsverfahren aber nicht nachgeprüft werden. Unabhängig hiervon nimmt der Landeswahlleiter inhaltlich zu dem Einspruch wie folgt Stellung: 3
Die von dem Einsprecher vorgetragenen Berechnungen treffen zu; teilweise vorgenommene Rundungen sind für die rechtliche Bewertung nicht entscheidungserheblich. 4
Nach § 2 Abs. 2 LWG werden die jeder Partei im Land zustehenden Sitze auf die Regierungsbezirke im Verhältnis der von ihr dort erreichten Stimmenzahlen nach dem d’Hondtschen Höchstzahlverfahren verteilt. § 2 Abs. 4 Satz 1 LWG legt fest, dass wenn eine Partei in einem Regierungsbezirk nach Absatz 3 Satz 1 mehr Sitze erlangt, als ihr dort nach Absatz 2 zustehen, sich die Zahl der auf den Regierungsbezirk insgesamt entfallenden Sitze um so viele erhöht, als erforderlich sind, um unter Einbeziehung der Mehrsitze die Sitzverteilung im Regierungsbezirk im Verhältnis der von den Parteien dort erreichten Stimmenzahlen nach dem d’Hondtschen Höchstzahlverfahren zu gewährleisten. 5
Der Staatsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg hat in seinen Urteilen vom 23. Februar 1990 (ESVGH 40, 161) und 12. Dezember 1990 (VBlBW 1991, 133) die Verfassungsmäßigkeit des gegenwärtigen Landtagswahlrechts festgestellt. 6
Nach Art. 28 Abs. 1 LV werden die Abgeordneten nach einem Verfahren gewählt, das die Persönlichkeitswahl mit den Grundsätzen der Verhältniswahl verbindet. Dem entspricht das Wahlsystem nach dem Landtagswahlgesetz. Es trifft zwar zu, dass bei der Verhältniswahl jede Stimme nicht nur den gleichen Zählwert, sondern grundsätzlich auch den gleichen Erfolgswert haben muss. Zum einen sieht aber die Landesverfassung kein (reines) Verhältniswahlsystem, sondern ein Mischsystem vor, in dem Elemente der Mehrheitswahl und der Verhältniswahl jeweils zusammengenommen gleichgewichtig zueinander stehen. Außerdem haben sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch der Staatsgerichtshof stets betont, dass Zweck und Natur des Wahlverfahrens gewisse Einschränkungen des gleichen Erfolgswerts der Wahlstimmen der Aktivwähler wie auch der passiven Chancengleichheit der Wahlbewerber rechtfertigen können, sofern dadurch der Grundsatz der Wahlgleichheit nicht zu weitgehend tangiert wird. Differenzierungen in diesem Bereich bedürfen allerdings stets eines besonderen rechtfertigenden Grundes. 7
Einen solchen rechtfertigenden Grund hat der Staatsgerichtshof im Falle des § 2 LWG für gegeben angesehen. Nach seiner Auffassung ist im Landtagswahlrecht die Zwischenschaltung der Wahlebene der Regierungsbezirke bei der Mandatsvergabe dadurch gerechtfertigt, dass die in den [LT-BW-Drucks 13/413, S. 3] Regierungsbezirken zusammengefassten, aus den ursprünglich selbstständigen Ländern bzw. ihren Teilen hervorgegangenen Gebietseinheiten Baden-Württembergs auf diese Weise im Verhältnis zueinander ausgewogener im Landtag repräsentiert werden, als dies ohne die Zwischenschaltung der Regierungsbezirke der Fall wäre. Er hat festgestellt, dass die Anzahl der Zweitmandate nach dem geltenden Verfahren gerade im Regierungsbezirk Stuttgart wesentlich besser dem prozentualen Anteil der Wahlberechtigten, Wähler und gültigen Stimmen am jeweiligen Landesaufkommen entspreche, als dies bei einer landesunmittelbaren Vergabe der Mandate der Fall wäre. Der Staatsgerichtshof brachte zum Ausdruck, zur Ermittlung von Ausgleichsmandaten kämen nur solche Verfahren in Betracht, welche die Grundentscheidung über die Zwischenschaltung der Regierungsbezirke bei der Ermittlung der Mandate beachteten. Wenn in den Verhältnisausgleich nach § 2 Abs. 2 LWG die Regierungsbezirke einbezogen werden, sei es im Rahmen des Wahlsystems strukturell konsequent, die innerhalb der Regierungsbezirke auftretenden Überhangmandate auch dort auszugleichen. Eines von mehreren möglichen Verfahren zur Ermittlung von Ausgleichsmandaten verstoße nur dann gegen das verfassungsrechtliche Gebot der Wahlrechtsgleichheit, wenn es gegenüber anderen Verfahren bei allen real in Betracht kommenden Wahlergebnissen für jede Partei zu ungenaueren Mandatszahlen – gemessen an den Stimmprozentsätzen auf Landesebene – führe. 8
Der Staatsgerichtshof hat in diesem Zusammenhang auch nicht beanstandet, dass das nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verfassungsgemäße d’Hondtsche Höchstzahlverfahren (BVerfGE 79, 169) in jedem Regierungsbezirk bei der Ermittlung der Ausgleichsmandate angewendet wird. Den Urteilen des Staatsgerichtshofs lagen die Ergebnisse der früheren Landtagswahlen sowie umfangreiche Berechnungen des Innenministeriums zu den Wahlen 1976 bis 1988 (s. LT-Drs. 10/2430) zu Grunde. Die jetzt angefochtene Landtagswahl 2001 weist nach den Berechungen des Einsprechenden teilweise von ihm bezeichnete Fehlersummen auf, die unter den entsprechenden Werten der Wahlen vor 1990 liegen (Fehlersumme 2001: 3,91/ 1984: 4,57; Mehrsitze 2001: 4,06/ 1984: 4,37). Lediglich die Landtagswahlen 1992 und 1996 zeigen höhere Werte. 9
Bei den Berechnungsverfahren d’Hondt bzw. Hare/Niemeyer kann mathematisch eine absolute Gleichheit des Erfolgswerts der Stimmen nicht erreicht werden; Reststimmen bleiben unberücksichtigt. Beide Verfahren entsprechen den verfassungsrechtlichen Anforderungen an ein für die Verhältniswahl unabdingbares Mandatsverteilungssystem. 10
Erklärungsbedürftig ist im Übrigen die Annahme des Einsprechenden, für die Zuteilung eines Sitzes bei der Landtagswahl seien im Regierungsbezirk Stuttgart lediglich 30.660 Stimmen, im Regierungsbezirk Tübingen dagegen 36.428 Stimmen „nötig“ gewesen. Diese Betrachtungsweise verknüpft die tatsächlich angefallene Stimmenzahl mit der Aussage, mit welcher Stimmenzahl rechtlich ein Anspruch auf Zuteilung eines Sitzes entsteht. Von einer solchen zwingenden Verknüpfung kann jedoch nicht ausgegangen werden, da es zu Sitzansprüchen auch dann gekommen wäre, wenn etwa die Stimmenzahl im Regierungsbezirk Stuttgart tatsächlich höher oder im Regierungsbezirk Tübingen tatsächlich niedriger gelegen hätte. 11
Zu der gerügten Bevorzugung des Regierungsbezirks Stuttgart bei der Verteilung nach § 2 Abs. 2 LWG ist noch zu bemerken, dass hier auch das Wählerverhalten eine Rolle spielt, auf das der Gesetzgeber keinen Einfluss hat. Wie schon bei der Landtagswahl 1996 hatte dieser Regierungsbezirk 2001 die höchste Wahlbeteiligung und die geringste Ungültigkeitsquote. Im Übrigen können die Regierungsbezirke nicht lediglich als [LT-BW-Drucks 13/413, S. 4] wahlmathematische Rechenfaktoren gesehen werden, die möglichst von identischer Größe sein sollten (vgl. 2 b der Einspruchschrift). Die Regierungsbezirke sind keine künstlichen Rechengebilde, sondern historisch gewachsene Gebietseinheiten, deren Zwischenschaltung für die Ermittlung von Landtagsmandaten der Staatsgerichtshof stets als verfassungsgemäß angesehen hat. Gewisse Größenabweichungen der Regierungsbezirke sind daher systembedingt hinzunehmen. 12
Zum landesweiten Verhältnisausgleich ist verdeutlichend darauf hinzuweisen, dass dieser tendenziell zu höheren Abgeordnetenzahlen führen würde; dies gilt nach den von Herrn Hagena vorgelegten Tabellen sowohl für das Verfahren nach d’Hondt (für 2001: 130 Sitze) wie im verstärkten Maße bei Anwendung von Hare/Niemeyer (für 2001: 131 Sitze). 13
Insgesamt ist festzuhalten, dass die Landtagswahl 2001 nach eigenem Vortrag des Einsprechenden verfassungsrechtlich keine weiter reichenden Fragestellungen aufgeworfen hat, als sie den Entscheidungen des Staatsgerichtshofs vom 23. Februar und vom 12. Dezember 1990 zu Grunde lagen. Der Staatsgerichtshof hat in Kenntnis dieser Sachlage das geltende Landtagswahlrecht als verfassungsgemäß bewertet. 14
3. Herr Hagena macht Wahlfehler nicht geltend, sondern wendet sich gegen das geltende Wahlrecht. Nach § 1 Abs. 3 Landeswahlprüfungsgesetz kann im Wahlprüfungsverfahren die Verfassungsmäßigkeit und Rechtsgültigkeit des Wahlgesetzes und der Wahlordnung aber nicht nachgeprüft werden. Die Bestimmung untersagt es dem Wahlprüfungsausschuss zwingend, die materiellen Wahlrechtsregelungen einer Kontrolle im Wahlprüfungsverfahren zu unterziehen. Diese Regelung begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Weder der Staatsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg noch das Bundesverfassungsgericht haben seither Veranlassung gesehen, diese Regelung bzw. die entsprechende ständige Praxis des Bundestages in Zweifel zu ziehen. Im übrigen wären die von Herrn Hagena angegriffenen Vorschriften, wie der Landeswahlleiter ausgeführt hat, verfassungsrechtlich auch nicht zu beanstanden. 15
4. Da im Wahlprüfungsverfahren die Verfassungsmäßigkeit und Rechtsgültigkeit des Wahlgesetzes nicht nachgeprüft werden kann, stellte der Berichterstatter in der zweiten Sitzung des Wahlprüfungsausschusses am 11. Oktober 2001 den Vorschlag zur Abstimmung, gemäß § 6 Abs. 4 Satz 2 Landeswahlprüfungsgesetz auf eine mündliche Verhandlung zu verzichten. Gegen diesen Vorschlag gab es drei Gegenstimmen. Da der Verzicht auf eine mündliche Verhandlung nur durch einstimmigen Beschluss des Wahlprüfungsausschusses ausgesprochen werden kann, war es erforderlich, in öffentlicher Sitzung eine mündliche Verhandlung durchzuführen. 16
5. Die mündliche Verhandlung fand in der dritten Sitzung des Wahlprüfungsausschusses am 8. November 2001 statt. In der Sitzung hatte Herr Hagena Gelegenheit, die Begründung seines Wahleinspruchs mündlich vorzutragen und zu vertiefen. Als Beteiligte nach § 6 Abs. 1 Landeswahlprüfungsgesetz hat sich außerdem für den Landesverband Baden-Württemberg der FDP Herr Bernhard Nüsch, Mitglied des Landesvorstands, geäußert. Er schloss sich dem Vortrag von Herrn Hagena an. Ferner hat sich für den Innenminister Herr Ministerialdirigent Professor Freiherr von Rotberg geäußert. Außerdem hat Herr Landeswahlleiter Zimmermann Stellung genommen. 17
Von den Mitgliedern des Wahlprüfungsausschusses äußerten sich die Abgeordneten Birzele, Reichardt, Theurer, Pauli und Bebber. 18
[LT-BW-Drucks 13/413, S. 5] Wegen der Einzelheiten wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen. 19
6. Im anschließenden nichtöffentlichen Teil der Sitzung beantragte ein Abgeordneter der SPD, der Wahlprüfungsausschuss möge die Empfehlung beschließen, eine interfraktionelle Arbeitsgruppe einzusetzen, die sich mit der Änderung des Wahlrechts befasse. Dieser Antrag wurde bei drei Ja-Stimmen und vier Nein-Stimmen abgelehnt. 20
Der Berichterstatter wiederholte abschließend seinen Hinweis, dass der Wahlprüfungsausschuss nach dem Landeswahlprüfungsgesetz keine Kompetenz habe, die von Herrn Hagena angegriffenen Vorschriften des Wahlgesetzes zu überprüfen. 21
Auf Vorschlag des Berichterstatters fasste der Wahlprüfungsausschuss den Beschluss, den Wahleinspruch von Herrn Hagena als unbegründet zurückzuweisen. Zugleich wurde nach § 9 Abs. 2 Satz 2 Landeswahlprüfungsgesetz die Gültigkeit der Wahl festgestellt, soweit sie mit dem Einspruch angefochten wurde. 22
Die Beschlussempfehlung wurde mit vier Ja-Stimmen verabschiedet. Drei Abgeordnete haben sich der Stimme enthalten. 23

 


Matthias Cantow