Bundesverfassungsgericht

[Wahlprüfung]

Beschluss vom 10. Juni 1953

1 BvC 3/52

BVerfGE 2, 300

„Beschwerdevoraussetzungen“


Informationen Informationen zur Entscheidung, Entscheidungen 1950–1959

Leitsatz:

[BVerfGE 2, 300 (300)] Hat sich der Bundestag im Wahlprüfungsverfahren für nicht befugt erklärt, über einen auf die Ungültigkeit des Wahlgesetzes gestützten Einspruch materiell zu entscheiden, so ist dieser Beschluß mit Beschwerde nur nach § 48 BVerfGG anfechtbar. LS 1

Beschluß

des Ersten Senats vom 10. Juni 1953 gemäß § 24 BVerfGG
– 2 BvC 3/52 –

in dem Verfahren
über
die Wahlprüfungsbeschwerde

der Demokratischen Wirtschafts- und Aufbaugemeinschaft, Marburg/L., der [BVerfGE 2, 300 (301)] Arbeitsgemeinschaft unabhängiger Kandidaten des Landes Hessen, Alsfeld/Oberhessen, und der Demokratischen Wirtschafts- und Aufbaugemeinschaft Hessen
gegen
die Wahlprüfungsentscheidung des Bundestages vom 6. Dezember 1951 in den verbundenen Sachen 122/49 und 123/49.

Entscheidungsformel:

Die Wahlprüfungsbeschwerde wird verworfen.

Gründe:

A.

I.
Die Beschwerdeführer haben – zusammen mit den Spitzenkandidaten einer Landesergänzungsliste der Demokratischen Wirtschafts- und Aufbaugemeinschaft (DWA) Hessen – beim Bundestag Einsprüche gegen die erste Bundestagswahl eingelegt. Sie stützen sich auf folgende Begründung: 1
An der Bundestagswahl vom 14. August 1949 habe sich die DWA in 22 Wahlkreisen des Landes Hessen beteiligt. Eine von ihr am 27. Juli 1949 aufgestellte und rechtzeitig eingereichte Landesergänzungsliste sei nicht zugelassen worden, weil die DWA nicht als politische Partei im Landesmaßstab zugelassen gewesen sei (§ 14 Abs. 3 des Wahlgesetzes – WG –). Diese Beschränkung sei jedoch verfassungswidrig. Demgemäß sei auch die hessische VO vom 11. August 1949 – GVBl. S. 99 – zur Änderung der ursprünglichen Wahlordnung vom 27. Juni 1949 – GVBl. S. 63 – und das der Änderungsverordnung vom 11. August 1949 entsprechende Vorgehen des Landeswahlausschusses und des Landeswahlleiters verfassungswidrig. Um Besatzungsrecht handle es sich bei der fraglichen Bestimmung nicht. 2
Als verletzt werden mit näherer Begründung die Art. 1, 2, 3, 9, 20, 21 Abs. 1 Satz 2, 28, 33, 38 Abs. 1, 79 und 137 Abs. 2 GG bezeichnet. 3
Die Einsprüche sind vom Bundestag im Wahlprüfungsverfahren gemäß Art. 41 GG und dem dazu ergangenen Wahlprüfungsgesetz (WPG) vom 12. März 1951 – BGBl. I S. 166 unter den Aktenzeichen 122/49 und 123/49 behandelt und zu [BVerfGE 2, 300 (302)] gleichzeitiger Verhandlung und Entscheidung verbunden worden. Die Entscheidung des Bundestages vom 6. Dezember 1951 lautet: 4
„Der Bundestag ist im Rahmen des Wahlprüfungsverfahrens nach Art. 41 GG nicht befugt, über die verfassungsrechtliche Gültigkeit von Bestimmungen des Wahlgesetzes vom 15. Juni 1949 zu entscheiden.“
5
Der Bundesminister des Innern hatte in den Verhandlungen des Wahlprüfungsausschusses des Bundestages die Ansicht vertreten, daß der Bundestag sachlich zu der behaupteten Verfassungswidrigkeit des Wahlgesetzes Stellung nehmen müsse. Denn jede Behörde und Instanz müsse sich über die Verfassungsmäßigkeit der von ihr anzuwendenden Gesetze klar werden. Der Bundestag entscheide dabei auch nicht über die Gültigkeit des Wahlgesetzes, sondern prüfe sie nur inzidenter. 6
Der Bundestag hat dies abgelehnt und dazu ausgeführt (Drucksache Nr. 2814 neu und 2815 neu): Art. 41 GG könne nur meinen, daß allein die ordnungsgemäße Durchführung des Wahlaktes nach den dafür erlassenen Bestimmungen zu prüfen sei, aber nicht auch die Verfassungsmäßigkeit dieser Bestimmungen selbst. Würde Art. 41 GG vom Bundestag verlangen, daß er nachprüfe, ob formal ordnungsmäßig erlassene und verkündete Bestimmungen aus verfassungsrechtlichen Gründen gültig seien, so käme der Bundestag in die Lage, auch über – regelmäßig von ihm selbst erlassene – Gesetze ein quasi-richterliches Urteil abzugeben. Dies könne nicht der Sinn des Art. 41 GG sein. Den Beschwerdeführern stehe die Verfassungsbeschwerde zur Verfügung, um ihre Rechte geltend zu machen, wenn sie sich durch die öffentliche Gewalt – „in diesem Falle also die Landeswahlleiter, die die entsprechenden Feststellungen auf Grund des Wahlgesetzes getroffen haben“ – in einem ihrer Grundrechte verletzt fühlten. Nur das machten sie mit ihrer Wahlanfechtung geltend. Sie betrieben also nicht eigentlich eine Wahlanfechtung nach Art. 41 GG. Art. 100 Abs. 1 GG sei hier nicht anwendbar, denn der Bundestag erhalte durch Art. 41 GG [BVerfGE 2, 300 (303)] nicht die verfassungsrechtliche Stellung eines Gerichts. „Eine sachliche Aussetzung käme im übrigen nur dann in Betracht, wenn der Bundestag Zweifel hinsichtlich der Gültigkeit des Wahlgesetzes hätte, was nicht der Fall ist.“ Übrigens spreche für eine „ Unzuständigkeit des Wahlprüfungsverfahrens“ in diesem Falle, daß nach § 2 Abs. 1 WPG die Gültigkeit einer Wahl nur nachgeprüft werden kann, wenn ein Einspruch vorliegt, und nur insoweit, als er die Wahl angreift. Sei aber das Wahlgesetz verfassungswidrig, so müsse es auch für nichtig erklärt werden, wie das für Verfassungsbeschwerden in § 95 BVerfGG denn auch vorgeschrieben sei. Eine Nichtigerklärung lasse sich jedoch im Wahlprüfungsverfahren nicht erreichen. Nach allem sei durch eine gemäß § 48 BVerfGG anfechtbare Entscheidung vorab zu entscheiden, daß der Bundestag sich nicht für befugt hält, über die von den Beschwerdeführern geltend gemachten Anträge zu entscheiden. 7
II.
Gegen diese Entscheidung des Bundestages hat Dr. D. durch Schreiben vom 3. Januar 1952 als Bevollmächtigter der Beschwerdeführer Wahlprüfungs- und Verfassungsbeschwerde zugleich eingelegt. Die Verfassungsbeschwerde hat er auch im eigenen Namen erhoben. Über die Wahlprüfungsbeschwerde wird durch Teilbeschluß entschieden. 8

B.

I.
§ 48 BVerfGG bestimmt, wer berechtigt ist, Wahlprüfungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht einzulegen. Gruppen von Wahlberechtigten einschließlich der Parteien und Gruppen von Kandidaten gehören hierzu nicht. Aus dem Gegensatz zwischen § 2 Abs. 2 WPG, der das Einspruchsrecht beim Bundestag regelt, und § 48 BVerfGG, der für das Beschwerderecht gegen die Entscheidungen des Bundestages gilt, geht klar hervor, daß das Beschwerderecht gegenüber dem Einspruchsrecht eingeschränkt sein soll. Das Gesetz will die Beschwerde an das [BVerfGE 2, 300 (304)] Bundesverfassungsgericht nur dann geben, wenn aus der Zahl der persönlichen, d. h. individuellen Reaktionen in der Wählerschaft auf eine Entscheidung des Bundestages hervorgeht, daß der Angelegenheit gewisse Bedeutung zukommt. Deshalb sollen Gruppen nach § 48 BVerfGG selbst nicht beschwerdeberechtigt sein, auch nicht für ihre Mitglieder handeln können. 9
Es könnte die Frage aufgeworfen werden, ob etwa die Arbeitsgemeinschaft unabhängiger Kandidaten des Landes Hessen für eines ihrer Mitglieder gehandelt habe und handeln dürfe. Indessen kommt es hierauf nicht an, da es sich bei einem Kandidaten nicht um einen „Abgeordneten“ handelt, „dessen Mitgliedschaft (sc. im Bundestag) bestritten ist“. § 48 BVerfGG versteht hierunter nicht Kandidaten, die nicht für gewählt erklärt worden sind, die aber behaupten, daß sie hätten für gewählt erklärt werden müssen, sondern nur für gewählt erklärte Abgeordnete, denen in einer Wahlprüfungsentscheidung des Bundestages die Mitgliedschaft im Bundestag aberkannt worden ist, die aber nach § 16 WPG ihre Rechte und Pflichten grundsätzlich bis zur Rechtskraft der Entscheidung behalten. Das mag eng sein, ergibt sich aber eindeutig aus dem Wortlaute des Gesetzes. Der Begriff „Abgeordneter“ umfaßt nicht nur nach allgemeinem Sprachgebrauch, sondern auch nach den Rechtsvorschriften, die ihn verwenden, nur diejenigen, die für gewählt erklärt worden sind und – nach der strikten Bestimmung des § 6 WG – dem Landeswahlleiter die Annahme ihrer Wahl schriftlich erklärt haben. 10
Daher ist keiner der Beschwerdeführer beschwerdeberechtigt nach § 48 BVerfGG. 11
Diesem Mangel kann auch nicht – wie hilfsweise beantragt durch Gewährung einer Nachfrist zur Beibringung von 100 Beitrittserklärungen abgeholfen werden. Der Beitritt von hundert Wahlberechtigten würde nur dann etwas nützen, wenn ein einzelner Wahlberechtigter, dessen Einspruch vom Bundestag verworfen worden ist, persönlich fristgemäß Wahlprüfungsbeschwerde erhoben hätte. Hieran fehlt es jedoch. Schon deshalb [BVerfGE 2, 300 (305)] kommt eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, die gegenüber der Frist des § 48 BVerfGG allein denkbar wäre, nicht in Betracht. 12
II.
Dieses Ergebnis ist auch sachgemäß: Es handelt sich im vorliegenden Falle um eine Endentscheidung des Bundestages, auf die das Rechtsmittel nach § 48 BVerfGG abgestellt ist. Der Tenor der Entscheidung spricht die sachliche Unzuständigkeit des Bundestages im Wahlprüfungsverfahren für die Entscheidung über die vorgebrachte Beschwer aus; eine solche Entscheidung ist nach deutschen Verfahrensgrundsätzen eine Endentscheidung. Aber auch wenn man aus den Gründen entnehmen wollte, daß der Bundestag den Einspruch als unbegründet zurückgewiesen habe, weil er das Wahlgesetz auf seine Verfassungsmäßigkeit nicht prüfen könne und folglich als verfassungsmäßig anwenden müsse, übrigens aber auch für verfassungsmäßig halte, so wäre auch das eine Endentscheidung des Bundestags. 13
Das steht auch in Einklang mit der Rechtsauffassung des Bundestags, die in mehrfacher Hinsicht zum Ausdruck gekommen ist: Wenn die Begründung ausführt, es sei „vorab“ zu entscheiden, wie geschehen, so ist dabei offenbar an § 304 ZPO gedacht worden, wonach die dort behandelte „Vorabentscheidung“ hinsichtlich der Rechtsmittel grundsätzlich als Endurteil anzusehen ist. Dasselbe gilt von der Rechtsmittelbelehrung durch den Bundestag, die ausdrücklich auf die Beschwerde nach § 48 BVerfGG verweist. Dem entsprechen auch die Rechtsausführungen des Berichterstatters in der mündlichen Verhandlung des Wahlprüfungsausschusses, das Bundesverfassungsgericht werde, falls es die Auffassung des Bundestags über seine Unzuständigkeit zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Wahlgesetzes nicht teile, die Sache an den Bundestag zurückverweisen; denn eine Zurückverweisung ist – ihre Zulässigkeit im übrigen vorausgesetzt – nur denkbar, wenn der Fall mit der Entscheidung des Bundestags nicht mehr bei ihm anhängig ist. 14
[BVerfGE 2, 300 (306)] Deshalb erhebt sich gar nicht die Frage, ob etwa neben der Beschwerde nach § 48 BVerfGG aus allgemeinen Verfahrensgrundsätzen noch eine Beschwerde möglich sei, zu der berechtigt wäre, wer den Einspruch beim Bundestag eingelegt hat, so daß es auf die Beschränkungen des Beschwerderechts nach § 48 BVerfGG nicht ankäme. Das sonstige Verfahrensrecht kennt solche Möglichkeiten in Gestalt der Beschwerde oder sofortigen Beschwerde (vgl. §§ 567, 577 ZPO). Zwischenverfahren solcher Art vor einer zweiten Instanz, als die im Wahlprüfungsverfahren das Bundesverfassungsgericht im Verhältnis zum Bundestag dann gedacht werden müßte (a. M. Geiger, Komm. z. BVerfGG, Vorbem. 3 zu § 48), setzen jedoch voraus, daß das Verfahren vor der ersten Instanz noch nicht durch Endentscheidung abgeschlossen ist. 15
Übrigens würde eine andere Auffassung zu Konsequenzen führen, die schwerlich möglich sind: Gäbe es ein Zwischenverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht, so müßte angenommen werden, der Bundestag werde selbst erst noch seine – der Beschwerde nach § 48 BVerfGG unterliegende – Endentscheidung zu fällen haben, nachdem entweder die Beschwerdefrist ungenutzt verstrichen ist oder das Bundesverfassungsgericht über eine erhobene Beschwerde oder wenigstens über die Verfassungsmäßigkeit des Wahlgesetzes mit der allgemeinen Wirkung aus § 31 oder § 95 BVerfGG entschieden hat. Das wäre unbefriedigend. Es wäre aber vor allem kaum vereinbar mit Art. 100 Abs. 1 GG, wonach ein Zwischenverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes nur dann möglich ist, wenn das Gesetz von der zur Sachentscheidung berufenen Instanz für verfassungswidrig, aber nicht – wie hier – für verfassungsmäßig gehalten wird. 16
Es handelt sich nach allem um eine Entscheidung des Bundestags, gegen die eine Beschwerde nur nach § 48 BVerfGG gegeben ist. Eine solche Beschwerde aber liegt nicht vor, weil keiner der Beschwerdeführer beschwerdeberechtigt ist. Die Wahlprüfungsbeschwerde ist daher als unzulässig zu verwerfen. 17
[BVerfGE 2, 300 (307)] Die gleichzeitig erhobene Verfassungsbeschwerde bleibt besonderer Entscheidung vorbehalten. 18

 


Matthias Cantow