FAQ Überhangmandate/negatives Stimmengewicht

[Überhangmandate]

Was ist ein Überhangmandat?
Wenn eine Partei mehr Direktmandate erhält, als ihr nach Zweitstimmen zustehen, behält sie diesen Überhang an Mandaten. Bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag gilt dies speziell für Landeslisten einer Partei (interne Überhänge).
Was ist der Unterschied zwischen internen und externen Überhangmandaten?
Bei externen Überhangmandaten hat die Partei insgesamt mehr Direktmandate, als ihr nach Zweitstimmen zustehen. Dies ist bisher noch nicht aufgetreten und realistisch nur für die CSU zu erwarten. Nichtausgeglichene externe Überhangmandate führen nicht zu inversem Wahlerfolg/negativem Stimmgwicht.
 
Interne Überhangmandate treten nur für einzelne Landeslisten auf, während in anderen Bundesländern auch noch die Landesliste zieht. Diese Nichtkompensation ist Ursache des negativen Stimmengewichts. Alle bisher aufgetretenen Überhangmandate waren interne Überhangmandate.
Was ist negatives Stimmengewicht (inverser Wahlerfolg)?
Wenn bei einer „Wahl“ eine Partei deshalb weniger Sitze erhält, weil sie zuviele Stimmen bekommen hat, bzw. wenn eine Partei deshalb mehr Sitze erhält, weil sie weniger Stimmen bekommen hat.
Die Stimmen wirken so, als würden sie vom Ergebnis der gewählten Partei abgezogen.
Wie entsteht inverser Wahlerfolg?
Die Landeslisten einer Partei sind verbunden, aber nur bei der Zuteilung von Listenmandaten, auftretende interne Überhangmandate bleiben unkompensiert. Die Stimmen für eine überhängende Landesliste reduzieren bei dieser den Überhang (d. h., für diese Liste ändert sich de facto nichts), auf Kosten einer anderen Landesliste der Partei (diese Liste verliert einen Sitz). Die Partei insgesamt erhält einen Sitz weniger. Je weniger Zweitstimmen, desto mehr Überhangmandate
Wann/Wo tritt negatives Stimmengewicht auf?
Seit den Bundestagswahlen von 1957, d. h. seit den Wahlen mit verbundenen Landeslisten kann es auftreten und tritt es auf. Es tritt bei allen Landeslisten mit Überhangmandaten auf, bei fast allen, bei denen die Landesliste nicht gezogen hat (Überhang Null) und bei einigen Landeslisten bei denen ein Sitz von der Liste besetzt wurde. Wenn für die Unterverteilung zusätzlich das Sitzzuteilungsverfahren Hare/Niemeyer Verwendung findet, kann negatives Stimmgewicht praktisch bei jeder Landesliste auftreten.
Ich habe keine Lust nachzurechnen, wie kann diese Behauptung belegt werden?
Siehe u. a.:
Wahleinspruch von Prof. Hans Meyer, BT-Drucks. 13/2800, S. 5 ff. (bzw. KritV 1994, S. 312
bzw. Mahrenholz, Sachverständigenanhörung vom 28.02.1996, Stenogr. Bericht S. 69,
bzw. BVerfGE 95, 335 <343 u. 346>)
Ehlers/Lechleitner, Die Verfassungsmässigkeit von Überhangmandaten, JZ 1997, S. 761 ff.
Gutachten des Statistischen Bundesamtes von 1997 – S. 1S. 2A1A2
Stellungnahme, Bundesministerium des Innern
Martin Fehndrich, Spektrum der Wissenschaft, Paradoxien des Bundestags-Wahlsystems, Februar 1999, Seite 70
Mathematik lehren (Juni 1998) Heftthema: Wahlen
siehe Antwort zu „Warum kann so etwas passieren?“
Alles nur Zufall?
Weder bei der Wahl, noch bei der Berechnung der Sitzverteilung wird gewürfelt. Durch die Regelmäßigkeit und Vorhersehbarkeit kann nicht mehr von Zufall gesprochen werden. Und weder das Zufallsprinzip noch inverser Wahlerfolg gehören in ein Wahlsystem.
Alles nur Rundungsfehler?
Beim inversen Wahlerfolg ist es gerade das Bestreben einer Landesliste, dass soweit wie möglich abgerundet wird, um Anspruch auf so wenig wie möglich Listenmandate zu haben - je weniger Zweitstimmen, umso mehr Überhangmandate. Durch die Kopplung an die Überhangmandate ist der Fehler systematisch.
Nebeneffekt, klein, unwichtig?
Ohne die zwölf Überhangmandate der CDU hätte Helmut Kohl nach der Bundestagswahl 1994 keine Mehrheit gehabt.
Der Effekt beeinflusst das Wahlverhalten jedes Wählers, der sich fragt wie sich seine Stimme auf das Wahlergebnis auswirken kann. Die Größenordnung des Effekts liegt daher mindestens bei der Größenordnung der Zahl der Überhangmandate.
Absolute Ausnahme und ganz seltene Einzelfälle?
Negative Stimmgewichte treten in Bremen regelmäßig seit 1957 auf und u. a. auch bei allen überhängenden Landeslisten sowie bei vielen fast überhängenden Listen. Durch diesen kausalen Zusammenhang mit dem möglichen Auftreten von Überhangmandaten tritt dieser Effekt sogar öfter auf, als Überhänge entstehen.
„Es gibt keine absolute Gerechtigkeit“ ...
... also schaffen wir die Justiz ab. Was immer eine absolute Gerechtigkeit sein mag, rechtfertigt dies nichts, schon gar nicht Willkür. Immerhin eine relative Gerechtigkeit ist möglich, ein System, bei dem ein Stimmengewinn nicht zu einem Sitzverlust, bzw. ein Stimmenverlust nicht zu einem Mandatsgewinn führt.
Dazu gibt es schon längst ein BVerfG-Urteil?
Das Bundesverfassungsgericht hat nur die Proporzverzerrung durch Überhangmandate (in engen Grenzen) gebilligt, zu negativen Stimmengewichten/inversem Erfolgswert hat es sich bis jetzt noch nicht geäußert. (Erstaunlich ist dies allerdings, da H. Meyer im Wahleinspruch (BT-Drs. 13/2800 und BVerfGE 95, 335) schon ein Beispiel erwähnt hat, das weder vom Bundestag, noch vom Bundesverfassungsgericht aufgegriffen oder gar gerechtfertigt wurde.)
Erübrigt sich das Problem durch bessere Wahlkreiseinteilung?
Für die Zahl der Überhänge ist Zahl der Wahlkreise in den Ländern relevant, der genaue Zuschnitt und die Größe der einzelnen Wahlkreise dürfte bis auf Fälle stark manipulativer Wahlkreisgeometrie völlig irrelevant sein. Das Problem würde so auch nicht erledigt, sondern allenfalls abgeschwächt.
Liegt es am Sitzzuteilungsverfahren Hare/Niemeyer?
Der Effekt des negativen Stimmgewichts ist vom Sitzzuteilungsverfahren weitgehend unabhängig, er trat schon vorher von 1957 bis 1983 auf - damals wurde das Verfahren nach d’Hondt verwendet. Allerdings macht es gerade das System Hare/Niemeyer nicht besser, denn durch die Einflüsse dieses System kann inverser Erfolgswert praktisch bei allen Landeslisten auftreten. (Ziehen Sie von einer beliebigen Landesliste der CDU 30.000 Stimmen ab!) Das Verfahren Hare/Niemeyer kann daher allenfalls bei fester Anzahl der Mandate und Wähler angewendet werden, also nicht bei Unterverteilungen, Sperrklauseln und Ausgleichsmandatsregelungen. Eine Alternative zu Hare/Niemeyer ist Sainte-Laguë.
Daran, dass man nur ganze Mandate zuteilen kann?
Die Ganzzahligkeit von Mandaten ist nicht Ursache dieses Effekts, bei einer gedachten Regelung mit Bruchteilssitzen macht sich inverser Wahlerfolg direkt bemerkbar, die gewählte Partei verliert für jede erhaltene Stimme einen gewissen Bruchteil eines Sitzes.
Liegt es am Stimmensplitting?
Nein, das negative Stimmengewicht auch tritt ohne Splitting auf. Beim Stimmensplitting erhöht man den Erfolgswert seiner Stimme darüberhinaus, durch Wählen einer anderen Partei, erkauft sich dies aber durch die Unterstützung einer weniger gewünschten Partei (zweite Wahl). Stimmensplitting ist die naheliegende Alternative zum wertlosen Verfallenlassen seiner Stimme (mit negativem Gewicht). Und da Stimmensplitting wiederum zu Überhangmandaten und damit zu inversem Wahlerfolg führt, schaukelt sich beides immer weiter auf.
Also eine Proporzverzerrung?
Inverser Wahlerfolg geht über eine blosse Proporzverzerrung weit hinaus. Die Proprozverzerrung entsteht nicht durch Mandate, für die mehr oder weniger Stimmen aufgebracht werden müssen, sondern durch Mandate, für die eine Partei Stimmen verlieren muss, damit sie diese erhält.
Was ist so schlimm am negativen Stimmengewicht?
Das Auszählungsverfahren beschreibt keine Wahl mehr, wenn die Zustimmung bei der Wahl zu einer Ablehnung durch die Sitzberechnung wird.
Es ist keine freie (Aus-)Wahl, wenn einige Wahlentscheidungen im Endeffekt zu einer Bestrafung des Wählenden/Gewählten führen.
Es kann auch nicht als gerecht angesehen werden, wenn eine Partei wegen einem besseren Wahlergebnis (mehr Stimmen), Sitze verliert. Der Wille des Wählers wird damit ins genaue Gegenteil verkehrt.
Ist der Effekt unvermeidbar?
Bei Kompensation interner Überhänge und einer Änderung zum System Sainte-Laguë oder anderen Divisorverfahren (statt Hare/Niemeyer) tritt kein inverser Erfolgswert mehr auf.

von Martin Fehndrich (letzte Aktualisierung: 01.09.2004)