Analyse des Wahlgesetzentwurfs der Koalitionsfraktionen nach den Änderungen im September 2011
Zusammenfassung der Analyse
Die Koalitionsfraktionen der CDU/CSU und FDP haben am 28. Juni 2011 einen Entwurf für ein Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes (BWahlG) eingebracht (BT-Drs. 17/6290), der am 30. Juni zum ersten Mal im Plenum beraten wurde. Zusammengefasst führt der Entwurf weiterhin zu negativem Stimmgewicht und Überhangmandaten sowie einer weniger proportionalen Verteilung der Sitze.
Dies gilt auch nach den Änderungen in der Beschlussempfehlung des Innenausschusses
(BT-Drs. 17/7069).
Wesentliche Änderungen des Entwurfs
- Die Zuteilungsreihenfolge (Ober-/Unterverteilung) der Sitze – zuerst an die Parteien und dann an die Länder – wird umgedreht. Nach dem Entwurf soll zuerst an die Bundesländer zugeteilt und danach landesintern an die Listen der Parteien unterverteilt werden.
- Basis des ersten Zuteilungsschrittes an die Länder ist dabei die Zahl der Wähler (statt der Zweitstimmen der nicht an Sperrklauseln gescheiterten Parteien). Grundlage für den zweiten Zuteilungsschritt innerhalb der Länder sind weiterhin die Zweitstimmen der zuteilungsberechtigten Parteien.
- Ein neuer Absatz 2a in § 6 BWahlG verteilt in einer Art neuen Listenverbindung Zusatzsitze an die Parteien (in der Summe rund 10).
Eigenschaften des Entwurfs
- Negatives Stimmgewicht bleibt erhalten
Das im Gesetzentwurf geäußerte Ziel, negatives Stimmgewicht zu beseitigen oder deutlich zu reduzieren, wird durch den Entwurf nicht erreicht. Negatives Stimmgewicht ist weiterhin in ähnlicher Größenordnung möglich. So würde die SPD auch bei Anwendung des neuen Wahlgesetzes und einem Ergebnis wie zur Bundestagswahl 2009 davon profitieren, wenn sie in Bremen 10.000 Zweitstimmen weniger erhalten hätte.
- Überhangmandate bleiben erhalten
Das wird nicht bestritten – und ist auch das Konstruktionsziel des Entwurfs. Wenn man den Anfall vieler Überhangmandate als den Normalfall ansieht, könnte man deren Erhalt als „minimalinvasiv“ zum Status quo ansehen. Damit entfällt auch das bisherige Argument, Überhangmandate würden nur in Ausnahmefällen auftreten und wären dann unvermeidlich.
- Die Proportionalität wird auf mehreren Ebenen reduziert.
- Der Gesetzestext wird noch komplizierter – die Berechnung der Sitzverteilung noch komplexer.
- Die Berücksichtigung der Zahl der Wähler (inkl. der ungültigen Stimmen) im ersten Zuteilungsschritt führt zu einer Kopplung von positiver Erst- und negativer Zweitstimmenwirkung.
Analyse
- Negatives Stimmgewicht tritt weiterhin auf
- Eine Trennung der Listenverbindungen (§ 7 BWahlG) reicht nicht aus. Jede Änderung, die nur die Rundung (Reihenfolge und Verfahren) ändert, kann negatives Stimmgewicht nicht beseitigen. Das gilt speziell auch für die Verteilreihenfolge Land/Partei und das Verschieben überhängender Listen in die Oberverteilung. Dies gilt auch für einen Verzicht auf Rundung, also eine nichtganzzahlige Zuteilung der Sitze (hier fallen alle Varianten vonZuteilungsreihenfolgen zusammen). In allen Fällen bleibt ein Kurvenabschnitt mit negativer Steigung [Zur Wirkungslosigkeit der ganzen Varianten Trennung Listenverbindung]
- Die Rundungsreihenfolge Land vor Partei führt zu einem zusätzlichen Mechanismus für das negative Stimmgewicht der ganz ohne Überhangmandate auftritt [vgl. Meldung vom 8.4.2011]
- Verteilung nach Wahlbeteiligung reicht nicht (allerdings Verteilung nach Bevölkerung wie 1953)
Die Wahlbeteiligung als ein Verteilparameter macht die Auswirkung einer Stimme noch undurchschaubarer und das negative Stimmgewicht weniger gut kalkulierbar. Die Verteilung nach Wähler führt nur noch bei Wahlenthaltung (beide Stimmen) zu negativem Stimmgewicht.
Die Kopplung von Erst- und Zweitstimme würde die Wähler vor ein Dilemma stellen. Die Erststimme hätte wegen des Wahlkreisgewinns weiterhin ein mehr oder weniger positives Stimmgewicht.
Eine ähnliche Kopplung würde man mit einem Einstimmenwahlrecht erzielen. Allerdings läuft die Regelung in Absatz 2a zur neuen Listenverbindung, dieser Argumentation zuwider.
Nach Wahlbeteiligung erlaubt auch einen argumentativen Trick, denn bei den Beispiele muß man nun differenzieren ob nicht oder ungültig gewählt wurde.
- Der Absatz 2a ist wieder eine Art Listenverbindung.
Der Mechanismus kann negative Stimmgewichte durch die Zuteilung/Nichtzuteilung von Zusatzsitzen erzeugen.
- Zunahme der Stellen, an denen negatives Stimmgewicht auftritt
(eine Beispielzählung ergibt eine Steigerung um 64%)[Neue Berechnung folgt]. D.h. der Effekt wird nicht seltener und tritt schon gar nicht nur bei "unwahrscheinlichen Verkettung kumulativer Bedingungen" auf
- In der Erläuterung des Gesetzestextes wird das verbleibende Auftreten von negativem Stimmgewicht eingestanden und versucht kleinzureden. Dabei wird die Undurchschaubarkeit der Berechnung als Argument aufgeführt ("zu komplex für eine Berechnung")
- Negatives Stimmgewicht kann man in zwei Kategorien einteilen. 1. Einen systematischen Anteil, der dem Abfallen, also der negativen Steigung, der Kurve Stimmen-Sitze entspricht und 2. einem Rauschanteil, mit negativen und positiven Sprüngen. Alle diskutierten Rundungsvarianten lassen den systematischen (also schlimmeren, da berechenbaren) Anteil bestehen.
- Auch eine moderate Minderung von negativem Stimmgewicht (Rauschanteil) würde den Auftrag des BVerfG nicht erfüllen.
- Reduzierung der Proportionalität
- Unschärfen auf mehreren Ebenen
- Unterschiedliche Gewichtung der Stimmen in den Bundesländern durch Verteilung nach Wahlbeteiligung statt nach Zahl der Parteistimmen. Verfallende Stimmen (ungültige, Piraten- und andere Sonstige) werden an die großen Parteien verteilt. Größere Auswirkung, wenn eine Regionalpartei an der Sperrhürde scheitert (PDS Bundestagswahl 2002).
- 16 Rundungen pro Partei mit kumulierten Rundungsfehlern. Die bisherige parteiinterne implizite Reststimmenverwertung von Sainte-Laguë wird durch eine landesinterne ersetzt.
- Nur selektive "Reststimmenwirkung" der Listenverbindung des Absatzes 2a. Negative "Reststimmen" werden nicht berücksichtigt.
- Absatz 2a reduziert Proportionalität
- weniger Regionalproporz. Pro Land wird ein halber Sitz zugelost (d.h 5x wird 1/8 gewürfelt)
- weniger Parteiproporz. Pro Landesliste wird 1/8 Sitz zugelost, d.h. ca. zwei Sitze pro Partei bundesweit (das ist interessanterweise kleinenfreundlicher als Adams)
- widerspricht der Systematik des Verteilungsfahren Sainte-Laguë
- Absatz 2a (Reststimmenverwertung, Listenverbindung, Überlaufmandate)
Ein neuer Absatz 2a soll einen der Nachteile der Abschaffung der Listenverbindungen mildern. Stimmen für kleine Landeslisten, also kleine Parteien in kleinen Bundesländern wie der FDP in Bremen, drohen wirkungslos zu verfallen, wenn keine Chance auf das Erreichen eines Sitzes gesehen wird. Dazu wird mit der Sitzzahl und der Hare-Quote des Landes eine durchschnittlich notwendige Stimmenzahl berechnet und mit der Zweitstimmen der Partei verglichen. Die Differenz sind die "Reststimmen". Die positiven "Reststimmen" werden für die Parteien bundesweit aufsummiert, negative "Reststimmen" werden nicht berücksichtigt. Aus der "Reststimmensumme" und wahrscheinlich der Bundes-Hare-Quote wird der Anspruch auf Zusatzsitze nach Abs. 2a ermittelt. Der Anspruch wird standardgerundet. Die Zusatzsitze gehen an die Landeslisten mit den größten "Reststimmen" (eine Art Unterverteilung). zuerst an Landeslisten mit Überhangmandaten.
- Die zusätzliche Anzahl von Sitzen beträgt ca. zehn bei 80 Landeslisten. Pro Landesliste ein Achtel Sitz, also rund zwei Sitze pro Partei.
- Es handelt sich um keine echte Reststimmenverwertung z.B. im Sinne des Quotenverfahrens nach größten Resten (Hare-Niemeyer)
- Die Vorschrift hat auch nur eine halbe Wirkung, da nur positive, aber keine negativen Reste berücksichtigt werden.
- Der Absatz konterkariert das Divisorverfahren mit Standardrundung (Sainte-Laguë), welches schon ein implizite Reststimmenverwertung beinhaltet.
- Die Vorschrift kann man als eine Art Listenverbindung ansehen.
-
Der Absatz verschärft das negative Stimmgewicht und führt den Argumentationsversuch "Wahlbeteiligung" durch die neue Form von "Listenverbindung" ad absurdum
- Der Absatz kann Überhangmandate abbauen, allerdings nur rund 1/8 Sitz pro
überhängender Landesliste einer Partei (also rund zwei Sitze weniger)
In extremen Fälle mit acht überhängenden Listen wie 2009 also ca. 1,0 Überhangmandate weniger. Kein besonders großer Effekt. Eine weitere eher marginale Relativierung der Überhangmandate ist, das diese nun nicht mehr 598 sondern ca. 607 606 anderen Sitzen gegenüberstehen.
- Unverständlich und kompliziert
- Zahlreiche Querverweise und indirekte Formulierungen machen Paragraf 6 schwer lesbar und schwer verständlich. Er ist von allen Gesetzentwürfen der sprachlich schwächste.
- Wähler werden noch weniger verstehen, wie sich ihre Stimme auswirkt, als heute. Das Wahlrecht wird noch unverständlicher.
- Die Berechnung wird aufwendiger durch die neue Größe Anzahl der Wähler, durch Wechsel des Verteilmaßstabes (von Wähler zu zuteilungsberechtigten Zweitstimmen), durch eine größere Zahl durchzuführender Unterverteilungen (16 Stück), durch Berechnung von "Reststimmen" für jede Landesliste, durch den neuen Verteilschritt der Berechnung der Zusatzsitze nach Absatz 2a.
- Mit dem Streichen der Listenverbindung (§ 7 alt) fehlt eine Regelung zur Verteilung zusätzlicher Sitze, die durch die neue Listenverbindungsregelungen in Absatz 2a und 3 nur unzureichend ersetzt wird.
- Im Gesetzentwurf finden sich eine Reihe handwerklicher Fehler. So steht dort nicht explizit, wie aus der "Reststimmensumme" ein Sitzanspruch berechnet wird (wir gehen von der Bundes-Hare-Quote aus). Oder die Mehrheitsklausel (Absatz 3) berücksichtigt bei der Unterverteilung der Mehrheitssitze nicht die Zusatzsitze aus Absatz 2a, es werden nach der Gesetzesbeschreibung grundsätzlich zwei Mehrheitssitze verteilt ("ein Sitz mehr als die Hälfte"). An wen die Mehrheitssitze gehen soll, ist nicht nachvollziehbar geregelt.
- Verteilparameter Wählerzahl statt Parteistimmen koppelt Erst- und Zweitstimmenwirkung
- Es gibt de facto keine Wahlenthaltung nur einer Stimme mehr,
eine nicht abgegeben Zweitstimme zählt ungültig und diese hat (anders als vorher) nun andere Wirkung als eine
völlige Wahlenthaltung.
- Dadurch Kopplung: Erststimmenwahlbeteiligung = Zweitstimmenwahlbeteiligung
- Dadurch teilweise Kopplung von positiver Erst- und negativer zweitstimmenwirkung
- Dilemma für Wähler, der abschätzen muß ob negative oder positive Wirkung überwiegt.
- Nur teilweise Kopplung. Weiterhin Effekt über Absatz 2a Listenverbindung.
- Eine ähnliche (und stärkere) Kopplung erhielte man durch eine Zusammenfassung von Erst- und Zweitstimme zu einer Stimme.
- Negatives Stimmgewicht wäre nur beseitigt, wenn negativer Sprung immer mit dem Verlust eines Direktmandats einherginge.
- Liste wird noch erweitert