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08.04.2011, Nachtrag: 11.04.2011 (Beispiel), 13.06.2011, 29.06.2011 (Gesetzentwurf)

Wahlrechtsreform? Zusätzliches negatives Stimmgewicht durch Koalitionsvorschlag

Nach Medienberichten sollen sich Union und FDP auf einem „konspirativem“ Treffen auf die Grundzüge eines neuen Bundestagswahlrechts geeinigt haben. Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Juli 2008 ist eine Änderung des Bundeswahlgesetzes zur Beseitigung des negativen Stimmgewichts bis zum 30. Juni dieses Jahres notwendig. Union und FDP wollen mit ihrem Vorschlag die im Bundestagswahlrecht nicht ausgeglichenen Überhangmandate erhalten und den Vorgaben aus Karlsruhe entsprechen. Das negative Stimmgewicht beseitigt der Vorschlag allerdings nicht, im Gegenteil:

Der Vorschlag (siehe u. a. tagesschau.de, faz.net) dreht die bestehende Zuteilungsreihenfolge (zuerst an die Parteien, dann an die Bundesländer) um. In Zukunft sollen die Sitze zuerst an die Bundesländer – und zwar nach Zahl der Wähler – verteilt werden, danach die so ermittelte Sitzzahl eines Bundeslandes an die dortigen Parteien.

Überhangmandate entstehen dabei nach wie vor in ähnlicher Anzahl. Auch negatives Stimmgewicht durch Überhangmandate lässt sich dadurch nicht beseitigen: Eine Stimme für die CDU im überhängenden Sachsen kann immer noch einen Sitz (im Falle negativen Stimmgewichts einen CDU-Sitz) aus einem anderen Bundesland nach Sachsen kippen lassen, der sich für Sachsens CDU wegen des Überhangs nicht auswirkt, in einem anderen Bundesland aber (beispielsweise Nordrhein-Westfalen) einem CDU-Abgeordneten einen Sitz kostet.

Darüberhinaus führt der Vorschlag zu einem zusätzlichen Mechanismus für negatives Stimmgewicht – ganz ohne Überhangmandate. Der Sitz durch die zusätzliche CDU-Stimme in Sachsen (welcher der CDU in Nordrhein-Westfalen verloren geht) muss nicht an die CDU gehen – er kann auch an eine andere Partei gehen.

Fazit: Keine Lösung

Der Vorschlag erreicht das schon sehr bescheidene Ziel der Beseitigung des negativen Stimmgewichts nicht, sondern baut einen zusätzlichen Mechanismus für deren Entstehung ein. Überhangmandate bleiben erhalten und die etwas andere Rundungsreihenfolge beeinträchtigt die Erfolgswertgleichheit zusätzlich durch eine zufällige Komponente. Im Prinzip wurde für den Vorschlag nur an der Rundung gespielt. Das hilft nicht. Genauso wenig hülfe es, nur die Listenverbindung abzuschaffen (auch wenn es das Bundesverfassungsgericht im Urteil andeutet). Ohne einen Eingriff in das Wahlsystem, der zumindest einige Überhangmandate beseitigt, kann negatives Stimmgewicht nicht verhindert werden.

Beispiel für negatives Stimmgewicht durch Verteilungsreihenfolge Land ⇒ Partei

Beispiel auf Basis des Wahlergebnisses der Bundestagswahl 2009 (alle Stimmzahlen hier): Es gelte im ersten Schritt eine Verteilung auf die Bundesländer nach dem Divisorverfahren mit Standardrundung (Sainte-Laguë) nach gültigen Zweitstimmen (also inkl. gültiger Stimmen an kleine Parteien) und im zweiten Schritt im Bundesland eine Unterverteilung mit Sainte-Laguë nach gültigen Zweitstimmen der Parteien, welche die bundesweite Fünfprozenthürde überwunden haben.

Divisor Bund:                72.600 Stimmen/Sitz
Divisor Niedersachsen:       69.200 Stimmen/Sitz (61 Sitze)
Divisor Nordrhein-Westfalen: 69.000 Stimmen/Sitz (129 Sitze, davon 11 Linke)

Nun erhalte Die Linke 50.000 Zweitstimmen weniger in Niedersachsen

Divisor Bund:                72.500 Stimmen/Sitz (NRW ein Sitz mehr, Niedersachsen einer weniger)
Divisor Niedersachsen        70.000 Stimmen/Sitz (FDP dort ein weniger, 8 statt 9)
Divisor Nordrhein-Westfalen: 68.500 Stimmen/Sitz (Linke dort ein mehr, 12 statt 11)

Ergebnis: Die Linke erhielte für 50.000 Zweitstimmen weniger in Niedersachsen einen Sitz mehr in Nordrhein-Westfalen. Überhangmandate spielen in diesem Beispiel keine Rolle, negatives Stimmgewicht gäbe es nun auch ohne sie.

Nachtrag: In der Bundestagsdebatte am 26. Mai 2011 zu Wahlrechtsreformvorschlägen der Opposition (BT-Plenarprotokoll 17/111, S. 12626 ff.) haben die Abgeordneten Günter Krings (CDU) und Stefan Ruppert (FDP) negatives Stimmgewicht bei diesem Modell eingeräumt (als „Restwirkungen“/„kleines Restrisiko“) und bestätigt, dass dieses Modell koalitionsintern immer noch in der Diskussion ist.

Nachtrag: Der Gesetzentwurf der Koalition vom 28. Juni 2011 (BT-Drs. 17/6290) weist wirklich die hier beschriebene Verteilreihenfolge auf, ergänzt durch eine Zusatzsitzklausel, die allerdings auf negatives Stimmgewicht keinen Einfluß hat (wenigstens keinen positiven).


von Martin Fehndrich (08.04.2011, ergänzt am 29.06.2011)