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01.09.2013, Nachtrag: 02.09.2013

Bundestagswahl 2013: Stimmabgabe läuft, doch Sitzverteilungsregeln sind noch unklar

Drei Wochen, nachdem die ersten Wähler per Briefwahl ihre Stimme abgeben können, sind die letzten Parameter für das Verfahren zur Ermittlung der Sitzverteilung bei der Bundestagswahl 2013 immer noch nicht festgelegt. Für die Berechnung der Sitzverteilung benötigt man die Bevölkerungsanteile der Bundesländer (§ 6 Absatz 2 Satz 1 BWahlG), um auf deren Basis 598 Sitze den sechzehn Ländern zuzuordnen. Das Bundeswahlgesetz spricht hier sehr allgemein von „Bevölkerungsanteil (§ 3 Absatz 1)“, die Bundeswahlordnung (§ 78 Absatz 1 Satz 2 Nummer 7) nur wenig präziser vom „Bevölkerungsanteil (§ 3 Absatz 1 Bundeswahlgesetz) gemäß den letzten amtlichen Bevölkerungszahlen zum Jahresende“.

Zwei Bevölkerungsstatistiken gleichzeitig – Bundeswahlleiter entscheidet sich gegen Zensus 2011

Nun hat der Bundeswahlleiter (als Präsident des Statistischen Bundesamtes) am vergangenen Dienstag endlich die amtlichen Bevölkerungszahlen zum Stichtag 31. Dezember 2012 veröffentlicht – sie waren ursprünglich für Mai angekündigt. Diese Zahlen beruhen erstmals auf Ergebnissen der 2011 durchgeführten Volkszählung (Zensus) und sind daher nicht unumstritten. Insbesondere dort, wo die Bevölkerungszahlen überraschend stark nach unten korrigiert wurden, sind etliche Klagen von Kommunen angekündigt worden. Darüber hinaus gelten die Zensus-Ergebnisse hinsichtlich des Merkmals „Staatsangehörigkeit“ offiziell nur als vorläufig. Mit der Bezugnahme auf § 3 Absatz 1 BWahlG ist aber klargestellt, dass Ausländer nicht mitzurechnen sind, es also nur auf die „deutsche Bevölkerung“ ankommt.

(Wobei die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Februar 2011 (2 BvC 3/11) nahelegt, dass auch Minderjährige bei der Berechnung von Verfassung wegen nicht berücksichtigt werden dürfen, jedenfalls sofern ihr Anteil an der Bevölkerung in den Ländern nicht annähernd gleich groß ist. Die genaue Verteilung der Minderjährigen auf die Bundesländer zum Stichtag 31. Dezember 2012 wird nach unseren Informationen aber nicht vor Mitte September vorliegen.

Anhänger strenger Rechtsförmlichkeit werden sich übrigens daran stoßen, dass auf den kompletten § 3 Absatz 1 verwiesen wird, obwohl eigentlich nur dessen letzter Satz gemeint ist. Dieser lässt sich aber nach den üblichen Zitierregeln nicht eindeutig benennen, weil der Gesetzgeber die Empfehlung des Justizministeriums ignoriert hat, in eine Aufzählung keinesfalls mehrere Sätze zu stecken.)

Von daher überrascht es nicht, dass der Bundeswahlleiter nicht etwa auf die Bevölkerungszahlen auf Grundlage des Zensus 2011 zurückgreifen möchte, sondern auf die „alte“ Bevölkerungsfortschreibung auf Basis der Volkszählungen von 1987 (West-Deutschland) bzw. 1981 (Ost-Deutschland). Dies hat das Büro des Bundeswahlleiters gegenüber Wahlrecht.de angekündigt. Demnach sollen am morgigen Montag die bislang unveröffentlichten – und jedenfalls so lange kaum als „amtlich“ zu bezeichnenden – Bevölkerungszahlen der „alten“ Fortschreibung zum Stichtag 31. Dezember 2012 und die sich daraus ergebenden Ländersitzkontingente auf der Internetseite des Bundeswahlleiters bekanntgegeben werden.

Die Länder-Sitzkontingente der Pseudositzverteilung

Nach den uns bereits vorliegenden Bevölkerungszahlen ergeben sich tatsächlich unterschiedliche Sitzkontingente je nachdem, welche Volkszählung man zu Grunde legt:

  Zensus 1981/1987 Zensus 2011
Dt. Bevölkerung
am 31.12.2012
Sitzkon-
tingent
Dt. Bevölkerung
am 31.12.2012
Sitzkon-
tingent
Quelle: Statistisches Bundesamt und eigene Berechnungen
Schleswig-Holstein 2.686.085 22 2.680.699 22
Mecklenburg-Vorpommern 1.585.032 13 1.568.869 13
Hamburg 1.559.655 13 1.511.237 12
Niedersachsen 7.354.892 59 7.328.384 59
Bremen 575.805 5 578.555 5
Brandenburg 2.418.267 19 2.401.116 19
Sachsen-Anhalt 2.247.673 18 2.213.867 18
Berlin 3.025.288 24 2.950.977 24
Nordrhein-Westfalen 15.895.182 128 15.878.188 129
Sachsen 4.005.278 32 3.960.399 32
Hessen 5.388.350 43 5.311.865 43
Thüringen 2.154.202 17 2.131.014 17
Rheinland-Pfalz 3.672.888 30 3.702.582 30
Bayern 11.353.264 92 11.394.141 92
Baden-Württemberg 9.482.902 76 9.360.185 76
Saarland 919.402 7 923.711 7
  74.324.165 598 73.895.789 598

Nachtrag vom 02.09.2013: Wie angekündigt hat der Bundeswahlleiter heute diese Bevölkerungszahlen und Sitzkontingente auf Grundlage der „alten“ Bevölkerungsfortschreibung öffentlich mitgeteilt.

Hamburg vs. Nordrhein-Westfalen

Letztlich geht es also in den Bundesländern Hamburg und Nordrhein-Westfalen jeweils um einen Sitz mehr oder weniger. Das mag man für eine unwesentliche Feinheit der neuen Sitzverteilungsregeln halten, schließlich dient sie nur der Bestimmung einer (Pseudo)-Sitzverteilung, die vor der eigentlichen Berechnung der Sitzverteilung vollständig wieder verworfen wird. Sie bestimmt allein die Größe des neuen Bundestages, also ob ihm ein paar Abgeordnete mehr oder weniger angehören. Die oben aufgeführten Sitzkontingente sagen nichts darüber aus, wie viele Abgeordnete letztlich tatsächlich aus dem jeweiligen Bundesland in den Bundestag kommen. Die Entscheidung „gegen“ ein Bundesland kann sogar dazu führen, dass diesem Bundesland am Ende mehr Sitze zugeteilt werden.

Nach den aktuellen Umfragen spricht einiges dafür, dass die CDU erneut die meisten Überhangmandate erringen könnte. Nach den neuen Regeln des Bundestagswahlrechts würde sich die Gesamtsitzzahl somit danach richten, wie viele Sitze notwendig sind, um alle (Pseudo-)Sitze der CDU in den 16 Bundesländern proporzmäßig abzudecken. Wenn nun bei der Pseudo-Verteilung der 13. Sitz in Hamburg oder der 129. Sitz in Nordrhein-Westfalen an die CDU fallen sollte, würde die Gesamtsitzzahl – und somit die Sitzverteilung im Bundestag – davon abhängen, welche Bevölkerungszahlen man zu Grunde legt.

Verstoß gegen Unmittelbarkeit der Wahl?

Die ausstehende Festlegung der Sitzkontingente beeinträchtigt somit die Unmittelbarkeit der Wahl der bisherigen Briefwähler, auch wenn denen die Unkenntnis über einen Startwert eines nicht besonders wichtigen Zufallselementes im neuen und noch nicht sehr bekannten Wahlrecht herzlich egal sein dürfte. Letztendlich sind aber alle Wähler betroffen. Denn schließlich trifft die Entscheidung über die Landeskontingente und die endgültige Sitzverteilung formal gesehen nicht der Bundeswahlleiter, sondern erst der Bundeswahlausschuss in seiner Sitzung am 9. Oktober 2013. Zu diesem Zeitpunkt wird aber bereits bekannt sein, welche Parteien (im Rahmen der Rundungsschwankungen) und welche Kandidaten bei der Entscheidung für die „richtigen“ Bevölkerungszahlen profitieren können. Die Gesetz- und Verordnungsgeber haben also mit ihrer uneindeutigen Regelung die Entscheidung über die Zusammensetzung des Bundestags ein Stück weit ins Ermessen von Bundeswahlleiter und Bundeswahlausschuss gelegt. Dies muss ein Gräuel auch für den Bundeswahlleiter sein, der kürzlich der Zeit sagte, dass ein gutes Gesetz klare Regeln enthalten sollte, die viele Einzelfälle abdecken und ihm damit wenig Spielraum für Interpretationen lassen und ihm idealweise fast alle Entscheidungen abnehme.

Der neue § 6 Absatz 2 Satz 1 BWahlG wurde recht überstürzt erst in letzter Minute nach der Anhörung im Innenausschuss geändert, kurz bevor der Bundestag über das neue Wahlrecht abgestimmt hat. Im ursprünglichen Gesetzentwurf war den Ländern noch schlicht die doppelte Wahlkreiszahl zugeordnet worden. Dies war zwar ein gröberer, aber immerhin ein auf eindeutig definierter Grundlage stehender Wert. Das Innenministerium hat es mit der neuen Bundeswahlordnung versäumt, die rechtzeitige Präzisierung dieser Unklarheit des Wahlsystems sicherzustellen, obwohl die Parallelität von zwei verschiedenen Bevölkerungsfortschreibungen natürlich absehbar war. Und der Bundeswahlleiter hat es nicht geschafft – und konnte es unter diesen Bedingungen womöglich gar nicht schaffen –, vor Beginn des Wahlakts eine (vorläufige) Entscheidung zu treffen.

Das ist natürlich ärgerlich für alle diejenigen, die aus Prognosen, Hochrechnungen und ausgezählten Stimmen eine Sitzverteilung berechnen wollen. Viel schlimmer dürfte aber die Beeinträchtigung der Unmittelbarkeit der Wahl sein, wenn Entscheidungen über Parameter des Wahlrechts erst nach der Wahl fallen und wenn der Bundeswahlleiter bzw. der Bundeswahlausschuss eine Entscheidung treffen, die für einige Wahlbewerber Sitz oder nicht Sitz bedeuten kann. Und wenn dies erst nach der Auszählung erfolgt, wissend um diese Bewerber.

So wird selbst die nicht besonders ambitionierte Bedingung von CDU-MdB Günter Krings an eine Neuregelung des neuen Bundestagswahlrechts – „das brauche ich streng genommen erst am Wahlabend um 18 Uhr“ (DLF-Interview vom 28. August 2012) – verletzt oder jedenfalls nur vorläufig erfüllt.


von Martin Fehndrich und Wilko Zicht (01.09.2013, letzte Aktualisierung: 02.09.2013, letzte Aktualisierung der Links: 01.09.2013)