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27.01.2006 (Nachtrag: 12.02.2006)

Palästina: Verzerrendes Wahlsystem bringt Hamas die Mehrheit

Wahlsystem: Grabenwahlsystem mit verschärfter Mehrheitswahl

Bei der palästinensischen Parlamentswahl sind insgesamt 132 Sitze zu verteilen, davon 66 nach einer Listenwahl, 66 nach einer relativen Mehrheitswahl in Mehrmandatswahlkreisen. Dabei gilt ein Grabenwahlsystem, d. h. im Gegensatz z. B. zum Bundestagswahlsystem gibt es keine Verrechnung der Listen- und Wahlkreissitze. Nur die Hälfte der Sitze wird also nach dem Verhältniswahlrecht verteilt.

Für die Listenwahl gilt eine landesweite 2 %-Sperrklausel, die 66 Sitze werden nach dem Divisorverfahren mit Standardrundung (Sainte-Laguë) im gesamten Wahlgebiet zugeteilt. Auf den geschlossenen Listen musste eine bestimmte Frauenquote erfüllt werden: mindestens je eine Kandidatin auf den ersten drei Listenplätzen, den folgenden vier Listenplätzen und den jeweils folgenden Fünferblocks. Die Reihenfolge der Kandidaten auf den Listen konnte von den Wählern nicht verändert werden.

Für die Mehrheitswahl ist das Wahlgebiet in 16 Wahlkreise eingeteilt, in denen entsprechend der Bevölkerungszahl Sitze zu vergeben sind (ein bis acht Sitze). Jeder Wähler hat so viele Wahlkreisstimmen, wie Sitze im Wahlkreis zu vergeben sind. Die Kandidaten mit den meisten Stimmen sind gewählt. Stimmen die Wähler weitgehend parteitreu ab, erhält mit diesem Wahlsystem die relativ stärkste Partei meist alle zu verteilenden Sitze des Wahlkreises, selbst wenn sie stimmenmäßig weit unter 50 % liegt. Die Mehrheitswahl in Mehrpersonenwahlkreisen verzerrt daher in der Regel den Proporz noch stärker zugunsten der stärksten Partei als es die relative Mehrheitswahl in Einpersonenwahlkreisen tut.

Sechs Wahlkreissitze sind für Abgeordnete der christlichen Minderheit reserviert. In den Wahlkreisen Jerusalem (2), Bethlehem (2), Ramallah und Gaza wird ein Teil der Sitze vorab an die christlichen Kandidaten mit den meisten Stimmen zugeteilt.

Endergebnis

Die proporz-verzerrende Wirkung des Wahlsystem hat voll zu Gunsten der Hamas ausgeschlagen, die unter dem Namen „Wechsel und Reform“ angetreten ist. Während die Hamas bei der Listenwahl Pech hatte und ganze vier Stimmen an einem weiteren Mandat (von Fatah) vorbeigeschrammt ist, konnte sie in den Wahlkreisen mit weniger als 40 % der Stimmen über zwei Drittel der Sitze erringen, während auf die Fatah-Bewegung mit 36,8 % der Wahlkreisstimmen nur ein Viertel der Wahlkreissitze entfielen.

Die übrigen vier Wahlkreissitze konnten von unabhängigen Kandidaten gewonnen werden. Drei dieser Unabhängigen haben  aber davon profitiert, daß die Hamas in den betroffenen Wahlkreisen entsprechend weniger eigene Kandidaten aufgestellt hatte. Sie dürften also dem Hamas-Lager zuzurechnen sein. Bei dem vierten Unabhängigen handelt es sich um einen christlichen Kandidaten im Wahlkreis Gaza. Die fünf anderen Christen-Sitze gingen allesamt an Kandidaten der Fatah-Bewegung. Zwar wären diese fünf Sitze nach dem Wahlergebnis auch ohne die Minderheitenklausel auf (andere) Fatah-Kandidaten entfallen. Die Hamas hatte in diesen Wahlkreisen aber – augenscheinlich aus taktischen Gründen – entsprechend der Zahl der für Christen reservierten Sitze weniger Kandidaten aufgestellt. Hätte die Hamas hier genauso viele Kandidaten nominiert wie Sitze zu vergeben waren, wären die fünf Sitze ohne Minderheitenklausel zumindest teilweise wohl an die Hamas gefallen. Die Klausel wird sich also letztlich zugunsten der Fatah-Bewegung ausgewirkt haben, auf Kosten der Hamas.

Bei der landesweiten Listenwahl konnte die Hamas dagegen nur einen einzigen Sitz mehr als die Fatah-Bewegung erringen. Die kleineren Listen blieben teilweise deutlich unter ihren Umfrage-Ergebnissen und konnten die Zwei-Prozenthürde meist nur knapp überwinden.

Nach dem vorläufigen Endergebnis hatte die Fatah-Bewegung noch je einen Listen- und Wahlkreissitz weniger.

Stimmen (Listen) Stimmen (Wahlkreis) Sitze
(Liste)
Sitze
(WK)
Sitze
gesamt
Wahlberechtigte 1.332.396 Um vergleichbare Stimmen-
zahlen zu erhalten, wurden
die errungenen Wahlkreis-
stimmen durch die Zahl der
im jeweiligen Wahlkreis zu
vergebenden Sitze geteilt
(und gerundet).
Wähler 1.042.424 78,2%
davon
  Leere Stimmzettel21.6872,1%
  Ungültige Stimmzettel29.864 2,9%
  Gültige Stimmen990.87395,1% 905.509 
  davon
    Wechsel und Reform
    Hamas
440.40944,4% 356.74239,4%294574
    Fatah Bewegung
    Marwan Barguti
410.55441,4% 333.47336,8%281745
    Märtyrer Abu Ali Mustafa
    Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP)
42.1014,2% 25.4172,8%33
    Die Alternative
    Al-Badil
28.9732,9% 3.3370,4%22
    Unabhängiges Palästina
    Palästinensische Nationale Initiative (Mubadara)
26.9092,7%  22
    Der dritte Weg
    Einzelpersonen, u.a. Salam Fayyad
23.8322,4%  22
    Freiheit und soziale Gerechtigkeit
    Palästinensische Volkskampffront
7.1270,7%1.3380,1%   
    Freiheit und Unabhängigkeit
    Palästinensisch-arabische Front
4.3980,4%3830,0%   
    Märtyrer Abu al-Abbas
    Palästinensische Befreiungsfront (PLF)
3.0110,3%     
    Nationale Koalition für Gerechtigkeit
    und Demokratie (Wa'ad)
1.806 0,2%     
    Palästinensische Gerechtigkeit
    Einzelpersonen
1.723 0,2%     
    Unabhängige 184.82020,4%44
66 66 132
Divisor (Sainte-Laguë) 14.929,2    

Nachtrag vom 12.02.2006

Nach einer Analyse der Konrad-Adenauer-Stiftung (Länderbüro Palästina) ist das schlechte Abschneiden der Fatah u. a. auch auf Fatah-Gegenkandidaturen (als Unabhängige) zurückzuführen. Dagegen lassen sich alle vier gewählten Unabhängigen auch der Hamas zuordnen (auch der Kandidat der christlichen Minderheit). Dies erklärt auch die verkürzte Listen der Hamas („Wechsel und Reform“) in Tulkarem und Gaza. Damit könnte man der „Wechsel und Reform“-Liste 28.792 (3,2 %) weitere normierte Stimmen und vier Sitze zuordnen.


von Martin Fehndrich und Wilko Zicht (27.01.2006, letzte Aktualisierung: 12.02.2006)