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24.10.2003

Wahlprüfungsausschuß lehnt Einsprüche ohne mündliche Verhandlung ab

Auf Kritik der CDU/CSU-Fraktion ist die Weigerung der rot-grünen Mehrheit im Wahlprüfungsausschuß des Bundestags gestoßen, Einsprüche gegen die Bundestagswahl 2002 in einer öffentlichen mündlichen Verhandlung zu erörtern. Konkret geht es unter anderem um Einsprüche gegen die Berücksichtigung der Zweitstimmen von Wählern, die mit ihrer Erststimme die PDS-Abgeordneten Pau und Lötzsch gewählt haben. Siehe hierzu die Meldungen vom 9.10.2002 und 12.10.2002 sowie in unserem Forum die Diskussionen "Verfallende Zweitstimmen", "Direktmandate der PDS", "Rechtsfrage" und "Direktwahlerfolg ohne Parteiliste".

Der Wahlprüfungsausschuß hat mehrheitlich beschlossen, diese Einsprüche als "offensichtlich unbegründet" zurückzuweisen. Nur in einem solchen Fall erlaubt das Wahlprüfungsgesetz, von einer mündlichen Verhandlung abzusehen. Nach Ansicht des stellvertretenden Vorsitzenden des Wahlprüfungsausschusses, Thomas Strobl (CDU), und des Justitiars der Unionsfraktion, Hans-Peter Friedrich (CSU), könne von einer "offensichtlichen Unbegründetheit" jedoch keine Rede sein. Die beiden Abgeordneten verweisen dabei auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (siehe hierzu die o.a. Meldungen) sowie auf Veröffentlichungen in juristischen Fachzeitschriften, die das Vorbringen der Einspruchsführer stützen.

Strobl sieht das Wahlprüfungsverfahren durch das Verhalten der rot-grünen Mehrheit in seiner Glaubwürdigkeit entwertet und beschädigt.

Friedrich kritisierte darüber hinaus, daß auch im Falle von Wahleinsprüchen, die sich auf die Werbekampagne der Bundesregierung zum Zuwanderungsgesetz beziehen, diese als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen worden seien. Nur einen Monat vor der Bundestagswahl hatte die Bundesregierung mit einer Zeitungsbeilage bundesweit für das Zuwanderungsgesetz geworben, das aufgrund eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts nicht in Kraft getreten ist. Der Steuerzahler sei hierdurch mit Kosten in Höhe von 2,85 Millionen Euro belastet worden.

Das Bundesverfassungsgericht hatte in einem Grundsatzurteil 1977 entschieden: "Aus der Verpflichtung der Bundesregierung, sich jeder parteiergreifenden Einwirkung auf die Wahl zu enthalten, folgt für die Vorwahlzeit das Gebot äußerster Zurückhaltung und das Verbot jeglicher mit Haushaltsmitteln betriebener Öffentlichkeitsarbeit in Form von sogenannten Arbeitsberichten, Leistungsberichten und Erfolgsberichten. [...] Werden diese verfassungsrechtlichen Gebote nicht beachtet und läßt sich infolgedessen bei gravierenden Verstößen nicht mehr ausschließen, daß dadurch die Mandatsverteilung beeinflußt worden ist, so kann das im Wahlprüfungsverfahren nicht ohne Konsequenzen bleiben und die Gültigkeit der Wahl gefährden." In einem jüngeren Urteil aus dem Jahre 2001 hat das Bundesverfassungsgericht dies dahingehend konkretisiert, daß ein derartiger Wahlfehler dann vorliege, "wenn staatliche Stellen im Vorfeld einer Wahl in mehr als nur unerheblichem Maße parteiergreifend auf die Bildung des Wählerwillens eingewirkt haben [...], ohne daß eine hinreichende Möglichkeit der Abwehr, z.B. mit Hilfe der Gerichte oder der Polizei, oder des Ausgleichs, etwa mit Mitteln des Wahlwettbewerbs, bestanden hätte."


Kommentar: Das Wahlprüfungsverfahren beim Bundestag ist seit langem eine rechtsstaatlich höchst bedenkliche Farce und wurde von Staatsrechtlern bereits zu Recht als "Wahlprüfungsverhinderungsverfahren" bezeichnet. Stets viele Monate braucht der Wahlprüfungsausschuß, um dann doch festzustellen, daß alle Einsprüche "offensichtlich unbegründet" sind. Wenn in dem Wahleinspruch die Verfassungsmäßigkeit des Wahlgesetzes bestritten wird, erklärt sich der Bundestag sogar für in der Sache unzuständig - braucht aber hierzu trotzdem fast immer über ein Jahr. In dieser Zeit hätte sich längst das Bundesverfassungsgericht mit der Sache befassen können.

Der Bundestag täte gut daran, die Wahlprüfung künftig nach dem Vorbild Hessens und Bremens in erster Instanz einem Wahlprüfungsgericht zu übertragen, dem auch Richter angehören, die für ein rechtsstaatlich einwandfreies Verfahren sorgen. Alternativ sollte das Wahlprüfungsgesetz dem Parlament - wie in Brandenburg - enge zeitliche Fristen setzen, innerhalb derer über einen Einspruch entschieden werden muß. Im Prinzip spräche aber auch einiges dafür, mit der Wahlprüfung schlicht einen Senat des Bundesverwaltungsgerichts zu betrauen.

Die Verfahrensweise, die die Abgeordneten von CDU und CSU nun kritisieren, wurde auch schon zu deren Regierungszeiten praktiziert. Insofern ist zu befürchten, daß sich daran auch in Zukunft nichts ändern wird.

Was die Nichtberücksichtigung der PDS-Zweitstimmen angeht, hatte der Autor dieser Zeilen übrigens bereits im Jahre 1997 den damals für Wahlrechtsangelegenheiten zuständigen Unionsabgeordneten Andreas Schmidt schriftlich auf diese Problematik hingewiesen. Das Schreiben enthielt Auszüge aus dem Bundesverfassungsgerichtsbeschluß von 1988, auf den sich die Union nun beruft, sowie die Bitte um Klarstellung des Gesetzeswortlauts, da angesichts der Situation der PDS  eine solche Konstellation bei den nächsten Wahlen durchaus realistisch sei. Reaktion: keine.


von Wilko Zicht